Von den Montagsmahnwachen führt ein direkter Weg zur Wagenknecht-Partei

Nach der Farce die Tragödie

Als vor zehn Jahren die sogenannte Friedensbewegung 2.0 aufkam und eine skurrile Mischung aus Reichsbürgern, Verschwörungsgläubigen, Esoterikern und russlandfreundlichen Globalisierungskritikern vereinte, ahnte kaum jemand, dass daraus eine politisch relevante Kraft ent­­stehen könnte. Im Bündnis Sahra Wagenknecht hat dieses Milieu nun seinen parteipolitischen Ausdruck gefunden.

Im Schatten medialer Großthemen und des tagespolitischen Dauerrauschens drumherum gibt es zuweilen folgenreiche Ereignisse, deren Bedeutung sich erst Jahre später zu zeigen beginnt. Ein Beispiel dafür ist die »Friedensbewegung 2.0«, die vor gerade mal zehn Jahren ins Leben gerufen wurde und damals noch vielen als bloße Skurrilität im Kontext des ersten Angriffs Russlands auf die Ukraine erschien.

Mit ihr begann nicht nur die Renaissance des antisemitisch geprägten Schlagworts »Lügenpresse« und der bald schon endemisch grassierenden Losung »Wir sind das Volk«. Diese »Friedensbewegung« stand zudem exem­plarisch für jene offene Querfrontstrategie, die mittlerweile grundlegend für verschiedenste politische Bewegungen ist. Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat dieses Milieu sogar eine Partei hervorgebracht, deren bundesweiter Beliebtheitswert deutlich über dem von Linkspartei oder FDP liegt.

Lars Mährholz gelang es, ein gemeinsames Podium für skurrile linke Sektierer, explizit Rechts­extreme und Verschwörungs­gläu­bige aller Couleur außerhalb des Internets zu schaffen.

Ihren Anfang nahm die »Friedens­bewegung 2.0« im Jahr 2014 damit, dass ein der breiteren Öffentlichkeit bis dahin völlig unbekannter Aktivist namens Lars Mährholz eine fast vergessene Tradition wiederbelebte: die »Montagsmahnwachen«. Deren Ursprung waren regelmäßige Demonstrationen gegen die Hartz-Gesetze der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2004 gewesen, die in Anlehnung an die historischen Massenproteste in der Schlussphase der DDR immer montags stattfanden. Die Teilnehmerzahl aber ging bald stark zurück, und so beschlossen die Übriggebliebenen, das Herumlatschen sein zu lassen und sich lieber zu allwöchentlichen Mahnwachen zu versammeln.

Da standen dann einige Unentwegte, wetterten weiterhin gegen Neoliberalismus und Hartz IV, und kaum einem der blicklos vorbeieilenden Passanten dürfte aufgefallen sein, wie sich mit den Jahren die Ausrichtung ihres Protests änderte. Auf Schildern und Transparenten ging es bald häufiger um die antisemitische Dichotomie zwischen »schaffendem« und »raffendem« Kapital, die US-amerikanische Federal Reserve Bank als Zentralorgan einer geheimen Weltregierung oder die globale Vernetzung der jüdischen Bankerfamilie Rothschild. Gut, mochte man denken, ist ja nur ein lächerliches Häuflein, jede Gesellschaft hat halt ihre Abgedrehten. Lars Mährholz hingegen erkannte genau in diesen Themen den Nährboden einer neuen Bewegung. Zu Recht, wie sich bald zeigen sollte.

Reichsbürger, Flacherdler und der Glaube an kinderbluttrinkende Echsenmenschen

Karl Marx zufolge ereignen sich alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse zweimal, »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«. Zuweilen aber beliebt es dem Weltgeist offenbar, die Farce der Tragödie wie eine Ouvertüre vorauszuschicken. So geschehen, als Mährholz die »Montagsmahnwachen für den Frieden« ins Leben rief, aus ­denen im »Friedenswinter 2014/15« eine neue Bewegung erwachsen sollte. Von der Anzahl der Beteiligten her wirkten deren Versammlungen anfangs zwar nicht unbedingt beeindruckend, doch die Zusammensetzung der Teilnehmer ließ die Presse staunen. Denn Mährholz war es gelungen, ein gemeinsames Podium für skurrile linke Sektierer, explizit Rechtsextreme und Verschwörungsgläubige aller Couleur außerhalb des Internets zu schaffen.

Große Teile der sich eher analog informierenden Öffentlichkeit (ja, das gab es vor zehn Jahren noch) wurden so zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert, dass es gar nicht so wenige »Reichsbürger« gibt, die das deutsche Kaiserreich wiedererrichten wollen, Leute, die die Kugelform der Erde anzweifeln, oder solche, die glauben, dass die Welt von kinderbluttrinkenden Echsenmenschen regiert wird. Kein Wunder, dass viele zunächst eher belustigt auf das reagierten, was Mährholz und seine Mitstreiter, zu denen von Anfang auch der rechtsextreme Compact-Verleger Jürgen Elsässer gehörte, da aus den bizarrsten Tiefen des Internets in die analoge Welt gebracht hatten.

Klar, die Reden der verschiedenen Teilnehmer und Organisatoren folgten offensichtlich russischer Propaganda und das friedliche Miteinander von Linkspartei-Anhängern und NPD-Kadern mochte irritieren, aber sonderlich gefährlich schien das alles nicht. Wohl kaum jemand hätte damals erwartet, dass genau diese Melange aus Rationalitätsfeindlichkeit, Kreml-Affi­nität und Verschwörungsglauben nur sechs Jahre später, während der Covid-19-Pandemie, Massen von »Querdenkern« auf die Straße bringen sollte, um sich schließlich 2022, als Putins Armeen auch die restliche Ukraine überfielen, tatsächlich als »neue Friedensbewegung« zu konstituieren. Was mit der pazifistischen Apologie der russischen Krim-Annexion zehn Jahre zuvor begonnen hatte, war ein Massenphänomen geworden.

Wahnhafte Verschwörungserzählungen und gezielte Desinformation

Der von Mährholz geprägte Begriff »Friedensbewegung 2.0« allerdings ist als Selbstbezeichnung selten geworden. Diese Formulierung verwies auf jene 2014 noch relativ neue Social-Media-Informationsinfrastruktur, damals noch »Web 2.0« genannt, die Mährholz’ Häuflein zuverlässig mit »alternativen Fakten« munitionierte. Leicht zu bedienende Plattformen wie Facebook (2004), Youtube (2005) oder Twitter (2006) und Messenger-Dienste wie Whatsapp (2009) oder Telegram (2013) hatten in kürzester Zeit auch weniger neuerungsfreudige Internet­nutzer in die Lage versetzt, Nachrichten nicht mehr nur zu konsumieren, sondern auch selbst zu produzieren und mit großer Reichweite zu verbreiten.

Das Ergebnis: ein immer undurchsichtigeres Informationsnetzwerk, in dem wahnhafte Verschwörungserzählungen oder gezielte Desinformation schon deswegen größere Aufmerksamkeit generieren als trockene, auf Fakten beruhende Berichte, weil sie schlicht spannender sind. Um aus solchen medialen Versatzstücken eine reale Bewegung zu konstruieren, brauchte es nur noch einen möglichst diffusen global agierenden Gegner, den sich jeder ­entsprechend der eigenen Weltsicht zurechtlegen konnte. Genau dieses integrativ-nebulöse Verschwörungsraunen beherrschten die Redner der Mahn­wachen perfekt.

Der seinerzeit noch gefeierte Popstar und Qanon-Anhänger Xavier Naidoo brachte die in den USA beliebte Vorstellung von kinderblutsaufenden Eliten, die die Weltgeschicke steuern, mit dem Reichsbürgerphantasma ­einer »BRD GmbH« zusammen. Gleichzeitig sorgten Leute wie der wegen anti­semitischer Äußerungen vom RBB geschasste Moderator Ken Jebsen dafür, dass ja nicht vergessen wird, wer wirklich hinter all den geheimen Machenschaften steckt und immer schon stand – der Jude nämlich.

Altlinke Barden gemeinsam mit NPD-Kadern und Reichsbürgern

Und weil diese Urverschwörungstheorie bis heute bei Linken wie Rechten gleichermaßen verfängt, sahen auch prominente altlinke Barden wie Reinhard Mey oder Konstantin Wecker kein Problem darin, sich im Dezember 2014 gemeinsam mit NPD-Kadern und Reichsbürgern an einer als Großveranstaltung geplanten »Friedenswinter«-Demonstration zum Amtssitz des Bundespräsidenten zu ­beteiligen. Einzig die als Hauptrednerin angekündigte Sahra Wagenknecht reagierte seinerzeit noch auf Kritik aus ihrer damaligen Partei »Die Linke« und zog ihre Teilnahme zurück.

Mit dieser »Großdemonstration«, zu der dann doch nur rund 4.000 Teilnehmer kamen, endete die Mahnwachen-Farce. Das im Herbst 2014 ausgehandelte und Anfang 2015 unterzeichnete Minsk-II-Abkommen fror den Krieg vorerst zu Putins Gunsten ein. Die Narren hatten ihre Schuldigkeit getan. Zudem war mit den völkisch-rassistischen Dresdner Pegida-Märschen bereits eine deutlich größere Bühne für Verschwörungsgläubige entstanden, auf der man ebenfalls auf die »Lügenpresse« schimpfte und behauptete, »das Volk« zu sein.

Die weiße Friedenstaube prangt bis heute auf den Wahlplakaten der AfD.

In den verschiedenen regionalen Ablegern dieser Bewegung fanden dann auch viele Mahnwachenteilnehmer eine neue politische Heimat, selbst solche, die weiter dem Irrglauben anhingen, links zu sein. Als schließlich auch die Begeisterung für Pegida abflaute, bot sich die AfD mit ersten größeren Wahlerfolgen ab dem Jahr 2014 als Organisationsstruktur für die weitere politische Betätigung an. Die weiße Friedenstaube prangt bis heute auf den Wahlplakaten der Partei.

Lars Mährholz ist zumindest diesen Weg nicht mehr mitgegangen. Er betreibt heute ein offenbar nicht sehr prominentes Blog, in dem er weiterhin putinistische Propaganda zum Krieg in der Ukraine verbreitet und vor Impfungen gegen Covid-19 warnt. Ken Jebsen geriert sich inzwischen unter seinem bürgerlichen Namen Kayvan Soufi-Siavash als herumtingelnder Philosoph. Und der einst medial so dauerpräsente Xavier Naidoo brachte es zuletzt nur noch mit einer halbgaren Entschuldigung für nicht konkret benannte »Irrwege« und einem Gastauftritt bei seinem B-Promi-Buddy Oliver Pocher in die Schlagzeilen.

Persönlich profitiert vom gemeinsamen Engagement hat nur Jürgen Elsässer, dessen Compact-Magazin heute in vielen ostdeutschen Kiosken und Tankstellen direkt an der Kasse liegt, wie einstmals Spiegel oder Focus. Und natürlich die damals noch zögernde Sahra Wagenknecht, deren neue Partei die Mahnwachen-Botschaft fortschreibt, der zufolge das gängige Rechts-links-Schema nur ein Herrschaftsinstrument des Establishments zur Spaltung des Volkes sei, das von diesem überwunden werden müsse – für den Frieden, versteht sich. Wer angesichts der »Mahnwachen für den Frieden« vor zehn Jahren eine solche Entwicklung prognostiziert hätte, wäre wohl ausgelacht worden.