Die Behauptung, Protest gegen Israel werde in Deutschland unterdrückt, stimmt nicht

Das Gebrüll der zum Schweigen Gebrachten

Antiisraelischer Protest werde in Deutschland »gecancelt«, heißt es seit Wochen immer wieder. Mit der Realität hat das wenig zu tun.

Candice Breitz, Dozentin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, wollte eines ganz deutlich machen: Sie ist ein Opfer. Als »Linke«, »Jüdin« und »Südafrikanerin«, die in Südafrika »unter Apartheid« gelebt habe und in Deutschland »auch nach 21 Jahren noch immer als Ausländerin betrachtet« werde, lebe sie nun erneut in einem »autoritärem Regime«.

Bei den etwas über 1.000 Teilnehmern der Kundgebung unter dem Motto »We Still Need to Talk« am Freitagabend voriger Woche Unter den Linden in Berlin kam das gut an. Als Breitz auch noch erzählte, dass sie »als Jüdin« schon öfters gefragt worden sei, warum sie sich nicht von der Hamas distanziere, und dass das »widerlich« sei, gibt es im Publikum kein Halten mehr: »Shame on Germany, shame on Germany, shame on Germany!« brüllt die Menge, die den Eindruck machte, vor allem aus Akademikern, Künstlern und Expats zu bestehen. Auf Schildern sieht man Forderungen wie »Ceasefire now« und Bekundungen wie »Not in our name«.

»We Still Need to Talk« hatte der Titel einer geplanten Konferenz der Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) gelautet. Die Kurator:innen waren Candice Breitz und der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg, der durch das Buch »Multidirektionale Erinnerung« bekannt geworden war.

Als Reaktion auf die »fürchterlichen Ereignisse des 7. Oktobers« sagte die BPB das für den 8. bis 10. Dezember geplante Symposium ab. Dies geschah auch aufgrund der fehlenden Distanzierung einiger Teilnehmer von der Hamas, so die BPB. Gemeint war unter anderem der Kurator Edwin Nasr, der am 8. Oktober auf Instagram eine Bildcollage teilte, auf der fliehende Partybesucher des Wüsten-Raves »Supernova« zu sehen waren, die sich vor der Hamas zu retten versuchten. Darüber prangte der Schriftzug »Poetic Justice«, ausgleichende Gerechtigkeit.

Seit mehreren Wochen finden in Berlin nun mehrmals wöchentlich zum Teil sehr große antiisraelische Demonstrationen statt.

Ursprünglich sei nur eine Verschiebung der Konferenz geplant gewesen, sagte die BPB auf Anfrage der Jungle World. Doch das sei verworfen worden, nachdem Candice Breitz die Geschehnisse öffentlich als »Cancelling« gebrandmarkt hatte. Auf der Bühne am Freitag sprach Breitz von »Stummschalten« und einem »autoritärem Regime«, das in Deutschland herrsche.

Die Demonstration, zu der auch die »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« aufgerufen hatte, reiht sich ein in eine Serie von Veranstaltungen, die gegenwärtig das »Silencing« und »Cancelling« sogenannter propalästinensischer Stimmen zum Thema machen. Dieser wiederkehrende Vorwurf stützt sich unter anderem darauf, dass seit dem 7. Oktober immer wieder antiisraelische Demonstrationen verboten wurden.

Auf Anfrage der Jungle World teilte die Versammlungsbehörde in Berlin mit, dass sie zwischen dem 7. Oktober und dem 2. November 20 von 45 angemeldeten »propalästinensischen« Versammlungen verboten habe. Die Versammlungsbehörde Hamburg erließ am 15. Oktober sogar eine Allgemeinverfügung für »nicht angemeldete und nicht behördlich bestätigte Versammlungen«. Die Verfügung bezieht sich auf Spontandemonstrationen, angemeldete sind von ihr ausgenommen. Allerdings wurden auch von den angemeldeten »propalästinensischen« Demonstrationen, bis auf eine, alle verboten.

Wichtig ist: Die Verbote erfolgen immer aufgrund von Einzelfallprüfungen, nie pauschal. In Berlin verbot die Versammlungsbehörde zum Beispiel die Demonstration eines Anmelders, bei dessen Veranstaltungen in der Vergangenheit Parolen wie »Bombardiert Tel Aviv«, »Juden gleich Kindermörder« und »Tod den Juden« gerufen worden waren. Bei vergangenen Veranstaltungen sei der Anmelder nicht in der Lage gewesen wäre, Auflagen (wie die Unterbindung von Gewaltaufrufen) »auch effektiv durchzusetzen«, hieß es zur Begründung.

Andere Begründungen für Verbote waren oft weniger konkret, sie basierten auf der Analyse von Stimmungslagen, Verweisen auf ähnliche Veranstaltungen oder der Befürchtung, dass Parolen wie »From the river to the sea« oder »Allahu akbar« gerufen werden. Das geht aus verschiedenen verwaltungsgerichtlichen Beschlüssen hervor. Gegen Verbote, die sich ausschließlich auf solche Gefahrenprognosen stützten, wurde unter anderem in Frankfurt, München und Mannheim erfolgreich geklagt. In Hamburg dagegen wurde auch ein solches Verbot vom Gericht aufrechterhalten.

Clemens Arzt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, sagte der Jungle World, er sehe durchaus die Gefahr, »dass aufgrund der Staatsräson die Trennlinie zwischen dem, was politisch gewollt ist, und dem, was juristisch möglich ist, verschwimmt«. In Deutschland können Demonstrationen nur verboten werden, wenn die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährdet ist, und auch das nur als letztes Mittel, wenn die Erteilung von Auflagen nicht ausreicht. Dieses Kriterium werde letztlich nur durch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Gewalttaten erfüllt, betonte Clemens Arzt Anfang Oktober in einem Interview mit der Welt. Parolen allein reichten ­dafür nicht aus, und seien sie noch so schlimm. Erst wenn man die strafrechtlichen »Grenzen der Meinungsfreiheit überschreitet, etwa den Holocaust leugnet oder zu Straftaten aufruft«, könne die Polizei eingreifen.

Strittig ist, ob die Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« zu Straftaten aufruft. Rein logisch betrachtet wird damit das Ende des Staates Israel gefordert.

Strittig ist, ob die Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« diesen Tatbestand erfüllt. Rein logisch betrachtet wird damit das Ende des Staates Israel gefordert. Um eine gewisse Ambivalenz zu bewahren, wird bisweilen behauptet, es sei eigentlich nur die Forderung nach einer Einstaatenlösung mit gleichen Bürgerrechten für alle gemeint. Die Parole wird freilich schon viel länger und bis heute von antisemitischen Israelfeinden verwendet, die damit die Auslöschung Israels meinen – so etwa die Hamas in ihrer jüngsten Charta von 2017.

Bislang war die Parole nicht als volksverhetzend eingestuft worden; den Tatbestand der »Billigung einer Straftat« erfüllte sie nur, wenn damit zum Beispiel konkret der Hamas-Überfall bejubelt wird. Am 9. November hat das Bundesinnenministerium die Parole jedoch in seiner Mitteilung zum Betätigungsverbot der Hamas als ein Kennzeichen der Terrororganisation eingestuft. Damit stellt ihre Verwendung von nun an offenbar eine Straftat dar, denn nach Paragraph 86a des Strafgesetzbuches gelte sie nun als öffentliche Propaganda für eine verbotene Organisation, argumentiert der Münchner Oberstaatsanwalt Andreas Franck.

Linus Kebba Pook vom Verein Democ, der »demokratiefeindliche Bewegungen« beobachtet und analysiert, sagte der Jungle World, dass es sich die Berliner Polizei teils zu einfach mache, wenn sie »Demons­trationen als Ganzes« verbiete, »weil man sich dadurch aus der Verantwortung zieht, einzelne Straftaten wie Volksverhetzung und strafbare antisemitische Äußerungen individuell zu verfolgen.« Den Weg, »über vergangene Erfahrungen mit Anmeldern Veranstaltungen zu verbieten«, wie in Berlin eben auch geschehen, hält er dagegen für »nachvollziehbar«.

Zum Mythos, dass es keine Einzelfallprüfungen, sondern pauschale Demonstrationsverbote gäbe, hat wohl auch die verkürzte mediale Berichterstattung beigetragen. So sprach der Verfassungsrechtler Michael Wrase im RBB von einem »pauschalen Verbot«. In der Taz hieß es: »In vielen Städten wie Berlin, Frankfurt am Main und Hamburg wurden propalästinensische Demonstrationen recht pauschal verboten.«

Eine solche Berichterstattung dürfte jene Israelfeinde, die sich pauschal »gecancelt« fühlen, in ihrer Selbstdarstellung bestätigen. Dabei ist bei den Verboten auch zu berücksichtigen, wann sie erfolgten. 14 der 20 Versammlungsverbote in Berlin wurden entweder für Veranstaltungen in der Woche nach dem 7. Oktober oder für Veranstaltungen unmittelbar nach der Explosion vor dem al-Ahli-Arab-Krankenhaus in Gaza-Stadt am 17. Oktober ausgesprochen.

Unmittelbar nach dem 7. Oktober feierte Samidoun, das mittlerweile verbotene »Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene«, die Terrorattacke der Hamas auf der Berliner Sonnenallee, indem sie Baklava an Passanten verteilte. Die Hamas hatte am 17. Oktober zu weltweiten Aktionen aufgerufen, in jener Nacht bewarfen Unbekannte eine Synagoge in Berlin mit Molotow-Cocktails. Dies waren die konkreten Hintergründe der strikten Verbotspraxis der Berliner Versammlungsbehörde.

Das symbolische »Schweigen« diente nicht dem Gedenken an die Opfer in Gaza, wie man hätte annehmen können, sondern sollte die eigene angebliche Unterdrückung symbolisieren.

Je ferner der 7. und 17. Oktober rückten, desto seltener wurden Verbote. Seit mehreren Wochen finden in Berlin nun mehrmals wöchentlich zum Teil sehr große antiisraelische Demonstrationen statt, darunter sogar solche von islamistischen Gruppen wie der Generation Islam. Laut dem Bundesinnenministerium gab es in Deutschland im ersten Monat nach dem Hamas-Überfall 450 »propalästinensische Versammlungen«.

Eine dieser Kundgebungen lief vorvergangenen Samstag vom Alexanderplatz aus mit etwa 15.000 Menschen unter dem Motto »Free Palestine Will Not Be Cancelled« durch die Hauptstadt. Mit dabei waren neben der »Jüdischen Stimme« auch Gruppen wie »Palästina spricht« – jene Gruppe, die am Tag nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober das Foto eines Paragliders auf ihrem Instagram-Account teilte, versehen mit dem Spruch »A lesson in liberation from Gaza«. Das Foto ist immer noch auf dem Instagram-Account zu sehen. Bei der Demonstration war »Palästina spricht« nicht bloß im Bündnis mit dabei, sondern sogar im Organisatorenteam.

Zu schlechter Letzt riefen am vorvergangenen Samstag Leute wie der Influencer Serhat Sisik (auf Tiktok bekannt unter dem Namen »Aggressionsprobleme«) und die Kleinstpartei Team Todenhöfer zu einem »Schweigemarsch« in Düsseldorf auf, an dem sich 17.000 Menschen beteiligten. Sisik bat die Teilnehmer auf Tiktok vorab, sich auf der Demo die Münder mit Panzer-Tape zuzukleben – »als Zeichen dafür, dass wir nicht reden dürfen«. Das symbolische »Schweigen« diente also nicht dem Gedenken an die Opfer in Gaza, wie man hätte annehmen können, sondern sollte die eigene angebliche Unterdrückung symbolisieren. Es ist eben schwierig, sprechend zu erklären, dass man nicht sprechen kann.