Antisemitismus in Frankreich – die Linke ist Teil des Problems

Die französischen Juden fühlen sich im Stich gelassen

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel nahmen antisemitische Vorfälle in Frankreich dramatisch zu. An einer Großdemonstration gegen Antisemitismus am Sonntag nahm der Rassemblement national teil, die linke Partei La France insoumise hingegen nicht.

Paris. Der Verrat der französischen Linken an den hier lebenden Juden datiert sicher nicht erst vom Wochenende des 7. und 8. Oktober, als sich die linke Szene förmlich überschlug, die Mär von der mutigen résistance der palästinensischen Bevölkerung gegen ein koloniales Regime zu kolportieren, noch bevor die Leichen aller Opfer, darunter mindestens 40 Franzosen, gezählt, geschweige denn erkaltet waren. Um nur eines unter Dutzenden Beispielen zu nennen: Le Poing Levé (Die erhobene Faust), eine umtriebige trotzkistische Studentenorganisation mit Niederlassungen im ganzen Land, jubelte noch am Tag des Massakers auf dem Microblogging-Dienst X über die »Überraschungsoffensive gegen den Kolonialstaat Israel«, die beweise, dass die Palästinenser nach »Jahrzehnten der Erniedrigung (…) ihren Boden und ihre Würde zurückerlangen«.

Diese Gleichgültigkeit für die jüdischen Opfer hat eine Vorgeschichte, die schon Sartre – in seinem erstmals 1946 veröffentlichten Essay »Überlegungen zur Judenfrage«, das nicht ganz überraschenderweise von einem guten Teil der heutigen französischen Intelligenz als unphilosophisches Jugendwerk belächelt wird – am idealisierten Heldenepos der Résistance kritisierte: In dem werde die Erinnerung an das Schicksal der deportierten Juden verdrängt. In der jüngeren Vergangenheit schließt diese Haltung auch das Schulterzucken ein, mit dem die Opfer der Geiselnahme im koscheren Supermarkt Hyper Cacher im Januar 2015 quittiert wurden.

Wie definitiv der Bruch aber inzwischen geworden zu sein scheint, bringt in erschreckender Klarheit der »Brief eines linken französischen Juden an alle, die es hören wollen« von Volia Vizeltzer auf den Punkt. Erschreckend vor allem deshalb, weil der Autor so gut wie jeden Glaubenssatz der »israelkritischen« Position zu teilen bereit ist, bis auf den einen: Er weigert sich, sich zum Ziel der Vernichtung Israels, sei es offen oder verklausuliert ausgesprochen, zu bekennen.

»Seit dem 7. Oktober habe ich das Gefühl, dass ich keine Verbündeten mehr habe.« Volia Vizeltzer: »Brief eines linken französischen Juden«

Das aber genügte, um von den ehemaligen Genossen zum Feind erklärt zu werden: »Seit dem 7. Oktober habe ich das Gefühl, dass ich keine Verbündeten mehr habe.« Die Linke, die sich davon überzeugt habe, »dass die bloße Vorstellung von Antisemitismus in der Linken und in der Gesellschaft im Allgemeinen eine hinterhältige Strategie ist, die dazu dient, ihre Seite mundtot zu machen«, habe der Übernahme des Themas Antisemitismus durch die Rechte nichts mehr entgegenzusetzen.

»Instrumentalisiert« von der Rechten, »im Stich gelassen« von der Linken, diese Formulierungen treffen die isolierte Lage der französischen Juden im Jahr 2023 auf den Punkt. Die Einzigen, die neben Teilen des französischen Establishments nach dem Massaker fest an der Seite der französischen Juden zu stehen schienen, waren royalistische Anhänger der iranischen Opposition, die man auf Aufnahmen vom 13. Oktober neben der israelischen Fahne demonstrieren und »solidarité« mit den israelischen Opfern des iranischen Einflusses im Nahen Osten fordern hörte.

Selbst im bürgerlichen 5. Pariser Arrondissement blieben Vermisstenanzeigen für die Entführungsopfer nur wenige Tage hängen. Dass sie hier wie weltweit abgerissen werden, muss als Beweis für den obsessiven Drang des antisemitischen Subjekts auf unbedingte Auslöschung noch der Erinnerung an jüdisches Leben angesehen werden.

Und es blieb denn auch nicht bei den Plakaten. Erst tauchte am 8. Oktober ein meterlanger Schriftzug in Südfrankreich auf, der das Töten von Juden zur »Pflicht« erklärte, dann führte wenige Tage später das Verbot einer Demons­tration an der Pariser Place de la République zu Auseinandersetzungen von Israelfeinden mit der Polizei, noch bevor Staatspräsident Macron am Abend in einer Fernsehansprache die nationale Einheit beschwören konnte. Seine Rede ging ins Leere, denn schon am nächsten Morgen kam es, fast auf den Tag genau drei Jahre nach der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty durch einen Islamisten zu einer Nachahmungstat an einem Gymnasium im nordfranzösischen Arras: Der Lehrer Dominique Bernard wurde von einem ehemaligen Schüler mit Messerstichen ermordet. Den gesamten Oktober über fanden israelfeindliche Großdemonstrationen statt. Am 30. Oktober wurden Wohnungen jüdischer Bürger im 14. Pariser Arrondissement mit dem Davidstern markiert. Die Tat fand Nachahmer in weiteren Bezirken und schließlich in Gemeinden überall in Frankreich.

Eine Anwohnerin und Überlebende der Shoah gab dem französischen Fernsehen ein Interview und brach traumatisiert in Tränen aus, in den sozialen Medien wurde sie mit beißendem Spott überzogen. Auf denselben Plattformen kursierte ein Video aus der Pariser Metro, in dem eine Gruppe Männer frohlockt, »Juden und Großmütter« zu »ficken«, »Nazis« zu sein und »stolz«.

Spätestens als am 4. November eine jüdische Frau in Lyon an der Türschwelle zu ihrer Wohnung niedergestochen wurde, konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass die Juden Frankreichs von nun an noch mehr als in den vergangenen Jahren um ihr Leben fürchten müssen.

Die meisten Vermisstenanzeigen für die Entführungsopfer waren schnell abgerissen

Obsessiver Drang des antisemitischen Subjekts auf unbedingte Auslöschung noch der Erinnerung an jüdisches Leben: Die meisten Vermisstenanzeigen für die Entführungsopfer waren schnell abgerissen

Bild:
Philipp Thielen

Die Vertreter der Bourgeoisie betreiben derweil Kosmetik: Neben den Demonstrationsverboten durch den Innenminister Gérald Darmanin im Oktober und der verzögerten Bestrahlung des Eiffelturms in den Farben des israelischen Staats verbot die Sorbonne einen Infotisch der Palästina-Solidarität am Campus Tolbiac, der als in linker Hand gilt.

Nach den Protesten gegen die Rentengesetzgebung und den Aufständen nach der Tötung des 17jährigen Nahel Merzouk durch einen Polizisten erlebt das Land derzeit die dritte Welle von Massendemonstrationen innerhalb eines Jahres und man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass es den politisch Verantwortlichen gelegen kommt, ausnahmsweise einmal nicht Ziel der Kritik zu sein. Damit das so bleibt, setzt Macron eine außenpolitische Doktrin der vergangenen Jahre fort, wonach der Einfluss Europas davon abhänge, sich gegen China und Russland auf der einen und die Vereinigten Staaten auf der anderen Seite abzugrenzen.

Im Fall des Terrorangriffs der Hamas lief dies darauf hinaus, diesen pflichtschuldig zu verurteilen, im Inneren zeitweise die Demonstrationsfreiheit einzuschränken sowie verstärkt judenfeindlich auffällig gewordene Straffällige abzuschieben, während Macron bei einer Pressekonferenz in Israel den in seiner Naivität geradezu zynischen Vorschlag vorbrachte, gegen die Hamas solle sich eine internationale Koalition wie gegen den »Islamischen Staat« bilden und anstelle der israelischen Armee die Kampfhandlungen führen; bei den UN stimmte Frankreich zudem dafür, Israel einen Waffenstillstand aufzuzwingen.

Die linke Partei La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI) von Jean-Luc Mélenchon schließt sich dieser Forderung nach einer militärischen Niederlage Israels naturgemäß an und bekundet in einem vor Falschheiten triefenden, jedoch mit Friedenstaube geschmückten Flyer, in dem die Hamas mit keinem Wort erwähnt wird, dass man sich zur »diplomatischen Tradition Frankreichs und den Resolutionen der UN« bekenne.

Eine Anwohnerin und Überlebende der Shoah gab dem französischen Fernsehen ein Interview und brach traumatisiert in Tränen aus, in den sozialen Medien wurde sie mit beißendem Spott überzogen.

Von der Rechten instrumentalisiert, von der Linken verraten. Dieses Spiel wiederholte sich anlässlich der für Sonntag von den Präsidenten beider Parlamentskammern als Schulterschluss aller politischen Parteien ausgerufenen Demonstration gegen die neueste Welle antisemitischer Hetze. Dass der rechtsextreme Rassemblement national (Nationale Versammlung, RN) nicht von der Demonstration ausgeladen wurde, nahm Jean-Luc Mélenchon zum Vorwand, die Teilnahme seiner Partei am marche contre l’antisémitisme zu verweigern, den er als »Stelldichein« der »Freunde der bedingungslosen Unterstützung des Massakers« verhöhnte. Mélenchon liefert sich zudem seit Wochen Scharmützel mit dem Dachverband der jüdischen Gemeinden, dem Conseil représentatif des institutions juives de France (CRIF), dem er vorwarf, »die Solidarität der Franzosen mit dem Friedenswillen« verhindert zu haben, indem er sich nicht stark genug nach rechts abgegrenzt habe.

Für Marine Le Pen, die seit Jahren anstrebt, den einst von solchen Veranstaltungen ausgeschlossenen RN als präsentablen Teil des französischen Parteiensystems zu etablieren, war die Teilnahme ihrer Partei ein politischer Triumph. Staatspräsident Macron begründete derweil sein eigenes Fernbleiben ernsthaft mit staatsmännischem Auftreten und trieb die Farce auf die Spitze, als er am 11. November im britischen Fernsehen die Israelis zum Niederlegen der Waffen aufforderte.

Malgré tout und gegen ihre Feinde: Vive la République! Als sich am Sonntag, dem 12. November, 105.000 Menschen unter gelegentlichen Ausbrüchen der »Marseillaise« und der »Hatikvah« in Paris versammeln, um gegen die antisemitische Gewalt zu protestieren, bleibt trotz des geglückten Kalküls Le Pens und der beschämenden Abwesenheit von linken Organisationen und Israel-Flaggen in nennenswertem Ausmaß indessen eines zu hoffen: dass die Erkenntnis Sartres von 1946, dass der Antisemitismus eben kein allein jüdisches, sondern ein Problem ist, dass das zivile Zusammenleben insgesamt bedroht, schließlich doch noch Früchte tragen könnte in diesem Land, und mit ihr auch der Zusatz, der zugleich Auftrag ist, dass »kein Franzose sicher sein wird, solange ein Jude in Frankreich und in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muss«.