Das neue Medienportal »Nius« behauptet, die Stimme der Mehrheit zu sein

Reichelt revanchiert sich

Der ehemalige »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt hat ein neues Medium gefunden. »Nius« soll »die Stimme der Mehrheit« verkörpern, doch der Meinungskorridor ist minimalistisch.

Man sollte sich nie erleichtert abwenden: Ob Zombies, Monster oder Psychopathen – das Horrorfilmgenre hat uns gelehrt, dass Totgeglaubte gerne noch mal wiederkommen. Neuestes (oder besser niustes) Beispiel dafür ist das Online-Medium Nius mit seinem mutmaßlichen Mastermind Julian Reichelt. Mutmaßlich deshalb, weil der frühere Bild-Chefredakteur, der 2021 nach Vorwürfen sexuellen Machtmissbrauchs geschasst worden war, hier auf den ersten Blick nur durch die Einbindung seines 2022 gegründeten Youtube-Kanals »Achtung, Reichelt!« in Erscheinung tritt. Als Chefredakteur nennt das Impressum Jan David Sutthoff, als weitere Mitglieder der Chefredaktion Willi Haentjes und Sebastian Vorbach. Diese beiden kommen, wie Reichelt, von der Bild-Zeitung.

Die Betreiberfirma hinter Nius ist die Vius SE & Co. KGaA mit ihrer »persönlich haftenden« Gesellschafterin Vius Management SE, Berlin – beide gegründet vom milliardenschweren Medienunternehmer Frank Gotthardt, früherer Landes- und heutiger Ehrenvorsitzender des Lobbyverbands »Wirtschaftsrat der CDU« in Rheinland-Pfalz. Dass die Adresse von Vius nicht nur zufällig identisch mit der von Reichelts Produktionsfirma Rome Medien GmbH ist, zeigt sich auch daran, dass Rome Medien neben Reichelts eigener Sendung auch weitere Videoformate produziert, die sich inzwischen bei Nius finden: »Schuler! Fragen, was ist« mit Ralf Schuler zum Beispiel, dem früheren Leiter der Bild-Parlamentsredaktion, oder »Stimmt! Der Nachrichten-Talk« mit dem bereits erwähnten Sebastian ­Vorbach.

Ein paar abgehalfterte Bild-Redakteure und ein 73 Jahre alter CDU-naher Finanzier – auf den ersten Blick mag das nicht sonderlich bedrohlich klingen. Doch Nius trägt sein Selbstverständnis, »die Stimme der Mehrheit« zu verkörpern, offensiv vor. Man erinnert sich an Alexander Gauland, der im Alter von 72 Jahren 2013 aus der CDU austrat, um sich an der Gründung einer »Partei der kleinen Leute« mit »nationalkonservativer« und »nationalliberaler« Ausrichtung zu beteiligen. Auch die AfD nahm am Anfang kaum jemand ernst. Nun steht sie in bundesweiten Umfragen bei bis zu 22 Prozent und schickt sich an, in mehreren ostdeutschen Bundesländern zur stärksten Partei zu werden.

Die auf »Nius« versammelten Artikel sind meist eher kurz und bieten über die jeweilige reißerische Überschrift hinaus kaum Inhalt.

Zugegeben, der Vergleich hinkt. Von einer vollständigen Abwendung Gotthardts von der CDU ist nichts bekannt, und die Kerninhalte von Nius kann man zwar getrost als rechtspopulistisch bezeichnen, aber ein AfD-Medium ist die Plattform nicht. Ideologisch scheint sie eher der Werteunion nahezustehen, jener »konservativen Basisbewegung in der CDU/CSU« (Eigenwerbung), die durchaus eine inhaltliche Nähe zur AfD aufweist, aber nicht bereit ist, dafür die Union aufzugeben.

Wenn also Nius titelt: »Ohne Merz ist die CDU am Ende«, drückt sich darin weniger Hoffnung als Sorge aus. Mehrheitlich scheint die Redaktion den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz als Hoffnungsträger zu sehen, also als den richtigen Mann, um die alte Partei wieder auf einen stramm rechten Kurs zu bringen. Entsprechend wirft man ihm hier auch nicht seine jüngsten Äußerungen zu kommunaler ­Zusammenarbeit mit der AfD vor, sondern seine schnelle Kehrtwende. »Wenn Merz geht, wird so schnell nichts Konservatives mehr kommen«, kommentiert Anabel Schunke, die auch für andere »nationalkonservative« Medien wie Tichys Einblick und die Schweizer Weltwoche schreibt.

»Überparteilich«, wie es die Bild-Zeitung von jeher zu sein vorgibt, ist das, was ihre ehemaligen Redakteure nun bei Nius machen, mithin ganz und gar nicht, und ihre Themenpalette hat eine klare propagandistische Ausrichtung: Klagen über »Transgender-Ideologie«, kriminelle Migranten, »Impfzwang« und die »wohlbehüteten Weicheier« der jungen Generation, Relativierung des Klimawandels, Wut auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und »die Ampel« mit ihrer »Verbotspolitik«. Lieblingsobjekt des redaktionellen Hasses sind die Grünen, insbesondere Robert Habeck, Annalena Baerbock und Ricarda Lang. Aber auch prominente CDU-Mandatsträger wie der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner kommen schon mal an den Pranger: »Keiner enttäuscht so schnell wie Wegner« hieß es, nachdem dieser sich in der Frage der Zusammenarbeit mit der AfD auf Kommunalebene ex­plizit gegen den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz gestellt hatte.

Dass der geradezu minimalistisch enge Meinungskorridor, den Nius abbildet, tatsächlich »die Stimme der Mehrheit« wiedergibt, darf bezweifelt werden. Selbst rechte Gesinnungen in diesem Land sind deutlich vielfältiger. Mit seiner eher kritischen Haltung zu Donald Trump wird sich Nius unter Verschwörungsfans so wenige Freunde machen wie mit dem klaren Anti-Putin-Kurs unter ostdeutschen AfD-­Anhängern.

Ohnehin ist das Medium zutiefst im alten Westen verwurzelt. Worüber und wie da gehetzt wird, erinnert an Gartenpartys in den Reihenhaussiedlungen des Rhein-Main-Gebiets, wenn der Nachbar mit den drei Autos vor der Tür nach dem fünften Bier »Enteignung!« brüllt, weil man ihm an seine geliebte Gasheizung will. Es sollen keine Debatten geführt, es soll Stimmung gemacht werden. Argumente stören da nur. Entsprechend sind die auf Nius versammelten Artikel meist eher kurz und bieten über die jeweilige reißerische Überschrift hinaus kaum Inhalt. Im Zentrum steht nicht das geschriebene, sondern das gesprochene Wort in verschiedenen Video-Interviewformaten.

Ob es sich dabei um Zwiegespräche handelt, wie bei Reichelt und Schuler, oder um größere Gesprächsrunden, wie bei Vorbach, das Prinzip ist dasselbe: Der jeweilige Gastgeber lädt ausschließlich Gesprächspartner ein, von denen er weiß oder zumindest glaubt, dass diese bei allen wesentlichen Fragen seiner Meinung sind. Dann werden entsprechende Thesen in den Raum gestellt und der jeweilige Gast wird mit einem simplen »oder?« zur Bestätigung aufgefordert. Insbesondere bei Reichelt wird auch gern spöttisch gelacht – über die doofen Grünen, das alberne Klimawandelgedöns und Leute, die Probleme mit ihrem biologischen Geschlecht haben.

Um nicht aus Versehen doch noch in einen nüchternen Diskurs über Zahlen, Daten und Fakten zu geraten, lädt man am liebsten professionelle Meinungshaber ohne Expertenwissen oder ernsthaften politischen Hintergrund ein – den Kabarettisten Dieter Nuhr, die adelige Gloria von Thurn und Taxis oder die antifeministische Autorin Birgit Kelle.

Um nicht aus Versehen doch noch in einen nüchternen Diskurs über Zahlen, Daten und Fakten zu geraten, lädt man am liebsten professionelle Meinungshaber ohne Expertenwissen oder ernsthaften politischen Hintergrund ein – den Kabarettisten Dieter Nuhr, die adelige Gloria von Thurn und Taxis, die 2001 in der ARD-Talkshow »Friedman« behauptet hat, Afrika habe ein Aids-Problem, »weil der Schwarze gern schnackselt«, oder die antifeministische Autorin Birgit Kelle, die für Debatten über Sexismus eine einfache Lösung parat hat: »Dann mach doch die Bluse zu!«

Zuweilen kann das durchaus lustig (im Sinne von selbstentlarvend) sein, zum Beispiel wenn Reichelts Lieblingsgast Gloria von Thurn und Taxis über den fanatischen Antisemiten Richard Wagner sagt: »Es gibt nichts Deutscheres wie Wagner. Wagner ist einfach Deutschtum pur«, aber »das gute, schöne Deutsche«. Und: »Bayreuth hat ­immer ein gemischtes Publikum. Bayreuth hat auch sehr viele Juden.«

Reichelts Freude wächst, wenn es dann anlässlich eines Besuchs der Fürstin in der Umkleide der Rolling Stones plötzlich um Rammstein geht und sie lachend erklärt, auch die Stones seien ja einst »wirklich wilde Jungs« gewesen, und »wer da mitgeht, kann sich nicht beschweren, dass sie angefasst wird«. Zugleich profiliert sich Nius, ganz in der Tradition der Springer-Presse, durchaus mit Kritik an Antisemitismus, die sich freilich hauptsächlich gegen Linke und muslimische Immigranten richtet.

Eine politische Positionierung am äußersten rechten Rand der CDU und eine sich selbst bestätigende Dauerschleife altbackener Ressentiments in viel zu langen Interviews – falls der »wilde Junge« Reichelt und seine Mitstreiter ihrem ehemaligen Arbeitgeber Bild damit Konkurrenz machen wollen, zeigen sie nur, dass sie Boulevardjournalismus nie verstanden ­haben. Um ein breiteres Publikum zu erreichen, müssten sie ihre Indoktri­nation noch mit einem opulenten Strauß »bunter« Themen garnieren: Klatsch und Tratsch, Sport, Sextipps, ­Gefühlsduseligkeiten. Und um aus der Vielzahl rechter Online-Medien herauszustechen, fehlt es ihnen letztlich an Radikalität. Derzeit dient Nius hauptsächlich dazu, Julian Reichelt im Gespräch zu halten. Das immerhin scheint geglückt.