Die gedruckte Bild-Zeitung ist wohl bald Geschichte, aber der Boulevard bleibt

Boulevard der Empörung

Die »Bild«-Zeitung gibt es bald nur noch online. Doch der Boulevardstil ist ohnehin längst im Internet zu Hause und prägt dadurch die meisten Medien.

Endlich ist der Alptraum vorbei. Der Vorstandsvorsitzende der Axel-Springer-Verlagsgruppe, Mathias Döpfner, verkündet, das die Bild-Zeitung den Druck einstellen werde, und überall im Land knallen die Sektkorken. Junge Linksradikale und gesetzte Bildungsbürger fallen sich lachend in die Arme, Veteranen der »Enteignet Springer«-Kam­pagne von 1968 erklimmen die Tische der Pflegestationen wie einst die Bar­rikaden. Das »Organ der Niedertracht« (Max Goldt), das so lange unbesiegbar schien, die schlimmste Dreckschleuder der deutschen Presse ist dahin, eine neue Ära journalistischer Redlichkeit und intellektuellen Feingeistes kann erblühen …

So jedenfalls dürften es sich viele Linke und Kulturfreunde in den vergangenen 55 Jahren erträumt haben. Doch Döpfners Ankündigung im Januar 2023, dass bald keine Print-Ausgaben von Bild und Die Welt mehr erscheinen sollen, war am Ende kaum eine Schlagzeile, geschweige denn Freudenstürme wert. Und das lag nicht nur daran, dass er keinen festen Termin genannt hatte.

Am meisten Aufmerksamkeit erhalten eben provozierende Meinungsartikel, die auf Social-Media-Plattformen geteilt werden und Empörung erzeugen.

Mag die Vorstellung noch so erfreulich sein, in näherer Zukunft nicht mehr an jedem Kiosk von hetzerischen Bild-Schlagzeilen angeschrien zu werden – leider ist es höchst unsicher, ob es dann überhaupt noch Kioske mit Zeitungsständern geben wird. Wenn selbst Deutschlands weiterhin auflagenstärkste Zeitung ihre Zukunft ausschließlich online sieht, verheißt das nichts Gutes für die Liebhaber bedruckten Papiers. Das seit den Anfängen des Internets oft prognostizierte Zeitungssterben vollzieht sich zwar schleichend, allem Anschein nach aber unaufhaltsam.

Zunächst wurden Lokalredaktionen aufgelöst, dann wurde das Lektorat eingespart, und auch Pressefotografen brauchte man immer seltener. Dank moderner Smartphones können ja die Reporter selbst halbwegs passable Schnappschüsse liefern. Die Redakteure ihrerseits haben heutzutage bei vielen Blättern auch gleich noch den Satz der Zeitungsseiten zu erledigen. Macht doch wirklich kaum Arbeit, mit diesen tollen neuen Programmen!

Problematisch ist das alles nicht deswegen, weil ein paar alte weiße Männer, wie der Autor dieses Artikels, bittere Tränen vergießen werden, wenn es eines Tages keine gedruckten Zeitungen mehr gibt. Auch die haben sich schließlich längst an die Bequemlichkeit der Online-Lektüre gewöhnt. Gefährlicher für den Journalismus insgesamt ist vielmehr, dass sich die meisten Blätter in ihrer Online-Strategie von den sozialen Medien vor sich hertreiben lassen.

Letztere sah man anfangs noch als nützliche Verbreiter für eigene redaktionellen Inhalte, in der Hoffnung, damit neue (Online-)Abonnenten zu gewinnen. Doch längst hat sich das Verhältnis verkehrt. Nun werden immer öfter auf Twitter, Facebook, Instagram & Co. neue Themen gesetzt, weil Politiker, Unternehmen und Prominente aller Art – ungeachtet der Tatsache, dass das nicht immer zu ihrem Vorteil ist – gern auf diese Weise direkt, also ohne journalistische Vermittlung, ihre jeweiligen Adressaten ansprechen. Das hat die sozialen Medien zur Hauptquelle für schlagzeilenträchtige Neuigkeiten gemacht, während den Journalisten nur noch die Rolle bleibt, all das täglich für ihre Leser zu filtern.

Inzwischen werden derartige Inhalte nicht nur zitiert, sondern als Direktlink integriert; oftmals finden sich gleich mehrere in einem Artikel. In Kombination mit zahlreichen weiteren Verlinkungen, zwischengeschalteter (Eigen-)Werbung und einer suchmaschinen­optimierten Textstruktur, bei der bedeutungstragende Passagen immer gleich mehrfach vorkommen und alle zwei bis drei Sätze eine Zwischenüberschrift eingebaut werden muss, entsteht so selbst bei bürgerlich-liberalen Blättern etwas, das mit einem klassischen Zeitungsartikel schon formal wenig zu tun hat und sich dem annähert, was man von jeher in der Bild-Redaktion unter Text versteht.

Auch inhaltlich nähern sich die Angebote an. Der Social-Media-Boulevard mit seiner ressentimentgetriebenen Empörung erhält immer mehr Aufmerksamkeit als nüchterne Analysen, weswegen – zumindest online – kaum noch ein Blatt ohne derlei »Content« auskommt, ganz gleich ob es sich als rechts, links oder bürgerlich-liberal versteht. Am effektivsten sind eben provozierende Meinungsartikel, die auf Social-Media-Plattformen geteilt werden und Empörung erzeugen. Längere faktenbasierten Hintergrundartikel werden da bestenfalls noch als eine Art Beiwerk gebraucht, um Kompetenz ­wenigstens anzudeuten.

Döpfners Ankündigung ist also eher ein Grund zur Sorge als zur Freude. Denn wenn man selbst bei Springer das Print-Segment endgültig verloren gibt, dann sind wohl auch die Tage der anderen Blätter gezählt, und noch ­bestehende Reservate für recherche­aufwendige oder inhaltlich komple­xere Texte in den gedruckten Ausgaben sind akut bedroht. Zwar suchen manche Tageszeitungen, wie etwa die Taz oder das ND, bereits ihr journalistisches Heil in neuen wöchentlichen Formaten, aber der Ausgang dieser Experimente ist ungewiss und für viele andere wird es eine solche Perspektive gar nicht geben. Allzu groß dürfte der Markt für weitere Wochenzeitungen nicht sein.

Somit dürfte in Bälde das, was man gemeinhin euphemistisch als Online-Journalismus bezeichnet, der Normalzustand der Nachrichtenvermittlung sein, und bedenkt man, wie wenig Raum hier abseits der Meinungsartikel für eigenen Stil bleibt, ist die Vorstellung, dass große Teile der Redaktionen eines Tages durch Chatbots ersetzt werden könnten, auch keine ferne Dystopie mehr. Die Bild-Zeitung indes wird höchstwahrscheinlich auch als reines Online-Produkt Marktführer bleiben.

Auch wenn die Abonnentenzahl der Nachrichtenseite Bild plus mit knapp über 600 000 weiterhin deutlich hinter der beständig schrumpfenden verkauften Druckauflage zurückbleibt – unter den kostenpflichtigen Zeitungsan­geboten im Netz ist es eines der erfolgreichsten in Europa, und die Homepage Bild.de hatte von Juli bis Oktober 2022 monatlich zwischen 24 und 25 Millionen Besucher. Hier zahlt sich zweifellos aus, dass die spezifische Struktur des Blatts, mit kurzen Texten unter reißerischen Überschriften, sich von Beginn an besser für die Online-Vermittlung eignete als seriöserer Journalismus. Da kann man sich auch mal gescheiterte Experimente wie den im vergangenen Herbst nach nur einjähriger Laufzeit aufgegebenen Sender Bild TV leisten. Bild selbst wird zweifellos auch als bloßes Online-Angebot seine meinungsbildende Relevanz behalten – jedenfalls in größerem Ausmaß als andere Zeitungen.

Aber so erfolgreich Springers Flaggschiff den Übergang zur reinen Online-Zeitung im Vergleich zur Konkurrenz bislang auch meistert, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Wirkungsmacht der Bild seit Jahren schwindet: Bereits in Reaktion auf die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015/2016 hat sich ein überaus dynamisches Netzwerk alternativer rechter Medien im Netz etabliert, das in Opposition erst gegen die Pandemiemaßnahmen, dann gegen die militärische Unterstützung der Ukraine sowie dauerhaft gegen Antirassismus und Feminismus, Klimaschutz und ein mutmaßlich hinter all dem steckendes jüdisch-globalisiertes Establishment kontinuierlich weiter gewachsen ist.

Was sich da an rechtsextremen Ressentiments und geradezu pathologischer Menschenfeindlichkeit in von jeglicher Bindung an die Realität befreiten Blogs, Youtube-Kanälen und Telegram-Chats versammelt, wird auch die diesbezüglich nie sonderlich zimperliche Bild schwerlich wieder einfangen können. Zum Selbstverständnis von Springer gehört die Westbindung und die Unterstützung Israels – schon das setzt dem Bespielen des rechten Randes Grenzen.

Außerdem hält man im Axel-Springer-Haus, trotz aller Hetze, die man tagtäglich in die Welt setzt, letztlich doch an einem konservativ-staats­tragenden Selbstbild fest. Zwar bedient man die gängigen Ressentiments, setzt aber immer wieder auch Zeichen in die entgegengesetzte Richtung. Da darf sich dann der altersmilde gewordene Sudelkolumnist Franz Josef ­Wagner auch schon mal für die Rechte Homosexueller stark machen.

Ob die Bild-Zeitung diese Widersprüche durchhalten kann, ist allerdings nur für sie selbst relevant. Gesellschaftlich betrachtet ist es viel bedenklicher, dass sich der Online-Journalismus einstmals gegensätzlich ausgerichteter Zeitungen dem Bild-typischen strukturell immer weiter annähert. Denn Informationsvermittlung und argumentativer Austausch brauchen Raum. Kommunikation in Textbruchstücken von Tweet-Länge, die mit knalligen Schlagzeilen um Aufmerksamkeit heischen, wird immer nur den Populismus fördern. Für den Boulevard der Empörung, dessen Zentralorgan die Bild-Zeitung jahrzehntelang war, ist es längst egal, ob sie weiterexistiert oder nicht. Diesen Boulevard bilden die Blogs und Social-Media-Plattformen, und die Virulenz, die er von dort aus entfaltet, erfasst alle anderen Medien.