Mit der Kufiya paradieren
31 Prozent für den rechtsextremen Rassemblement national (RN) bei der Europawahl, Konservative, die mit Marine Le Pen koalieren wollen, und eine vorgezogene Parlamentswahl, aus der der RN als Regierungspartei hervorgehen könnte – große Teile der französischen Bevölkerung wollen das nicht hinnehmen. Am 15. Juni protestierten Hunderttausende in ganz Frankreich, am Sonntag riefen feministische Gruppen zu Protesten auf.
Ein Ergebnis der drohenden Rechtsentwicklung ist der Zusammenschluss zahlreicher linker Parteien zum sogenannten Nouveau Front populaire (NFP, deutsch: Neue Volksfront). Diesem Wahlbündnis gehören die Populisten von La France insoumise (LFI), der sozialdemokratische Parti socialiste (PS), die Kommunistischen Partei, die Grünen und zahlreicher Kleinparteien an. Innerhalb weniger Tage einigten sie sich auf ein gemeinsames Programm.
Die Haltung des Nouveau Front populaire zu Israel, zur Hamas und zum Antisemitismus ist besonders umstritten.
Ein Thema war dabei jedoch besonders umstritten: die Haltung zu Israel, zur Hamas und zum Antisemitismus. Das Ergebnis ist entsprechend ambivalent und läuft darauf hinaus, eine Gleichstellung beider Konfliktparteien nahezulegen. Man einigte sich darauf, für die Freilassung der verbleibenden israelischen Geiseln sowie »palästinensischer politischer Gefangener« einzutreten.
Allerdings bleibt unklar, welche »politischen Gefangenen« genau gemeint sind, fordert die Hamas doch auch die Freilassung verurteilter Terroristen. Weiterhin verurteilt das Programm die Massaker der Hamas und ihr »theokratisches Projekt« und fordert ein Ende der französischen Unterstützung für Benjamin Netanyahus »rechtsextreme suprematistische Regierung« und eine sofortige Anerkennung eines palästinensischen Staats neben Israel.
Unbeantwortet bleibt, was passieren würde, wenn die Hamas die Macht in einem solchen palästinensischen Staat übernehmen würde. Von der Türkei, dem Iran und anderen nach Hegemonie strebenden Staaten in der Region ist im Programm nicht die Rede. »Islamischer Staat«? Kurdische Gebiete, Rojava? Fehlanzeige.
LFI sieht sich auf der Erfolgsspur
Das Thema Palästina bringt eben Stimmen und Aufmerksamkeit – insbesondere Jean-Luc Mélenchon und seine Partei LFI machen sich das zunutze. Bei der Europawahl gelang es ihnen, mit ihrer Parteinahme gegen Israel weite Teile der muslimischen Bevölkerung Frankreichs für sich zu gewinnen. Mit der Kandidatin Rima Hassan beispielsweise konnte LFI Stimmen in den Pariser Vororten sammeln, wo sonst Politikverdrossenheit und Wahlverweigerung vorherrschen. Im Wahlbezirk Seine-Saint-Denis, einem Bezirk mit zahlreichen Bürgern mit Migrationshintergrund, der mit besonders viel Armut und Ausgrenzung kämpft, steigerte LFI ihren Stimmenanteil auf 37,13 Prozent und wurde damit stärkste Partei.
LFI sieht sich auf der Erfolgsspur, innere Streitigkeiten treten deshalb in den Hintergrund. Der Parteigründer Mélenchon hat für die anstehende Wahl fast autokratisch Kandidaten auf die Wahlliste gesetzt, darunter zweifelhafte Persönlichkeiten wie Adrien Quatennens, der 2022 von einem Parteiamt zurücktrat, weil er wegen Gewalt gegen seine Frau verurteilt worden war.
Wie zentral das Thema Palästina für Teile der französischen Linken derzeit ist, zeigte sich bei den Großprotesten in Paris am 15. Juni, gewissermaßen eine konstitutive Demonstration dieses neuen Front populaire. Insbesondere der linksradikale Demonstrationszug, der von der Place de la République in Richtung Place de la Nation ging, bestand aus einem palästinensischen Fahnenmeer und zahlreiche junge Demonstranten trugen stolz die Kufiya.
»Öffentliche antisemitische Demütigung«
Inmitten dieser Menschenmenge fand sich auch eine kleine Gruppe aus etwa 50 bis 60 Personen mit den Flaggen der Juif:ves Révolutionnaires und der Organisation Golem, zwei linke jüdische Gruppierungen, die sich dafür einsetzen, dass der Kampf gegen Antisemitismus nicht von rechts übernommen wird. Dafür müssen sie einige Anfeindungen ertragen.
Ende Mai wurde Golem eingeladen, an der Universität Lille mit sich als propalästinensisch bezeichnenden Studierendengruppen über die Lage an französischen Hochschulen zu diskutieren. Doch dazu kam es nicht. Die zwei Redner von Golem wurden aus dem Publikum als »Kolonisatoren« und »Faschisten« beschimpft, während die Gegenseite ein Manifest verlas, das die Gruppe, die die Netanyahu-Regierung deutlich kritisiert, für ihre Unterstützung des »Zionismus« und des »Genozids« verurteilte. Ehe die Vertreter von Golem antworten konnten, erhob sich die Mehrheit des Publikums und verließ den Saal. Einer der beiden Redner von Golem bezeichnete das Erlebte später als geplante »öffentliche antisemitische Demütigung«.
Dient die Beschäftigung mit dem Israel-Gaza-Krieg dazu, eine rationale Position zu einem realen Konflikt zu erarbeiten, oder bloß dazu, identitäre Rhetorik zu betreiben?
Nach einiger Zeit auf der Place de la République bewegte sich die Gruppe jüdischer Protestierender schließlich in Richtung des Marschs der Gewerkschaften und gemäßigten linken Parteien und Gruppen. Im palästinensischen Flaggenmeer wäre die Lage möglicherweise nicht dauerhaft entspannt geblieben.
So stellt sich die Frage, ob eine gemeinsame linke Koalition gegen die extreme Rechte auf dem Verstummen derer aufbauen soll, die nicht strikt auf antizionistischer Linie sind. Und was eine linke Außenpolitik wert ist, die bloß um den ideologisch aufgeladenen Krieg im Gaza-Streifen kreist, sich für andere Konflikte in der Region – beispielsweise den türkischen und iranischen Beschuss der kurdischen Gebiete in Syrien und dem Irak oder den Krieg und die Hungersnot im Sudan – aber nicht interessiert. Dient die Beschäftigung mit dem Israel-Gaza-Krieg dazu, eine rationale Position zu einem realen Konflikt zu erarbeiten, oder bloß dazu, identitäre Rhetorik zu betreiben?
Die Demonstrationen vom 15. Juni waren ein mächtiges Zeichen, aber sie offenbarten auch tiefe Gräben innerhalb der Linken. Der Nouveau Front populaire muss sich der Kritik stellen, den Antisemitismus in seinen Reihen nicht ausreichend zu bekämpfen. Die Zukunft der Bewegung hängt davon ab, ob sich ihr große Teile der Bevölkerung anschließen können und ob sie eine Position formuliert, die an Lösungen interessiert ist statt an innenpolitischem Stimmenfang. Das würde mehr erfordern, als Kufiya-Paraden zu veranstalten.