Bei den Neuwahlen in Frankreich droht ein Sieg des rechtsextremen Rassemblement national

Macron spielt va banque

Auf den Wahlerfolg der extremen Rechten bei den Europawahlen reagierte der französische Präsident Emmanuel Macron mit der Auflösung der Nationalversammlung. Die Wahlen könnten eine vom Rassemblement national geführte Regierung bringen.

Paris. Keine drei Wochen Zeit für Wahlvorbereitungen und Wahlkampf lässt Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron den politischen Parteien. Am Sonntagabend löste er in Reaktion auf den Ausgang der Europaparlamentswahlen in Frankreich – die beiden wichtigsten rechtsextremen Parteien Rassemblement national (RN) und Reconquête erhielten zusammen 37 Prozent, Ma­crons Liste nur knapp 15 Prozent der Stimmen – die Nationalversammlung auf und schrieb Neuwahlen für den 30.Juni und den 7.Juli aus. Bereits am Freitag dieser Woche müssen Listen für die erste Runde abschließend eingereicht sein; am 7. Juli werden die Stichwahlen stattfinden.

Für einen Sieg der Kandidatinnen und Kandidaten in ihren Wahlkreisen ist in der ersten Runde die absolute Mehrheit erforderlich, wo diese nicht erreicht wird, kommt es zur Stichwahl. Die linken Parteien – Parti socialiste, Grüne, KP und die linkspopulistische Partei LFI (Das unbeugsame Frankreich) – wollen auf Konkurrenzkandidaturen verzichten, um die Chancen der jeweils stärksten linksorientierten Kandidaten auf einen Einzug in die Stichwahlen zu verbessern. Die Fraktionsvorsitzende des RN in der bisherigen Nationalversammlung, Marine Le Pen, bot den Konservativen der Partei Les Républicains (LR) ihrerseits Wahlbündnisse an. Am Dienstag sagte der LR-Vorsitzende Éric Ciotti: »Es muss ein Bündnis mit dem Rassemblement national geben.« Immerhin stieß er damit auf Widerspruch in seiner Partei.

Im Fall einer Regierungsübernahme müsste der Rassemblement national außenpolitisch dem Eindruck entgegenwirken, zu sehr mit Russlands Machthabern verbunden zu sein.

Eine Reihe von Beobachtern vertrat schon länger die These, Macron plane mittelfristig, im Falle eines Machtverlusts die politische Verantwortung an die Rechtsextremen abzugeben. In der linken Wochenzeitschrift Politis wurde etwa das Szenario einer von Macron provozierten vorzeitigen Neuwahl und Regierungsübernahme des RN schon vor einem Jahr ausgemalt, unter Berufung auf einen nicht namentlich genannten Berater des Präsidenten. Auch Vanity Fair berichtete diese Woche von seit einem Jahr zirkulierenden Planspielen dazu. Dabei handelt Macron im Glauben, die wirtschaftliche Inkompetenz der extremen Rechten vorführen und seiner Partei damit bessere Chancen für die Präsidentschaftswahl 2027 verschaffen zu können. Zudem soll keine Alternative neben Wirtschaftsliberalen und Rechtsextremen aufkommen.

Mit einer relativen Mehrheit für den rechtsextremen RN, mit 31,4 Prozent Hauptgewinner der Europaparlamentswahlen in Frankreich, muss gerechnet werden. Gegen den RN richteten sich bereits am Sonntag und Montag erste Spontandemonstrationen, für Samstag wird mit stärkeren Protesten gerechnet, zu denen die wichtigsten Gewerkschaften aufgerufen haben.

»Ihr Wortgeklingel, der Planet, die Vöglein, das alles«

Sollte der RN die Wahl gewinnen und ihm in der Folge eine Regierungsbildung glücken, dürfte der erst 28 Jahre alte Jordan Bardella, Parteivorsitzender und Spitzenkandidat bei der zurückliegenden Europaparlamentswahl, Pre­mier­minister werden. Er gibt sich gerne in der Rolle des idealen Schwiegersohns. Wer Bardella aufmerksam bei der Fernsehdebatte mit allen acht wichtigen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten für die Europawahl am 27. Mai beim Sender BFM TV erlebt hat, weiß darum, welch abgrundtiefer Zynismus sich hinter seinem lächelnden Auftreten verbirgt.

Zwar betonte auch Bardella vordergründig beispielsweise, die Umwelt- und Klimakrise sei »eine der größten Herausforderungen«, und fand einige Worte zum Thema, die ihn nicht als kompletten Ignoranten erscheinen ließen. Doch nachdem Marie Toussaint, die Spitzenkandidatin der französische Grünen bei den Europaparlamentswahlen – ihre Liste erhielt nur 5,5 Prozent –, einige konkrete Ausführungen zu ökologischen und klimatischen Problemen machte, wischte Bardella dies mit einem grimmigen Lächeln und der Bemerkung vom Tisch: »Ihr Wortgeklingel, der Planet, die Vöglein, das alles.«

Im Fall einer Regierungsübernahme müsste der RN innenpolitisch dem Kapital beweisen, dass er das hat, was man dort unter »wirtschaftspolitische Seriosität« verbucht – und außenpolitisch insbesondere dem Eindruck entgegenwirken, zu sehr mit Russlands Machthabern verbunden zu sein. Bardella war im jüngsten Wahlkampf wiederholt von Journalisten damit konfrontiert worden, dass auf Platz neun seiner Liste Thierry Mariani zur Wiederwahl ins Europäische Parlament kandidiere, dem er seit 2019 angehört. Mariani ist als Lobbyist sowohl für das Regime in Russland als auch jenes in Aserbai­dschan bekannt, hat allgemein eine Vorliebe sowohl für ausgedehnte Flugreisen wie auch für autoritäre Regimes.

RN bemüht, Antisemitismusvorwürfe zurückzuweisen

Der RN-Spitzenkandidat Bardella konterte darauf in der Regel, er teile Marianis Positionen nicht, und wenn der einen Listenplatz bekommen habe, dann, weil man für politische Vielfalt eintrete: »Politik betreibt man nicht in einer Sekte.« Ansonsten seien Marianis Positionen die seines früheren Chefs, des konservativen Staatspräsidenten der Jahre 2007 bis 2012, Nicolas Sarkozy – unter dessen Präsidentschaft Mariani Verkehrsminister von 2010 bis 2012 war. Insofern, schloss Bardella darauf gewöhnlich, müsse man sich für weitere Anfragen bei den Konservativen informieren und dürfe sich nicht bei ihm beschweren.

Damit erklärte Bardella das Thema meist für erledigt. Sollte Mariani künftig einen Posten in einer vom RN geführten Regierung erhalten, würde es zweifellos schnell wieder auf den Tisch kommen. Allerdings fügte Bardella mitunter, neben dem Ukraine-Krieg Russlands, den der RN wortreich verurteilt, noch ein weiteres Motiv hinzu, um glaubwürdig erscheinen zu lassen, dass er – anders als die Partei vor dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 – Russland sehr distanziert gegenüberstehe: Russland bereite Frankreich in seinem postkolonialen Hinterhof in Afrika in wachsendem Ausmaß Konkurrenz.

Da der RN seit dem Wechsel an der Spitze von Jean-Marie Le Pen zu Marine Le Pen im Januar 2011 bemüht ist, Antisemitismusvorwürfe zurückzuweisen, wird er sich wohl stärker denn je um ein Bündnis mit der israelischen Rechten bemühen. Bislang fand die Partei, der in Israel ihre langjährige explizit antisemitische Geschichte vorgeworfen wurde, dort nur politisch marginale Gesprächspartner.

Le Pen traf den israelischen Minister Amichai Chikli vom rechten Flügel des Likud

In jüngster Zeit machte der RN jedoch größere Fortschritte im Ringen um Anerkennung, wobei es stets darum geht, der Partei von israelischen Politikern bestätigen zu lassen, dass sie nicht antisemitisch sei. Bei einer von der spanischen rechtsextremen Partei Vox am 18. Mai in Madrid organisierten internationalen Großveranstaltung konnte Marine Le Pen den ebenfalls teilnehmenden israelischen Minister für Diaspora-Angelegenheiten, Amichai Chikli vom rechten Flügel des Likud, treffen.

Innenpolitisch nehmen die großen Wirtschaftsverbände inzwischen den RN ernst, ihre Vertreter trafen Bardella etwa am 18. April. Dennoch wird dem RN bisweilen vorgeworfen, nicht wirtschaftsfreundlich genug zu sein. Konservative wie die selbst weit rechts angesiedelte Europaparlamentarierin Nadine Morano wettern regelmäßig gegen das stark von sozialer Demagogie geprägte Programm des RN, am Montag bezeichnete der LR-Politiker Jean-François Copé es in einer Talkshow als »sozialistisch«.

Unternehmerkreise dürften das Thema Rente zur Nagelprobe für das »ökonomische Verantwortungsbewusstsein« des rechtsextremen Rassemblement national heranziehen.

Thomas Ménagé, Abgeordneter des RN in der Nationalversammlung, erklärte am selben Tag, es werde unter einer von seiner Partei geführten Regierung erforderlich, die unter Macron im April 2023 verabschiedete »ungerechte« Rentenreform zurückzunehmen. Beim Rententhema hatte der Front national und spätere RN seit 2010 wiederholt Kapriolen geschlagen, war von einer ursprünglichen programmatischen Forderung, die Lebensarbeitszeit um fünf Jahre zu verlängern, auf eine konträre Position der Verteidigung des möglichen Renteneintritts ab 60 – wie es in Frankreich bis zu Nicolas Sarkozys Reform von 2010 Gesetz war, danach erfolgte eine Anhebung des Mindestalters auf 62, zuletzt unter Ma­cron auf 64 – übergegangen, um diese in jüngster Zeit erneut stark aufzuweichen.

Derzeit tritt die Partei für eine Rente ab 60 nur für Lohnabhängige ein, die vor dem Alter von 20 Jahren zu arbeiten begannen. Dies gilt zwar für einige Angehörige der älteren Arbeitergeneration, wird jedoch in Zukunft bei nachfolgenden Jahrgängen kaum noch jemanden betreffen. Konkrete Position des RN zur Rentenpolitik für diese Jahrgänge sucht man bislang vergeblich, man findet lediglich betont sozial klingende Rhetorik ohne näher bestimmte Inhalte. Unternehmerkreise dürften das Thema jedoch zur Nagelprobe für das – wie man es in diesen Kreisen nennt – »ökonomische Verantwortungsbewusstsein« der rechtsextremen Partei heranziehen.

Wenn am 26. Juli in Paris die Olympischen Sommerspiele eröffnet werden, dürfte das Prestigeprojekt Macrons einen erheblichen Imageschaden erlitten haben. Entweder weil noch zäh um eine Regierungsbildung gerungen wird oder weil gar eine vom RN geführte Regierung aufgestellt wurde, falls die künftigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnis dies denn zulassen. In diesem Fall dürften die Gewerkschaften von CGT bis CFDT ihre Ankündigungen wahr machen, bei einer rechtsex­tremen Regierungsübernahme zu streiken.