Für die französischen Parlamentswahlen verbündet sich ein Teil der konservativen Partei mit dem Rassemblement national

Konservative Steigbügelhalter

Bei der konservativen Partei Les Républicains hat die vorgezogene Parlamentswahl zu schwerwiegenden Zerwürfnissen geführt. Unter der Führung des Vorsitzenden Éric Ciotti hat der rechte Flügel der Partei mit dem Rassemblement national ein Wahlbündnis gebildet und unterstützt diesen mit Kontakten zu Wirtschaftsverbänden.

Paris. Bei den Wahlen in Frankreich droht allerlei aus den Fugen zu geraten. Für die Metaphern der Politiker ist es bereits zu spät: Am Montagmittag kündigte Jordan Bardella, der Spitzenkandidat des rechtsextremen Rassemblement national (RN) bei der französischen Parlamentswahl, für den Fall, dass seine Partei die nächste Regierung dominieren sollte, einen »Urknall der Autorität in Schule und Unterricht« an. Schuluniformen, geschlossene Erziehungszentren für verhaltensauffällige Schüler und Schülerinnen, obligatorisches Siezen von Lehrkräften sowie Frontalunterricht sollen das Bildungswesen umkrempeln.

Auch solle, auf diesem Versprechen insistierte er, das sogenannte Bodenrecht oder ius soli, also die Möglichkeit, die französische Staatsbürgerschaft durch Geburt im Land zu erwerben, abgeschafft werden. Die doppelte Staatsbürgerschaft hingegen will Bardella inzwischen nicht mehr grundsätzlich untersagen.

Doch soll der Zugang von Doppelstaatsangehörigen zu einigen Berufen im öffentlichen Dienst – Bardella nannte als Beispiel »strategische Posten« – untersagt werden. Dies würde bedeuten, eine juristische Ungleichbehandlung von französischen Staatsbürgerinnen und -bürgern einzuführen.
Aufgegeben dagegen hat die Parteiführung des RN für den Fall ihres Regierungseintritts in nächster Zukunft einige vor allem sozialpolitische Versprechen. So fordert Bardellas Partei nicht mehr wie noch kürzlich, die Mehrwertsteuer bei 100 Grundbedarfsgütern zu senken. Dieser Vorschlag wird nun lediglich für Benzin, Diesel und Kohle aufrechterhalten.

Im vorigen Jahr stimmte der RN gegen Macrons Rentenreform, während die Konservativen ein Renteneintrittsalter von mindestens 65 Jahren forderten.

Premierminister Gabriel Attal sprach Mitte voriger Woche diesbezüglich von einem »Zwiebelprogramm«: Mit den Wahlversprechungen der rechtsextremen Partei gehe es zu wie beim Schälen einer Zwiebel, Schicht für Schicht werde entfernt »und am Schluss bleiben tränende Augen übrig«. Allerdings vertritt der wirtschaftsliberale Premier­minister aus der Partei des Präsidenten Emmanuel Macron in den Augen der breiten Wählerschaft selbst kein attraktiveres Wahlangebot.

Dennoch gerät der RN unter Druck, die Erwartungen einer Wählerschaft zu erfüllen, die in relevanten Teilen geneigt scheint, »diese Partei, die noch nie an der Macht war, einmal auszuprobieren, um endlich Veränderung zu sehen« – so lautet eine in den Medien verbreitete Formulierung. Und die Parteibasis des RN dürstet es nach 52 Jahren dauernder Opposition ohnehin nach Rache – dafür, dass man die Partei nicht mitmachen ließ, und dafür, dass man sich selbst wie die ganze französische Nation deklassiert fühlt. Deswegen kann man vom RN, sollte er die Regierungsgeschäfte übernehmen, wohl mindestens symbolische Maßnahmen mit starker Aussagekraft erwarten.

Begrenzung von sozialpolitischen Staatsausgaben

Was den RN eher unter Druck setzen dürfte als Sticheleien aus dem Lager Macrons, ist die Position der Kapitalverbände, die eine rechtsextrem geführte Regierung – wie jede andere auch – an der Begrenzung wohl vor allem von sozialpolitischen Staatsausgaben messen wird. Früher kritisierten die Wirtschaftsverbände den damaligen Front national und heutigen RN aufgrund seiner Neigung zum nationalen Protektionismus auch in wirtschaftspolitischen Belangen, doch inzwischen haben sie sich weitgehend damit abgefunden, dass der RN an der Regierung beteiligt werden oder sie gar übernehmen könnte. Der hat zudem mit einem Flügel der nun offen gespaltenen konservativen Partei Les Républicains (LR) ein Wahlbündnis gebildet.

Denn das ist ihnen möglicherweise immer noch lieber als eine Machtbeteiligung der linken Parteien. Diese sind eigentlich sehr heterogen, haben sich derzeit jedoch aufgrund des drohenden Regierungseintritts des RN in einem recht prekären Wahlbündnis zusammengeschlossenen, dem Nouveau Front populaire (NFP).

An der Abneigung der Wirtschaftsverbände ändert wohl auch nichts, dass das linke Bündnis inzwischen sein Programm durchgerechnet und sich um als seriös geltende Finanzierungspläne bemüht gezeigt hat: Nach dem vom NFP am Freitag voriger Woche vorgelegten Finanzprogramm soll beispielsweise die Wiedereinführung einer Vermögensbesteuerung, die 2017 abgeschafft worden war, jährlich 15 Milliarden Euro einbringen. Dies schmeckt dem Kapital selbstredend nicht – dem ist ein ökonomisch irrational argumentierender, doch demagogisch versierter Kandidat auf der Liste des neuen Bündnisses der Rechten wie Charles Prats wohl lieber.

Einheitssteuer für die Geringverdienerin und den Millionär

Prats behauptet, man könne Milliarden von Euro einsparen, indem man gigantische Verluste durch »Sozialbetrug« und Einwanderung – beide fließen bei ihm in kaum unterscheidbarer Form ineinander –, in seinen Augen also illegitime Ansprüche, beendet. Das dürften sich schnell als Milchmädchenrechnung erweisen. Ganz nach dem Geschmack von Kapitaleignern könnte hingegen Prats Forderung nach einer flat tax genannten Einheitssteuer sein, also einem identischen Steuersatz für die gerade noch einkommensteuerpflichtige Geringverdienerin und den Millionär.

Nachdem Bardella bereits am 18. April als Kandidat bei der Europawahl bei den Wirtschaftsverbänden vorgesprochen hatte, wurde er am 20. Juni zum zweiten Mal dort vorstellig. Begleitet wurde er dieses Mal von Éric Ciotti, dem seit Dezember 2022 amtierenden und inhaltlich in vielen Punkten seit langem den Rechtsextremen nahestehenden Vorsitzenden der konservativen Partei Les Républicains (LR).

Ciotti hatte am 11. Juni – für die meisten seiner Parteifreunde überraschend – ein Wahlbündnis in Form einer Art von »nationalem Block« mit dem RN verkündet. Daraufhin schloss ihn der Parteivorstand nahezu einstimmig aus der Partei aus; für seinen Kurs stimmten lediglich die wie Ciotti aus Nizza stammende Kandidatin Christelle D’Intorni, Meyer Habib – der Abgeordnete der Auslandsfranzosen und langjähriger Verbindungsmann zwischen französischen Konservativen und der israelischen Rechten – sowie der Vorsitzende des Jugendverbands, Guilhem Carayon. Doch Ciottis Kurs hat bei der Wählerbasis mehr Befürworter als unter hohen Parteifunktionären. Am 14. Juni erklärte ein Pariser Gericht es aus formalen Gründen für ungültig, dem zuvor geschassten Ciotti zugleich den Parteivorsitz zu entziehen.

Verachtung für den Rechtsstaat

Dass Ciotti Bardella zu dessen Termin bei den Arbeitgeberverbänden begleitete, diente vor allem auch dazu, dem RN Respektabilität in den Augen der Kapitaleigner und der Oberklasse zu verleihen. Ciotti teilt mit den Rechtsextremen die Verachtung für den Rechtsstaat, insbesondere dort, wo er dem Handeln der Exekutive Grenzen setzen könnte – 2021 sagte Ciotti, in Zeiten des Kriegs gegen den Terrorismus sei der Rechtsstaat definitiv überholt – sowie eine Obsession für die »nationale Identität«. Er teilt aber nicht die soziale Demagogie, mit der der RN auf Stimmenfang geht. Im vorigen Jahr stimmte der RN gegen die Rentenreform von Macrons Regierung, die das gesetzliche Mindestalter für die Pensionierung – meist mit Abschlägen – von zuvor 62 auf 64 Jahre anhob, während Ciotti diese gar für unzureichend hielt und ein Mindesteintrittsalter von 65 forderte.

Dass Bardella zusammen mit Ciotti zu dem Termin erschien, sollte Ersteren also wirtschaftlich verantwortungsbewusst wirken lassen, droht jedoch zugleich, von Wählern als inhaltlich inkohärent wahrgenommen zu werden. Die Arbeitgeberverbände ihrerseits bleiben in der Frage einer potentiellen Regierung unter Federführung des RN grundsätzlich gespalten, da die größeren weltmarktorientierten sowie die im IT-Sektor tätigen Konzerne der Partei eher feindlich, viele eher binnenmarktorientierte mittlere Unternehmen ihr jedoch wohlgesinnt gegenüberstehen, wie beispielsweise das Wochenmagazin Marianne beobachtet.

Ungeschminkter Neofaschismus

Von ihrer Geschichte, die mit zunächst ungeschminktem Neofaschismus beginnt, muss die Partei unterdessen kaum Abstand nehmen. Am Abend der Europawahl und den darauffolgenden kam es unter anderem zu gewalttätigen Übergriffen von Rechtsextremen auf Homosexuelle und Demonstranten auf Veranstaltungen gegen den RN. Die Täter kamen mutmaßlich aus außerparlamentarischen Gruppen wie dem studentisch geprägten Groupe Union Défense (GUD), dessen Altherrenclub unter Axel Loustau – sein Sohn war an den Übergriffen in Paris beteiligt – jedoch dem RN angehört und dessen Parteifinanzen kontrolliert.

Die Teilnehmer gaben dabei jeweils an, den Wahlsieg Jordan Bardellas feiern zu wollen. In Paris wurden dafür bereits sechs- und siebenmonatige Haftstrafen, teils ohne Bewährung, für vier Täter verhängt. In Montpellier demonstrierten am vorigen Samstag Hunderte Menschen gegen faschistische Übergriffe vom 1. Juni. Bardella gab an, im Falle eines Wahlsiegs außerparlamentarische Gruppen »ultrarechter und ultralinker« Natur verbieten zu wollen, denkt aber erklärtermaßen auch an Antifa-Gruppen.

Den Antisemitismus ihrer Partei hatten die Anführer des Rassemblement national schon vor längerem als Hindernis für Bündnisse mit Bürgerlichen und somit für eine Machtbeteiligung erkannt.

Den Antisemitismus hatten die Anführer der Partei, Marine Le Pen und Louis Aliot, schon vor längerem als Hindernis für Bündnisse mit Bürgerlichen und somit für eine Machtbeteiligung erkannt. Das unterscheidet sie von ihren Vorläufern an der Parteiführung wie Jean-Marie Le Pen und Bruno Gollnisch. Der Wandel im RN bleibt allerdings oberflächlich. Am Sonntag publizierten drei Journalisten von Le Monde knapp 50 Namen von RN-Kandidaten zur Parlamentswahl, die sich entweder offen geschichtsrevisionistisch betätigten – wie Frédéric Boccaletti, der früher in Nizza eine Buchhandlung für Holocaustleugner-Literatur betrieb – oder sich als Verschwörungstheoretiker oder als allzu offenkundige Kreml-Propagandisten hervortaten – auch nachdem ihre Partei offiziell vom Putin-Regime abgerückt war.

Einer von ihnen wurde am Sonntag offiziell rehabilitiert und als Kandidat wiedereingesetzt: Joseph Martin, Parlamentsbewerber in der Bretagne. Ihm war vorige Woche zunächst die Unterstützung entzogen worden, weil er 2018 bei Twitter geschrieben hatte: »Das Gas rächte die Opfer der Shoah.«

Mittlerweile hat er dafür jedoch eine Erklärung geliefert, die den RN anscheinend befriedigt: Er habe auf diese Weise den Tod des prominentesten französischen Holocaustleugners, Robert Faurisson, begrüßt, also eine noble Intention verfolgt. Allerdings starb der damals 89jährige Faurisson gar nicht an einer Gasvergiftung, sondern am 21. Oktober 2018 an Herzversagen.