Auch linksorientierte Fraktionen des Europaparlaments vertreten fragwürdige Positionen

Richtungswahl mit Wundertüten

Bei der anstehenden Europawahl wird mit einem Erfolg der extremen Rechten gerechnet. Doch auch die linksorientierten Fraktionen des Europaparlaments vertreten fragwürdige Positionen zu Israel und Russland, Homöopathie und Separatismus.

Nun steht sie also wieder an, die Europawahl, und mit ihr die Frage, was genau man eigentlich wählt, wenn man wen wählt.

Was klar ist: Die Wahlberechtigten entscheiden über die Zusammensetzung des europäischen Parlaments. Was auch klar ist: Über die Mitglieder der EU-Kommission, die so etwas wie eine gemeinsame Regierung des Staatenbunds darstellt, entscheiden sie nicht, das ist Aufgabe des Parlaments.

Und gar keinen Einfluss hat die Wahl darauf, wer am Ende Kommissionspräsident wird. Das bestimmt der Europäische Rat, also die Regierungsvorsitzenden der Mitgliedstaaten. Wer von diesem Gremium ausgewählt wird – die Berufung Ursula von der Leyens (CDU) in dieses Amt hat es 2019 gezeigt –, muss vorher gar nicht für das Europaparlament kandidiert haben. Theoretisch müsste der neue Präsident oder die neue Präsidentin nicht einmal der stärksten Fraktion im Parlament angehören, sofern sich Emmanuel Macron, Olaf Scholz und ihre Amtskollegen auf eine Personalie einigen sollten, die dieses Kriterium nicht erfüllt.

Postfaschisten und Rechtsextreme wollen die putinistischen Schmuddelkinder der AfD nicht haben

Schon diese Konstruktion der EU, bei der die Wähler nur äußerst indirekten Einfluss auf die Regierungsbildung haben, ist nicht übermäßig geeignet, die Leute an die Wahlurnen zu locken. Hinzu kommt, dass man immer nur nationale Parteien mit nationalen Spitzenkandidaten wählt, die am Ende dann aber mit Partnerparteien aus den anderen 26 Staaten eine Fraktion bilden. Von diesen Partnern weiß der hiesige Wähler in der Regel nichts oder zumindest nichts Genaues. Man muss einfach dar­auf vertrauen, dass die Partei, der man hierzulande seine Stimme gibt, sich passende Verbündete sucht.

Diese Bündnisbildung wirkt allerdings nicht immer überzeugend, schon gar nicht zwingend und hängt gleichermaßen an persönlichen Sympathien oder Ressentiments wie an strategischen Überlegungen. Auf der rechten Seite des Parlaments konnte man das zuletzt daran beobachten, wie sich die »postfaschistischen« Fratelli d’Italia (Parlamentsfraktion: Europäische Konservative und Reformer, EKR) und die französischen Rechtsex­tremen des Rassemblement national (Parlamentsfraktion: »Identität und Demokratie«, ID) von den putinistischen Schmuddelkindern der AfD abwendeten; aus der ID flog die AfD raus, die EKR will sie nicht haben.

Doch auch beim Blick auf die Fraktionierung der linken Seite des Parlaments wird klar, dass man (im Gegensatz etwa zur Bundestagswahl) keine einigermaßen konkrete Programmatik, sondern bestenfalls eine grobe Richtung wählen kann: irgendwie bürgerlich-sozialdemokratisch, irgendwie linksliberal-grün oder irgendwie demokratisch-sozialistisch.

»Wir fordern Sanktionen gegen den militärisch-industriellen Komplex der USA wegen der Unterstützung der Aggression der Regierung des Staates Israel.« Wahlmanifest der Europäischen Linken (EL)

Für letztere Richtung steht hierzulande die Partei Die Linke, die auf europäischer Ebene zur Partei der Europäischen Linken (EL) zählt und im Europaparlament der Fraktion mit dem wenig einprägsamen Kürzel GUE/NGL (für: »Gauche Unitaire Européenne/Nordic Green Left«) angehört. Ebenfalls zu dieser Fraktion gehört derzeit allerdings die deutsche Kleinstpartei »Mensch Umwelt Tierschutz«, der es unter anderem um Menschenrechte für das liebe Vieh und die Gleichstellung von Schulmedizin und esoterischem Hokuspokus geht. Schon daran zeigt sich, wie leicht die allzu grobe Richtungswahl fürs Europaparlament auf seltsame Abwege führen kann.

Aus Frankreich kommt die populistische und – wie der übliche Begriff lautet – »europaskeptische« Partei La France insoumise (FI) hinzu, deren Gründer und Frontmann Jean-Luc Mélenchon gerne einmal mit südamerikanischen Diktatoren kuschelt, der Nato die Schuld für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gibt und die Mörder des 7. Oktober 2023 für »Widerstandskämpfer« hält. In einem gemeinsamen Manifest der EL zur Europawahl heißt es zum Krieg Israels gegen die Hamas: »Wir fordern Sanktionen gegen den militärisch-industriellen Komplex der USA wegen der Unterstützung der Aggression der Regierung des Staates Israel.« Die EU müsse außerdem auch gegen Israel »wirksame wirtschaftliche und politische Sanktionen verhängen, um Druck auf die israelische Regierung auszuüben«.

Aus Griechenland beteiligt sich Syriza an der Fraktion, eine Partei, die 2015 kein Problem darin sah, eine Koalitionsregierung mit der rechtspopulistischen Partei Anexartiti Ellines (Anel) zu bilden und sich derzeit in einem ähnlich verheerenden Zustand befindet wie die deutsche Linkspartei. 

Wiederum vorrangig um Tierrechte geht es dem niederländischen Bündnispartner Partij voor de Dieren (PvdD), während der portugiesische Partido Comunista Português (PCP) sich explizit als marxistisch-leninistische »Avantgarde der Arbeiterklasse« sieht und diesem Selbstbild mit Hammer und Sichel im Parteilogo Ausdruck verleiht.

Postkolonialismus ist der neue heiße Scheiß

Spanien ist mit gleich drei linken Splitterparteien vertreten, darunter den baskischen Separatisten des Euskal Herria Bildu (EH Bildu), die sich möglicherweise gut mit den irischen Genossen von Sinn Féin verstehen, deren politisches Kernanliegen allerdings die Wiedervereinigung von Irland und Nordirland ist.

Im Manifest der EL schlägt sich das folgendermaßen nieder: »Wir unterstützen die Bestrebungen des irischen Volkes, seine durch den britischen Kolonialismus gespaltene Nation wieder zu vereinen.« Na klar, Postkolonialismus ist eben der neue heiße Scheiß, und wenn man schon Israel gegen jegliche nachvollziehbare Definition zum Kolonialstaat erklärt, warum nicht auch die anglonormannische Eroberung Irlands im 12. und 13. Jahrhundert mit diesem Begriff beschreiben?

Allerdings hat Israel im Gegensatz zu England im Zuge seiner Staatsgründung nichts von irgendjemandem erobert, noch ist die gesellschaftliche Stellung arabischer Israelis mit der der ehemals katholisch-irischen Untertanen des Vereinigten Königreichs zu vergleichen – aber derlei Unterschiede zählen eh nicht: alles Westen, alles Kolonialismus, alles schlecht. Punkt.

Derlei (und mehr) steckt in der Fraktion GUE/NGL, die man wählt, wenn man hierzulande seine Stimme der Linkspartei gibt – als wäre deren eigene Haltung etwa zu den Kriegen in der Ukraine und in Gaza nicht schon konfus genug.

Grüne EU-Fraktion ebenfalls randvoll mit widersprüchlichen Positionen

Kaum weniger verwirrend in seiner übergroßen Vielfalt präsentiert sich das linksliberale Parteienlager der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz, zu der neben den Abgeordneten der verschiedenen grünen Parteien der europäischen Länder auch einige Parteien der Europäischen Freien Allianz (EFA), einem Sammelbecken für kleinere Regionalparteien, gehören. Hierzu zählen unter anderem die sich für die Unabhängigkeit Bayerns einsetzende Bayernpartei oder die Süd-Tiroler Freiheit, die Südtirol gerne von Italien lösen möchte.

Außerdem gehören der Fraktion derzeit noch Abgeordnete der Europäischen Piratenpartei, von Volt Europa und den eher rechten Umweltschützern der Ökologisch Demokratischen Partei (ÖDP) an. Auch das ist also eine veritable programmatische Wundertüte, randvoll mit widersprüchlichen Positionen.

Die SPD hingegen ist Teil der »Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament« (S&D). Was genau in diesem Zusammenhang »progressiv« bedeutet, darüber sind sich die Mitglieder jedoch nicht einig. So vertritt etwa die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) klar prorussische Positionen und initiierte 2018 eine erfolgreiche Kampagne gegen die Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

Der Vorsitzende der antiisraelischen belgischen Partei Vooruit musste im vergangenen Jahr nach rassistischen Sprüchen zurücktreten. Die slowakische Smer – slovenská sociálna demokracia (Smer-SSD) fischt mit Propaganda gegen Eliten und Migration am linken wie am rechten Rand und will der Ukraine die Waffenlieferungen streichen. In dieser Gesellschaft wirken die deutschen Sozialdemokraten mit ihrem selbsternannten »Friedenskanzler« Olaf Scholz und ihrem »Zwei Schritte vor, drei zurück«-Kurs in nahezu allen wichtigen politischen Fragen geradezu seriös.

Insgesamt ist es völlig unklar, wen auf der linken Seite des europäischen Parlaments man wählen könnte, wenn man selbst sich beispielsweise als solidarisch mit dem angegriffenen Israel und der angegriffenen Ukraine versteht. 

Obschon man sich bekanntlich auch ihrer zögerlichen Abkehr vom Pro-Putin-Kurs keineswegs sicher sein kann. Das belegt nicht nur ihr Fraktionschef im Bundestag Rolf Mützenich (»den Krieg einfrieren«) immer wieder, auch die Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, hat offenbar die Schüsse in der Ukraine nicht gehört, wenn sie beim ZDF-»Kandidatencheck« auf die Frage nach dem »größten lebenden Sozialdemokraten« antwortet, sie sei ein »ganz großer Fan« der Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns und willigen Nord-Stream-2-Chef­lobbyistin Manuela Schwesig.

Insgesamt ist es also völlig unklar, wen auf der linken Seite des europäischen Parlaments man wählen könnte, wenn man selbst sich beispielsweise als solidarisch mit dem angegriffenen Israel und der angegriffenen Ukraine versteht. Und wie viel dumpf-völkischen Separatismus wählt man mit, falls man sich gar aus klimapolitischen Gründen für die Grünen entscheidet?

Natürlich kann man sich damit trösten, dass die konkreten Befugnisse des Europäischen Parlaments bei allen wichtigen Themen gegen null tendieren, weil derartige Richtungsentscheidungen ohnehin von den Staats- und Regierungschefs und -chefinnen im Europarat getroffen und einer Sprechpuppe namens Kommissionspräsidentin in den Mund gelegt werden. Aber als Motivation für den Wahlgang am Sonntag taugt dieser Gedanke ja auch nicht.

Immerhin: Für den schnellsten Weg ins Wahllokal lässt sich die richtige Richtung mit der Routenplaner-App eindeutig bestimmen. Erst wenn man drinnen ist, gibt es keine verlässlichen Anhaltspunkte mehr, wohin die Reise gehen könnte.