Entprovinzialisierung in Halle. Die Martin-Luther-Universität liest Charlotte Wiedemann

Eine Uni, ein Buch, ein deutsches Bedürfnis

Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg widmete gleich in zwei Semestern eine Reihe von Veranstaltungen, Vorlesungen und Seminaren dem Buch »Den Schmerz der Anderen begreifen« von Charlotte Wiedemann. Darin fordert die Journalistin und Autorin eine neue, »empathische« Erinnerungskultur – und die Universität erhofft sich wohl, durch das Lesen des Buches ihrer empfundenen Provinzialität zu entfliehen. Denn die neue Erinnerungskultur, die Wiedemann ­vor­schwebt, steht ganz im Einklang mit dem Ziel der Wortführer des »Historikerstreits 2.0«, nämlich endlich den Ballast der deutschen Vergangenheit abzuwerfen und sich hemmungslos dem Antizionismus hinzugeben.
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Die deutsche Erinnerungskultur ist mehr Gedenktheater als ein Zeugnis von Erinnerung. In ihr drückt sich keine gelungene Aufarbeitung der Vergangenheit aus, sondern eine ­kulturindustrielle Ausschlachtung der Shoah zur moralischen Selbstbeweihräucherung der Deutschen. Das Wissen über die deutsche Vernichtung der europäischen Juden und den Nationalsozialismus scheint daher zu schwinden, was nicht zuletzt auch die vorherrschenden Meinungen ­widerspiegeln, dass die AfD die neue NSDAP sei und dass es sich bei dem ominösen Geheimtreffen einiger unangenehmer Zeitgenossen Anfang des Jahres in Potsdam um eine neue Wannseekonferenz gehandelt habe.

Dennoch ist die öffentlich praktizierte Holocaust-Erinnerung in Deutschland längst nicht mehr »die höchste Form des Vergessens«, wie es Eike Geisel Ende der achtziger Jahre noch treffend ausdrückte. Die gegenwärtig bedeutendsten Anwürfe gegen die Erinnerung an die Shoah kommen ausgerechnet von den engagiertesten Gegnern dieses deutschen Erinnerns. Das zeigt die seit 2020 in Deutschland geführte erinnerungspolitische Debatte, die auch als »Historikerstreit 2.0« Bekanntheit erlangt hat. Die Debatte wird immer wieder durch die Infragestellung des besonderen Charakters der Shoah entfacht.

Vorgebracht wird diese von Vertretern einer postkolonialen Holocaust-Deutung, wie etwa von dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Rothberg, dem australischen Historiker A. Dirk Moses und dem deutschen Historiker Jürgen Zimmerer. Ihre Kritik fußt auf dem Vorwurf, dass die deutsche Erinnerungskultur zu sehr auf den Holocaust fixiert sei. Sie wird als eine, so könnte man zusammenfassen, aus der Zeit gefallene Bastion einer verengten, von proisraelischen Kräften beeinflusste Sichtweise auf die Shoah präsentiert, die eine vergleichende Holocaust-Forschung verunmögliche und darüber hinaus »Kritik« an Israel tabuisiere. So verhindere ausgerechnet die Holocaust-Erinnerung eine von deutschen Befindlichkeiten losgelöste Debatte. Folglich fordern die postkolonialen Akademiker eine »Enttabuisierung des Vergleichs« der Shoah mit anderen Massenverbrechen und die Ermöglichung eines unbefangenen Antizionismus in Deutschland. In ihren Worten: ein Ausbrechen aus der »Provinzialität« Deutschlands und die Anpassung an die internationalen Standards in der Wissenschaft.

Maßgeschneidert für identitäre Linke

Die Martin-Luther-Universität (MLU) in Halle hat im vergangenen Sommer- und Wintersemester anschaulich gezeigt, welche Geltung dem ­Infragestellen des besonderen Charakters der Shoah inzwischen zukommt. Die MLU widmete beide Semester dem Buch »Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis« der Journalistin Charlotte Wiedemann. Es kommt selten genug vor, dass eine Universität ein einzelnes Buch zum Anlass nimmt, eine ganze Reihe von Veranstaltungen, eine Ringvorlesung und diverse andere Programme zu organisieren, mit dem Ziel, die gesamte Studentenschaft sowie Belegschaft zur Lektüre zu bewegen. Wenn dies, wie in Halle geschehen, ausgerechnet für ein Buch getan wird, das weder wissenschaftlich noch unvoreingenommen ist, sondern als ideologischer und politischer Angriff auf die Holocaust-Erinnerung verstanden werden kann, dann stellt sich die Frage, was die Verantwortlichen zu einer derartigen Auseinandersetzung motiviert.

Hintergrund ist die Prämierung der MLU im Wettbewerb »Eine Uni – ein Buch« des Stifterverbands und der Klaus-Tschira-Stiftung. Die hallische Hochschule bewarb sich dort im vergangenen Jahr mit dem genannten Buch von Wiedemann. Mit der Prämierung ging ein Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro einher, das die Uni zur Finanzierung des Projekts »Erinnerung in Komplexität. Weltgedächtnis und Solidarität« verwandte, das bis zum Sommersemester 2024 laufen soll. Im Rahmen dessen wurde eine Ringvorlesung unter gleichlautendem Titel veranstaltet. Dafür wurden, neben Wiedemann selbst, noch eine Reihe von anderen Referenten eingeladen, von denen allerdings weder Kritik noch sonstige Überraschungen zu erwarten ­waren.

Wiedemann, die wegen der Krise der Printmedien von der Auslands­korrespondentin zur Buchautorin umsatteln musste, hat alle schlechten Eigenschaften ihres alten Berufs in den neuen übernommen.

So handelte es sich ausschließlich um Vertreter des Postkolonialismus oder zumindest um Forscher, die Wiedemanns Buch als besonders lesenswert erachten. Neben dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, der über seine Apologie des postkolonialen Antisemitismus sprechen sollte, gehörte dazu beispielsweise der im deutschen intellektuellen Milieu hochangesehene Michael Rothberg, der als Stichwortgeber für linke Holocaustrelativierung betrachtet werden kann. Markant an dieser Ringvorlesung war, neben der unverhohlenen inhaltlichen Einseitigkeit, der Umstand, dass sie nur einen Monat nach dem größten antisemitischen Pogrom seit dem Holocaust eröffnet wurde.

Wiedemann, die wegen der Krise der Printmedien von der Auslandskorrespondentin zur Buchautorin umsatteln musste, hat alle schlechten Eigenschaften ihres alten Berufs in den neuen übernommen: von der Neigung zu einer eigentümlichen Verklärung der lokalen Verhältnisse bis hin zur immer wieder durchschimmernden Abneigung gegen den Westen. So lesen sich die Titel der von ihr verfassten Bücher wie maßgeschneidert für eine postkoloniale und identitäre Linke, die schon immer wusste, wer für das Unheil auf der Welt verantwortlich ist. So erschien 2012 ihr Buch »Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt«, 2019 »Der lange Abschied von der weißen Dominanz« und 2022 dann ihr jüngster Coup, »Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis«. Verfolgt man ihre Verlautbarungen auf sozialen Medien, wird auch recht schnell deutlich, dass Wiedemann ein für ihren ehemaligen Berufsstand nicht unübliches schwieriges Verhältnis zum jüdischen Staat pflegt.

Wiedemanns durch und durch belehrenden Ton hätte sie wohl auch in Tel Aviv angeschlagen, denn dort beabsichtigte sie bei einer vom Goethe-Institut und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Veranstaltung zu sprechen. Dem Ankündigungstext zufolge wollte sie den Israelis nahelegen, die sogenannte »Nakba« – die Flucht und Vertreibung palästinensischer Araber zwischen 1947 und 1949 – in das Gedenken an die Shoah mit aufzunehmen. Die Veranstalter hatten keinen besseren Termin für dieses Vorhaben finden können als den 9. November 2022, den 84. Jahrestag des Novemberpo­groms, weshalb es zu Protesten kam und das Ganze schließlich abgeblasen wurde. Wiedemann, die die Kontroverse um ihren Vortrag, in einem Anflug von Größenwahn, als ein Einknicken Deutschlands unter dem Druck der neuen israelischen Regierung verstand, verlangte sogleich eine »Neujustierung« der »deutschen Israelpolitik«.

Am 7. Oktober des vergangenen Jahres dann, als die israelischen Streitkräfte noch damit beschäftigt waren, israelische Zivilisten aus den Fängen des palästinensischen Mordkollektivs zu befreien und zahlreiche noch auf israelischem Boden befindliche Po­gromisten zu bekämpfen, setzte Wiedemann bereits einen Post auf X (ehemals Twitter) ab, in dem sie ihr »Mitgefühl« mit »allen in Israel-Palästina von Gewalt betroffenen Menschen« ausdrückte. Wer es nicht einmal fertig bringt, eine Orgie der Gewalt von unbeschreiblichem Ausmaß vollumfänglich zu verurteilen, und stattdessen indirekt sein Mitgefühl mit »von Gewalt betroffenen« palästinensischen Judenmördern ausdrückt, macht sich der klammheimlichen Sympathie für die Mörder verdächtig.

Begeisterung in Halle

Die Dekanin der Philosophischen Fakultät II der hallischen Universität, Susanne Voigt-Zimmermann, störte sich am 7. November 2023 dennoch nicht daran, in Wiedemanns Vor­lesung einzuleiten und über ihre Begeisterung für »Den Schmerz der Anderen begreifen« zu sprechen. Die für die Veranstaltung dieses Abends Verantwortlichen mussten jedoch, bevor sie Wiedemann reden lassen konnten, noch darauf hinweisen, dass Fragen und Anmerkungen zum »Nahost-Konflikt« unterbunden werden würden. Man war sich offenbar bewusst, dass eine Veranstaltung mit der Autorin in eine ungünstige Kon­troverse führen könnte. Da das durchweg gelobte und gepriesene Buch auf die Vertreter der Uni wie ein Erweckungserlebnis gewirkt haben muss, war an eine kritische Auseinandersetzung dann auch nicht zu denken, so dass die Ringvorlesung ohne Weiteres vonstatten gehen konnte. Die MLU hat sich damit, unter dem Vorwand, eine »Debatte« führen zu wollen, eindeutig positioniert zugunsten der postkolonialen Sichtweise auf den Holocaust und der Verdrängung des besonderen Charakters der Shoah Vorschub geleistet.

Warum ausgerechnet das Buch Wiedemanns an der MLU derartige Begeisterung auslöste und ihr in Halle mehrmals der rote Teppich ausgerollt wurde, erklärt eine der Hauptverantwortlichen für das Buchprojekt, die Romanistikprofessorin Natascha Ueckmann, in einem Interview mit dem Online-Magazin der Uni. Das Buch helfe dabei, »unser eurozentristisches und weißes Denken« zu überwinden. Es helfe auch, so Ueckmann weiter, »auf dem Weg zu einer Dekolonialisierung des Wissens und der Wissenschaft. Es ist sehr materialreich und zielt darauf, unser westliches Wissen gegen den Strich zu bürsten.«

Den Standort Deutschland beschreibt sie als besonders problembehaftet: »Deutschland hängt in der internationalen Forschung hinterher. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Togo waren erschüttert, als sie hörten, wie schwierig es ist, hierzulande über diese Themen zu sprechen. Insofern hoffe ich, dass das Buch von Charlotte Wiedemann eine Chance darstellt, uns noch mehr zu öffnen und anschlussfähig zu machen.«

Der andere Initiator des Projekts, Steffen Hendel, fügt hinzu: »Zur MLU passt das Buch, weil es eine besondere Qualität hat: Es ist ein Sachbuch, das von aktuellen Debatten der Öffentlichkeit ausgeht und mit Sachkenntnis und Gründlichkeit historisches Geschehen neu darlegt, so dass es in den universitären Fachbereichen anschlussfähig ist und zu einem gemeinsamen Nachdenken einlädt.« Auch die Rektorin Claudia Becker bestätigte bei der Auftaktveranstaltung des Buchprojekts, dass die Lektüre des Buches »etwas in Bewegung« bringe, so dass auch sie ihr »eigenes Erinnern reflektiert« habe.

Eine Frage subjektiver Empfindungen

Wiedemanns neuestes Buch, das wie ihre vorherigen ein »Potpourri aus Anekdoten, Mutmaßungen und Zuschreibungen« (Vojin Saša Vuka­di­no­vić) ist, will eine neue Erinnerungskultur anregen. Wenn es, wie es bei Ueckmann heißt, bei der Überwindung von »weißem«, »eurozentristischem« Denken helfe, so geht es dabei in allererster Linie um die Erinnerung an den Holocaust. Die Idee eines einzigartigen Charakters der Judenvernichtung ist Wiedemann zufolge bereits eine »kulturell eingeschränkte Erzählung«, ein Zeugnis »kolonialen Denkens«. »Die Frage, ob und wie sich koloniale Denkungsarten in die Betrachtung des Holocaust eingeschrieben haben, besonders in seine Klassifizierung als singulär, ist legitim«, meint sie. Ihre Argumentation im Buch stützt sich auf die durch nichts belegte Behauptung, dass die Holocaust-Erinnerung die Aufarbeitung der Kolonialverbrechen verhindert habe. Sie geht sogar so weit zu behaupten, dass sie dazu missbraucht worden sei, andere Leiderfahrungen zu degradieren, als hätte die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen nicht erst gegen eine indifferente Gesellschaft erkämpft werden müssen und als wären die Kolonialverbrechen nicht mit demselben Eifer unter den Teppich gekehrt worden, mit dem auch die Shoah aus dem Gedächtnis der Allgemeinheit getilgt werden sollte.

In Anbetracht dessen ist es bemerkenswert, dass Ueckmann in dem genannten Interview noch beteuert, Wiedemann wolle die Aufmerksamkeit auf andere Genozide lenken, »ohne die Singularität der Shoah in Frage zu ziehen«. Das ist schon eine dreiste Verlautbarung angesichts der Tatsache, dass Wiedemann durch das gesamte Buch hindurch bemüht ist, den besonderen Charakter der Judenvernichtung zu relativieren. Das fängt damit an, dass der Kern der NS-Ideologie, der Antisemitismus, bei ihr nur dann Erwähnung findet, wenn sie seine Besonderheiten leugnet und sich gegen seine Unterscheidung vom Rassismus ausspricht.

An einer einzigen Stelle im Buch schreibt sie, dass es ohne Zweifel einzigartige Charakteristika der NS-Verbrechen gebe – ohne freilich den Antisemitismus zu erwähnen –, ihre bemühte Anerkennung bestimmter Besonderheiten wird jedoch sogleich wieder kassiert: »Zurückgeworfen auf mich selbst, rufe ich noch einmal die Frage der Singularität auf. Die Antwort muss diesen Ort, muss ­Treblinka aushalten können. Wenn es eine empathische, rein persönliche Antwort geben darf, zögere ich nicht: Für mich selbst ist die Shoah einzigartig; in diesem Wort ist mein lebenslanges Erschrecken, mein Nichtfertigwerden aufgehoben.« Für sie selbst sei das möglich, weil sie Deutsche ist und weil ihr Vater ­NSDAP-Mitglied war. Aber: »Würde ich als Tansanierin, als Bosnierin oder Kambodschanerin den Holocaust einzigartig nennen wollen?« Das kann sie ihnen, plötzlich von kolonialem Denken beseelt, partout nicht zutrauen, weshalb es ihr ratsam erscheint, »dass alle auf diese Frage nur eine persönliche Antwort geben«. Sprich: Wie­demann macht aus einem objektiven Befund eine Frage subjektiver Empfindung.

Die MLU-Rektorin Claudia Becker bestätigte bei der Auftaktveranstaltung des Buchprojekts, dass die Lektüre des Buches »etwas in Bewegung« bringe, so dass auch sie ihr »eigenes Erinnern reflektiert« habe.

Weil Wiedemann in ihrem Buch so deutlich ist, besteht auch kein Zweifel daran, was die Verantwortlichen der MLU von der Holocaust-Erin­nerung halten und was sie an deren Stelle sehen möchten. Bezüglich der Frage, welche Lehre aus dem Holocaust gezogen werden soll, macht Wiedemann unmissverständlich klar, dass es ihr dabei nicht darum geht, sich länger mit historischen Details aufzuhalten. »Für die Allgemeinheit« komme es nur auf jene Aspekte der NS-Verbrechen an, auf die sich »Wohlmeinende einigen« könnten. Die daraus gezogene Lehre lautet dann, dass eine gewalttätige Aussonderung und Erniedrigung von Menschen stattgefunden habe, die mit sowohl vor als auch nach der NS-Zeit wirksamen historischen Prozessen zu tun habe und nicht nur auf Juden und Deutsche beschränkt sei. Es geht ihr also darum, ausschließlich das Verallgemeinerbare in Erinnerung zu behalten. Damit wird all das hinfällig, was an die Spezifik des deutschen Täterkollektivs und seine ideologische Mo­tivation und alles, was an die spezifischen – jüdischen – Opfer und ihre Leidensgeschichte erinnert. Es geht Wiedemann schlicht um eine weniger holocaust- und damit judenlastige Erinnerungskultur. Das ist der Grund, aus dem sie offenbar die jüngeren Generationen darum beneidet, dass diese »sich nicht so obsessiv wie ich mit den Details früherer Grausamkeit« plage.

Trendige Umformulierung

Es ist auch bemerkenswert, dass die Vertreter der Universität Halle an der offen antizionistischen Schlagseite des Buches keinen Anstoß nehmen. Wenn der Germanist Steffen Hendel die »besondere Qualität« des Buchs hervorhebt, das »mit Sachkenntnis und Gründlichkeit historisches Geschehen neu« darlege, darf man an der fachlichen Kompetenz dieses Sprachwissenschaftlers zweifeln. Hendel wertet mit seiner Erklärung nicht nur Wiedemanns ideologisch verbrämte Hauptthese, dass die Holocaust-Erinnerung andere Leiderfahrungen degradiere, zu einem diskutablen Sachverhalt auf. Er und die anderen Fans von Wiedemann verdeutlichen auch ihr Ein­verständnis mit den offenkundigen Falschbehauptungen und Verzerrungen historischer Tatsachen in Wiedemanns Kapitel über Israel und jüdische »Dissidenten«. Wiedemann erklärt dort beispielsweise, Israels »Besatzung« im Westjordanland erfülle »die internationale Definition von Apartheid«, weil für zwei Gruppen unterschiedliches Recht gelte, als bezeichne Apartheid kein System zur rechtlichen Trennung von Staatsbürgern nach Abstammung, sondern die in jedem Staat existente Ungleichbehandlung von Nicht-Staatsbürgern gegenüber Staatsbürgern.

Zudem spricht sie durchweg von der »Vertreibung der Palästinenser«, was aus historischer Sicht nicht einmal die halbe Wahrheit ist, sondern eine Geschichtsklitterung, die wesentliche Punkte auslässt: Die sogenannte »Nakba« war in erster Linie nicht der zionistischen Idee geschuldet, einen Staat mit jüdischer Mehrheit zu gründen, wie Wiedemann behauptet, sondern dem Vernichtungskrieg, den die arabischen Staaten noch am Tag der Staatsgründung Israels begannen. Ein beträchtlicher Teil der rund 700 000 geflüchteten Araber wurden nicht von jüdischen Streitkräften vertrieben, sondern ist auf Geheiß der arabischen Staaten geflohen, und von diesen geflüchteten Arabern ist sicherlich kein un­bedeutender Teil erst seit den zwanziger Jahren nach Palästina eingewandert.

Die wirkliche Crux an Wiedemanns Buch ist allerdings ein Wunsch, der sie immer wieder zu beschäftigen scheint und den sie nach Veröffentlichung ihres Buchs im Juli 2022 auf Twitter noch einmal unmissverständlich ausgedrückt hat: »Den Schmerz der Anderen begreifen: Ich plädiere dafür, die #Nakba in erweitertem Sinne als deutsche&geteilte Geschichte zu betrachten. Palästinenser* bezahlen bis heute den Preis für das Verbrechen unserer Vorfahren.«

Dass Wiedemann die Palästinenser auf eine Stufe mit den jüdischen Opfern des Holocaust stellt, ist schon deshalb problematisch, weil die in den dreißiger und vierziger Jahren führenden arabischen Kräfte in ­Palästina nicht nur eine ideologische Nähe zu den Nazis erkennen ließen, sondern auch eng mit ihnen kooperierten. So kann jeder, der es will, in Erfahrung bringen, dass der damalige Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, in die Judenvernichtung verwickelt war, und es ist schon lange bekannt, dass ehemalige Nazi-Schergen 1948 auf Seiten der Araber im ersten arabisch-israelischen Krieg kämpften, was die Araber Palästinas mitnichten zu indirekten Opfern der Nazis, sondern zu ihren Verbündeten macht.

Wiedemanns Forderung klingen schlicht wie eine trendige Umformulierung der aus der Nachkriegszeit stammenden linken »Schuldkult«-Legende.

Es ist aber auch und vor allem deshalb problematisch, weil ihre Forderung in einer antisemitischen Tradition steht. Was zuletzt auf der umstrittenen Ausgabe der Weltkunstausstellung Documenta in Kassel 2022 auf Plakaten zu lesen war, neben »Free Palestine from German guilt« nämlich auch »Nakba is a part of Erinnerungskultur«, klang in den sechziger und siebziger Jahren, zum Beispiel von den Tupamaros Westberlin so: »Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden.«

Und den versuchten Massenmord an Juden bei einer Gedenkveranstaltung in einem jüdischen Gemeindehaus in Berlin 1969 begründete die linksterroristische Gruppe Tupamaros Westberlin damit, dass das »bisherige Verharren der Linken in theoretischer Lähmung bei der Bearbeitung des Nahost-Konflikts Produkt des deutschen Schuldbewusstseins« sei.

Wiedemanns Forderung klingen schlicht wie eine trendige Umformulierung der aus der Nachkriegszeit stammenden linken »Schuldkult«-Legende, der zufolge das deutsche Schuldbewusstsein für die NS-Verbrechen einer notwendigen »kritischen« Haltung zu Israel im Wege stehe. Der einzige Unterschied ist, dass man sich heutzutage nicht mehr des Holocaust-Gedenkens an sich entledigen will. Mit der Forderung, die »Nakba« zu einem Teil deutscher Erinnerungskultur zu machen, trachtet man vielmehr danach, den Holocaust allmählich aus dem Gedächtnis zu verdrängen und sich damit selbstverständlich auch von der als unzumutbar empfundenen Verpflichtung dem jüdischen Staat gegenüber zu trennen. Die »Schonzeit« für Israel soll nach Wiedemann endlich ein Ende haben: »Täusche ich mich, oder war das Spektrum zulässiger Ansichten über Israel früher breiter?«

Wer sich von alledem unbeeindruckt zeigt und Wiedemann gleichwohl für eine sachkundige und gründlich arbeitende Beobachterin des Zeitgeschehens hält, den dürfte wohl auch das folgende, in ihrer Taz-Kolumne von Januar 2024 Fabulierte nicht zur Besinnung bringen: »In meiner Nachbarschaft, jeden Tag gehe ich daran vorbei, ein Wandgemälde in düsteren Grautönen, es ­bedeckt die ganze Höhe einer seitlichen Hauswand. Ein Kind im Tunnel, hohläugig vor Angst, mit einem Luftballon als Signal an die Außenwelt. Nur selten halten Passanten inne, das jüdische Geiselkind scheint unsichtbar in seiner grauen Einsamkeit. Weil das Symbol des Luftballons bekannt ist aus Darstellungen paläs­tinensischer Kinder, ihrer anderen Art von Eingeschlossensein, verschwimmen meine Assoziationen. Jeden Tag verlieren in Gaza zehn Kinder ihre Beine. Alles sträubt sich, diesen Gedanken zuzulassen. Gefühle sind nicht gerecht, und Solidarität ist schon vom Wesen her nicht ausgeglichen.«

Der Abschnitt bezeugt nicht nur die sich gegen jede Vernunft sträubende Hartnäckigkeit antijüdischer Ressentiments: die an ihrer Absurdität kaum zu überbietende Gleichung mit den Kindern im Gaza-Streifen, die täglich ihre Beine verlieren würden, ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die mittelalterliche Ritualmordlegende in eine Legende vom »Kindermörder Israel« – oder eben »Kinderverstümmler Israel« – übergegangen ist. Er zeigt auch sehr anschaulich, wofür Wiedemanns Buch »Den Schmerz der Anderen begreifen« konsequenterweise steht: für die totale Unfähigkeit zur Unterscheidung. Schließlich ist die zentrale Lehre, die Wiedemann in ihrem Buch aus dem Holocaust zieht, dass es »keine unterschiedlichen Wertigkeiten von Leben« gebe, denn in »unserer« Wahrnehmung dürfe die eine Leid­erfahrung die andere nicht in der Bedeutung überwiegen.

Wiedemanns »empathisches« Erinnern ist folglich erstaunlich kompatibel mit dem Erinnerungsansatz einer Erika Steinbach oder von ­Gedenkinitiativen für die Opfer des Dresdner »Bombenholocaust«, die meinen, dass es vollkommen legitim sei, auch über das Leid der deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs zu reden. Geht es der klassischen rechten Holocaust-Relativierung darum, nicht mehr über den »Vogelschiss in der über 1 000 Jahre erfolgreichen deutschen Geschichte« reden zu müssen, so darf Wiedemanns Buch als Ansinnen verstanden werden, nicht mehr über die deutsche Vernichtung der europäischen Juden, nicht über Antisemitismus und nicht über antisemitische Massenmörder arabisch-islamischer Couleur sprechen zu müssen. Stattdessen will sie unbekümmert über den jüdischen Staat herziehen können, ohne sich den Vorwurf des Antisemitismus einzufangen.

Am Rand des »Weltgedächtnisses«

Von dieser Warte aus ist es interessant, noch einmal die Frage aufzuwerfen, was »Den Schmerz der Anderen begreifen« für die Verantwortlichen an der MLU so attraktiv macht. Immer wieder haben sie betont, dass Wiedemanns Buch einen längst überfälligen Anschluss an die internationale Forschung ermögliche, dass sie darin einen Ausweg aus der als provinziell wahrgenommenen Sonderstellung Deutschlands sehen.

In Zeiten von unterfinanzierten Hochschulen, projektbasiertem Arbeiten und prekären Beschäftigungsverhältnissen im Wissenschaftsbetrieb müssen sich Universitäten und Forscher anders als nützlich erweisen als durch ein breites Forschungsangebot und profunde Wissenschaft. Sie müssen, wie es im Jargon des postmodernen Kapitalismus heißt, ihre Bereitschaft unter Beweis stellen, sich den ständig wechselnden Anforderungen und Trends anzupassen, flexibel sein und anschlussfähig bleiben, um nicht aus der Zeit zu fallen. In diesem Kontext ist auch die zunehmende Dominanz des Postkolonialismus an vielen Hochschulen zu verstehen. Es ist die zeitgemäße Ideologie, die die Selbstdemontage und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust des Westens und den wirtschaftspolitischen Aufschwung des sogenannten »Globalen Südens« – allen voran Chinas – versinnbildlicht.

Mit dem Postkolonialismus hat auch der diesem immanente Antisemitismus in den westlichen Hochschulen Einzug erhalten. Welche Ausmaße das mittlerweile angenommen hat, verdeutlichen nicht zuletzt die Reaktionen auf den 7. Oktober 2023, als der barbarische Blutrausch der palästinensischen Kindermörder-Sekte Hamas von diversen Studentenorganisationen und Dozenten offen und frei heraus als Akt der »Dekolonisierung« gefeiert wurde. Wenn die Präsidentinnen einiger der weltweit renommiertesten Hochschulen – selbst im Wissen um den Verlust ihrer ehrwürdigen Ämter – nicht in der Lage sind, die dort getätigten Aufrufe zur Vernichtung der Juden zu verurteilen, die Verurteilenswürdigkeit des Massenmords an den Juden stattdessen vom vielbeschworenen »Kontext« abhängig machen, sollte ein für alle Mal klar werden, dass es sich hierbei nicht mehr nur um Randerscheinungen an einzelnen Fakultäten, sondern um ein den gesamten Hochschul- und Kultur­betrieb umfassendes Fanal handelt.

Immer wieder haben die Verantwortlichen der MLU betont, dass Wiedemanns Buch einen längst überfälligen Anschluss an die internationale Forschung ermögliche, dass sie darin einen Ausweg aus der als provinziell wahrgenommenen Sonderstellung Deutschlands sehen.

Vor diesem Hintergrund ist auch der Wunsch zu verstehen, als international ausgerichtete Bildungseinrichtung die Sichtweise auf den Holocaust den internationalen Standards anzupassen. Was bedeutet: die relativierende und verharmlosende Sichtweise der postkolonial-theoretischen Holocaust-Deutung zu übernehmen. Mit Blick auf die jüngsten Manifestationen des antisemitischen Wahns – wie etwa an der niederländischen Hochschule Utrecht für angewandte Wissenschaften, wo der »propalästinensische« Aktivismus es Ende Januar gar bewerkstelligte, Seminare über den Holocaust zeitweise zu verhindern –, hat der Bedeutungszuwachs postkolonialer Theorien vor allem zur Folge, dass die Judenvernichtung mehr und mehr in die Randbezirke des sogenannten »Weltgedächtnisses« gedrängt wird.

Dieser Bedeutungszuwachs hat für die Wissenschaftler hierzulande noch einen besonderen Vorteil: Er bedient ein zutiefst deutsches Bedürfnis. Die relativierende postkoloniale Sichtweise auf den Holocaust ermöglicht es, den erdrückenden Ballast der Vergangenheit abzuwerfen. Dass Deutschland im Vergleich zum Rest der Welt eine Sonderstellung einnimmt, wenn es um Juden, die Shoah und Israel geht, haben die Deutschen in erster Linie sich selbst und ihrem Zivilisationsbruch zu verdanken. Da ein Blick in die Geschichte gezwungenermaßen daran erinnert, werden die NS-Geschichte und der Holocaust in den Augen karrierebewusster Forscher zu einem Hindernis auf dem Weg zu internationaler Anerkennung. Sie müssen ­daher entweder geleugnet oder eben relativiert werden. Die Forderungen nach mehr Multikulturalismus, einer Öffnung für die Belange der »Anderen« und einem »Weltgedächtnis« entstammen daher auch dem sehr deutschen Bedürfnis, weniger »deutsch« zu sein.

Mittlerweile besteht auch kein mehr Zweifel daran, dass die Angriffe gegen die Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden, die von der hallischen Uni ausgegangen sind, keiner kurzweiligen Laune einiger um ihren Aufstieg bemühter Akademiker geschuldet sind. Sie sind Programm, wie die mit Akkreditierungsproblemen begründete Abschaffung der Judaistik als separater Studiengang zeigt. Seit dem Wintersemester 2023/24 sind die Jüdischen Studien in den neu gegründeten ­Allerweltsstudiengang »Migrations-, Minoritäten- und Diasporastudien« integriert. Die Zustände an der MLU gesellen sich damit in das bezeichnende Bild einer deutschen Hochschullandschaft, in der die Universität nicht mehr als ein Ort verstanden wird, an dem gesellschaftliche Debatten ausgefochten werden, sondern als eine Kaderschmiede und Hochburg für akademisch-aktivistische »Denk-«Strömungen.

Für Juden sind Hochschulen zuweilen zu lebensbedrohlichen Orten geworden, an denen sie bedrängt und geschlagen werden, an denen unbekümmert zur Intifada aufgerufen und der Hass auf Israel ausgelebt werden kann. All das zeigt, dass das, ­wofür Wiedemanns Buch steht, nämlich eine weniger judenlastige Erinnerungskultur zu etablieren, bereits seine praktische Umsetzung im Wissenschaftsbetrieb gefunden hat: im Namen von Diversität und Teilhabe werden Universitäten allmählich wieder zu »judenreinen« Einrichtungen.