Eine Vorstellung des Bandes »Ein Verbrechen ohne Namen«

Der Katechet des Unsinns

Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner und Jürgen Habermas beziehen mit dem Band »Ein Verbrechen ohne Namen« im derzeitigen Historikerstreit Stellung.

Es ist nur ein kleines Bändchen, das sich schnell lesen lässt. Allerdings kann man die Ausführungen kaum verstehen, wenn man nicht tief in die derzeit tobende Debatte einsteigt, die als »Historikerstreit 2.0« gehandelt wird. Der Untertitel des Buchs »Ein Verbrechen ohne Namen« liefert einen kleinen Hinweis: »Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust«.

Der Titel selbst ist ein Zitat von Winston Churchill, der das Morden deutscher Polizeieinheiten in Russland im Jahr 1941 als »Verbrechen ohne Namen« bezeichnete. Die ­Begriffe Holocaust und Shoah waren damals noch nicht geläufig. Auschwitz sollte den Betrieb als Vernichtungslager erst noch aufnehmen. Das Bändchen versammelt Einwürfe und Stellungnahmen von vier renommierten Personen aus der Holocaust-Forschung: von Saul Friedländer, Sybille Steinbacher, Norbert Frei und Dan Diner. Statt eines Vorworts steuert der Philosoph Jürgen Habermas ebenfalls einen Beitrag bei.

Norbert Frei hält Dirk Moses’ Mixtur aus »derber Polemik und aktivistischer Agenda« für sehr attraktiv nicht nur »für Verfechter linker Identitätspolitik«, sondern auch für die »intellektuelle Rechte«.

Die Debatte, die Anlass der Veröffentlichung ist, begann am 30. März 2021. Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg veröffentlichten an diesem Tag in der Zeit einen Artikel mit der Überschrift »Enttabuisiert den Vergleich!« Es ließ sich erahnen, welcher Vergleich gemeint war. »Das Verbot jedes Vergleichs und In-Beziehung-Setzens führt zu einer Herauslösung der Shoah aus der Geschichte und hat weitreichende Folgen«, schrieben die Autoren. Die Aufarbeitung des Kolonialismus erhalte keinen Raum. »Es geht um nicht weniger als um die Abwehr einer Debatte über koloniale Verbrechen«, postulierten sie und forderten eine »Ethik des Vergleichs« und eine »multi­direktionale Erinnerung«.

Kurze Zeit später legte der austra­lische Historiker Dirk Moses im Internet-Portal »Geschichte der Gegenwart« mit seinem »Katechismus der Deutschen« nach. Es sei an der Zeit, dass sich die Deutschen von jenem ›Katechismus‹ verabschiedeten, der ihnen von selbsternannten »Hohepriestern« verordnet worden sei, schrieb Moses. Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch und »heiliges Trauma« sei omnipräsent, jeder Vergleich mit anderen Genoziden oder Kolonialverbrechen gelte als »Abfall vom rechten Glauben«. Etabliert habe sich diese These von der Singularität des Holocaust in dem Jahrzehnt nach dem ersten Historikerstreit von 1986/1987. Linke und Liberale in der alten Bundes­republik hätten damals alles daran gesetzt, von »amerikanischen, britischen und israelischen Eliten« akzeptiert zu werden.

Ernst Nolte hatte den Historikerstreit der achtziger Jahre mit seinem Aufsatz »Vergangenheit, die nicht vergehen will« ausgelöst. »War nicht der ›Klassenmord‹ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ›Rassenmords‹ der Nationalsozialisten?« hatte er darin gefragt und ­nahegelegt, der Vernichtungskrieg der Nazis sei eine Abwehrmaßnahme gegen die vernichtungswütigen Bolschewiki und der Holocaust eine »asiatische Tat« nach dem Vorbild des Gulag-Systems gewesen. Ein Sturm der Entrüstung folgte. Auch Habermas schaltete sich damals ein und warf Nolte vor, die Naziverbrechen zu verharmlosen.

Erst nach dem Abflauen dieses Historikerstreits etablierte sich der Forschungszweig, in dem Moses tätig ist: Die Genozidforschung oder vergleichende Völkermordforschung ist jung und erlebte nach den genozi­dalen Verbrechen in den Jugoslawien-Kriegen einen Aufschwung. In den folgenden Jahrzehnten rückten die Kolonialverbrechen in den Fokus des Forschungszweigs. Diese Aufmerksamkeit machte sich ganz allmählich auch in Deutschland bemerkbar. Im Jahr 2015 bezeichnete dann das Auswärtige Amt die von der deutschen Kolonialmacht begangenen Massaker an den Ovaherero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 in einem offiziellen Dokument erstmals als Völkermord.

In diesem Gesamtzusammenhang muss man die Beiträge in dem nun erschienenen Band verorten. Habermas eröffnet das Buch mit einer deutlichen Stellungnahme. Er weist zunächst darauf hin, dass historische Tatsachen ohne Weiteres verglichen werden können – »aber der Sinn des Vergleichs hängt vom Kontext ab«. Es gebe eben keine eindeu­tige Verbindung zwischen dem Völkermord an den Ovaherero und Nama und der Shoah. Der organisierte Mord an den europäischen Juden sei kein kolonialer Akt gewesen, ­sondern die »ausnahmslose Auslöschung« einer Bevölkerungsgruppe. Die Juden seien ermordet worden »aus dem einzigen Grund, weil sie Juden waren«. Diese Aggression habe sich »nicht nach außen gegen Fremde«, sondern gegen »innere Feinde« gerichtet – im Fall der deutschen Juden gegen »die eigenen Bürger«.

Saul Friedländer schließt sich in seinem Aufsatz dieser Sichtweise an und beschreibt noch einmal explizit die historischen Besonderheiten der Shoah. Er weist zunächst auf die jahrtausendealten antisemitischen Stereotype hin, die den Nährboden für den pseudowissenschaftlichen und rassenideologischen Antisemitismus schufen. Die Zwangsarbeit der Juden als kolonialen Akt zu kategorisieren – ähnlich wie andere Kolonialverbrechen, die mit Sklaverei einhergingen –, weist Friedländer mit Verweis auf die Wannsee-Konferenz zurück: »Zwangsarbeit war eine vorübergehende Phase auf dem Weg zur totalen Vernichtung.« Dem von Moses vorgebrachten Vorwurf, einen Katechismus zu befolgen, tritt er ebenfalls entschieden entgegen und beschreibt die Entwicklung der Erinnerungspolitik in Deutschland über drei Generationen, die eben nicht den Charakter eines »Katechismus«, sondern sich mit vielen Wendungen entwickelt habe.

Als vierte Glaubensregel, die von den Deutschen befolgt werde und zu kritisieren sei, führt Moses in seinem »Katechismus der Deutschen« an: »Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet.« Als fünfte folgt: »Antizionismus ist Antisemitismus.« Den 2019 gefassten Beschluss des Bundestags mit dem Titel »BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«, der sich gegen die Boykottbewegung gegen Israel, gegen ­israelische Waren und Dienstleistungen, israelische Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Sportlerinnen und Sportler richtete, hält Moses für ein »unheilvolles Signal«.

Friedländer geht auf diesen Aspekt ein und warnt eindringlich davor, die Themen Kolonialismus, Holocaust und den Vorwurf zu vermengen, ­Israel sei ein moderner Kolonialstaat. Er sieht darin die Gefahr, dass eher der Antisemitismus erstarke, als dass eine Aufarbeitung des Kolonialismus stattfinde, und macht dies unter anderem an der Bewegung Black Lives Matter fest: »Der Antisemitismus in den USA aber hat im Zuge der jüngsten Proteste beunruhigende Ausmaße angenommen. Gewaltsame Massenausbrüche von Judenhass sind in den Vereinigten Staaten relativ neu. Leider scheinen sie inzwischen eine recht häufige Begleiterscheinung von Black-Lives-Matter-Demonstrationen zu sein.« Zudem grenze sich Black Lives Matter nicht genug von der BDS-Bewegung ab.

Norbert Frei geht in seinem Beitrag »Deutsche Vergangenheit und postkoloniale Katechese« ausführlich auf die Thesen von Moses ein. Er zeigt noch detaillierter als Friedländer auf, wie sich die Erinnerung an die Shoah und die Auseinandersetzung über sie in Deutschland ab 1945 entwickelt haben. Dabei wird zum einen deutlich, wie lange es dauerte, bis die umfassende Dimension der nationals­ozialistischen Verbrechen aufgearbeitet wurde, zum anderen, dass es kein verordnetes Gedenken gibt, sondern immer wieder erinnerungs­politische Debatten.

Frei hält Moses’ Mixtur aus »derber Polemik und aktivistischer Agenda« für sehr attraktiv nicht nur »für Verfechter linker Identitätspolitik«, sondern auch für die »intellektuelle Rechte«. Der Weg zur Rede vom »Auschwitz-Mythos« und »Schuldkult« ist nicht weit, wie er an einem Beitrag aus der neurechten Zeitschrift Sezession aufzeigt.

Sybille Steinbacher kritisiert ­Moses ebenfalls scharf. Dessen Rede von »selbsternannten Hohepriestern« weist sie als »Unsinn« zurück. Diese Metapher transportiere ganz unverhohlen »das Stereotyp von den verschwörerischen Einflüssen und Machtpositionen der Juden«, sei ein Hohepriester doch »höchster Repräsentant des jüdischen Volkes, in der christlichen Tradition Gegenspieler von Jesus und Personifikation der heimlichen Macht des Judentums«.

Dabei lehnt Steinbacher die Debatte über den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Holocaust nicht ab. »Dass sie angestoßen wurde, war ein Gewinn«, schreibt sie. Über die kontinentalimperialistischen Bestrebungen der NS-Führung und die Frage, welche Rolle der Ostfeldzug in diesem Rahmen spielte, zu diskutieren, hält sie für lohnend – das »Empörungstheater« von Moses hingegen für überflüssig.

Dan Diner beschließt das Bändchen. Ihm geht es um das »kognitive Entsetzen«, das Auschwitz ausgelöst habe und das vom »Charakter der Tat« herrühre: »nämlich das mit ihr einhergehende fundamentale Dementi sonsthin gültiger anthropologischer Gewissheiten über menschliches Handeln«. Deshalb komme dem Holocaust das »Kennzeichen des Zivilisa­tionsbruchs« zu. Ihn anhand »eines durch ›Auschwitz‹ den Opfern zugefügten ultimativen Vernichtungs­todes« von Kolonialverbrechen zu unterscheiden, bedeute nicht, das ­jeweils erlittene Leid als ethisch verschieden zu qualifizieren und somit herabzusetzen. Es gebe keine »Richterskala des Leidens«.
Das Buch ist ein wichtiger Einwurf in die derzeitige Debatte. Die Beschäftigung mit dem eher durch antisemitische Topoi denn durch faktenreiche Analyse geprägten »Deutschen Katechismus« hätte aber kürzer ausfallen können. Sie gibt einem provokant pöbelnden Moses mehr Raum als erforderlich.

Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner und Jürgen Habermas: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkung zum neuen Streit über den Holocaust. C. H. Beck, München 2022, 94 Seiten, 12 Euro