Bidens improvisierter Masterplan
Sind die »Bidenomics« mehr als ein neues buzzword der PR-Abteilung des Weißen Hauses? Der Präsident jedenfalls wirbt mit dem Begriff, der ihm zur Wiederwahl im kommenden Jahr verhelfen soll. Die »Bidenomics« stellten einen »fundamentalen Bruch« mit den sogenannten Reaganomics, der neoliberalen Politik seit den achtziger Jahren, dar, die auf Steuererleichterungen für Konzerne und Reiche, ungehindertem Freihandel und dem Laissez-faire des Marktes basiert hätten, dozierte Joe Biden in einer Rede in Chicago.
Die neue Wirtschaftsstrategie leite drei »fundamentale Änderungen« ein: staatliche »kluge Investitionen in Amerika«, die »Weiterbildung und Stärkung der amerikanischen Arbeiter«, um hierdurch die middle class zu verbreitern, und die »Förderung von Konkurrenz, um Kosten zu senken und kleinen Unternehmen zu helfen«. Bidens weiteren Ausführungen zufolge bestehen »Bidenomics« aus keynesianischen Konjunkturprogrammen, die mit Protektionismus einhergehen und auf die Reindustrialisierung der USA abzielen, einer Stärkung der Rolle der Gewerkschaften sowie dem Kampf gegen Monopole und Oligopole in der Wirtschaft.
Die Medien haben den Begriff dankbar aufgegriffen. Die Financial Times sah in den »Bidenomics« nicht weniger als das Walten des Hegel’schen Weltgeistes, der nun in einer historischen Umwälzung global das »Pendel der Geschichte« vom Neoliberalismus zur aktiven »Industriepolitik und der Regierungsaufsicht über Märkte« ausschlagen lasse. Nach Ansicht des New York Magazine hat die Regierung Biden gar den »Tod des Neoliberalismus« eingeläutet, während The Atlantic bereits einen neuen postneoliberalen »Washingtoner Konsens« aufscheinen sieht, der durch »ökonomischen Nationalismus« geprägt sei.
Spätestens mit der Covid-19-Pandemie hat sich das neoliberale Modell der Krisenverwaltung erschöpft hat, der derzeitige wirtschaftspolitische Umschwung stellt eine Reaktion darauf dar.
Zutreffend an diesen Einschätzungen ist, dass sich spätestens mit der Covid-19-Pandemie das neoliberale Modell der Krisenverwaltung erschöpft hat und der derzeitige wirtschaftspolitische Umschwung eine Reaktion darauf darstellt. Privatisierungsoffensiven zwecks Erschließung neuer Verwertungsfelder, Globalisierung und Freihandel, wuchernde Finanzmärkte und Finanzblasenökonomie – diese neoliberalen Strategien, die sich in Reaktion auf die Stagflation der siebziger Jahre weltweit durchsetzten, galten nur deshalb jahrzehntelang als Erfolgsrezepte, weil das Weltsystem seit den Achtzigern in steigendem Maß auf Pump läuft. Die globale Verschuldung stieg schneller als die Weltwirtschaftsleistung, wobei gerade die USA – dank des US-Dollars als Weltleitwährung – als wichtigster Absatzmarkt immer größere Handelsdefizite und Schuldenberge anhäuften.
Die Exportüberschüsse Chinas und Deutschlands bilden somit die Kehrseite der Deindustrialisierung der USA in einem Weltsystem, das die Krise des an seiner Produktivität erstickenden Kapitals nur durch kreditfinanziertes Wachstum, durch den Vorgriff auf künftige Verwertung, aufschieben konnte. Dieser mit der Erosion der US-Mittelschicht einhergehende Prozess fand nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 seinen politischen Niederschlag: den Erfolg des faschistoiden Rechtspopulisten Donald Trump, der in den schwärzesten Tönen vom Niedergang der USA und insbesondere ihrer Industrieregionen sprach. Biden hat Trumps Rhetorik einer angestrebten Reindustrialisierung der USA übernommen, kombiniert das, anders als Trump, aber mit der Parteinahme für Gewerkschaften und der staatlichen Förderung von auf erneuerbarer Energien basierenden Industriezweigen.
Einen noch gewichtigeren Einfluss auf Bidens Wirtschaftspolitik hatte jedoch der starke Anstieg der Inflation ab 2021. Die Notenbanken mussten sich nun zwischen Inflationsbekämpfung und Konjunkturförderung entscheiden. Um die Inflation in den Griff zu bekommen, erhöhten die US-Notenbank Federal Reserve und die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins. Das Wachstum der vergangenen Jahre, das durch die Liquiditätsblase auf den Finanzmärkten, die die Notenbanken durch ihre expansive Geldpolitik immer weiter aufblähten, droht an sein Ende zu kommen. Es droht sogar eine Rückkehr der Stagflation – niedriges Wachstum begleitet von anhaltender Inflation.
Große staatliche Wirtschaftsförderprogramme sollen der drohenden Stagnation entgegenwirken. 2021 verabschiedete der Kongress auf Bidens Initiative in Reaktion auf die Pandemie den American Rescue Plan, um mit 1,9 Billionen US-Dollar ein konjunkturelles Strohfeuer zu entfachen. Im vergangenen August folgten Subventionen und Fördergelder für die Mikrochipindustrie in Höhe von insgesamt 52,7 Milliarden US-Dollar (Chips and Science Act) und schließlich der 500 Milliarden umfassende Inflation Reduction Act, der Investitionen in Infrastruktur und Branchen im Bereich der erneuerbaren Energien vorsieht – und mit buy American-Klauseln gespickt sei, jammerte man insbesondere in der EU.
Es dürften tatsächlich gerade diese in den Konjunkturpaketen enthaltenen Vorgaben sein, die zur Verdopplung der Industrieinvestitionen in den USA seit 2021 geführt haben. Dem Weißen Haus zufolge kündigten Industrieunternehmen seit Bidens Amtsantritt Investitionen von insgesamt knapp 500 Milliarden US-Dollar an, davon 231 Milliarden in der Halbleiterproduktion.
Der Drang zum Staatsinterventionismus in Reaktion auf Krisenschübe ist nicht neu. Die nun einsetzende Krisenphase erinnert an die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, als der große Crash von 1929 in nahezu allen Metropolenländern eine Hinwendung zu Protektionismus und Nationalismus auslöste. Noch bei der Reaktion auf den Krisenschub 2007/2008 war man diesbezüglich eher vorsichtig, das scheint nun aufgrund der sich zuspitzenden sozialen Widersprüche und der Verschärfung des internationalen Konkurrenzkampfes zwischen den Industriestandorten vergessen. Die Konjunkturmaßnahmen und die Investitionspolitik der Regierung Biden sind gerade deswegen durchaus erfolgreich, weil sie die von der EU beklagte protektionistische Komponente aufweisen – und weil dieser Protektionismus noch nicht verallgemeinert, noch nicht zum neuen »Washingtoner Konsens« wurde und die EU ihm bisher keine entsprechenden Maßnahmen entgegensetzt.
Die Konjunkturmaßnahmen und die Investitionspolitik der Regierung Biden sind gerade deswegen durchaus erfolgreich, weil sie die von der EU beklagte protektionistische Komponente aufweisen.
Trotz des mit den »Bidenomics« in Zusammenhang gebrachten Aufschwungs in den USA (sinkende Inflation, Aufschwung der Aktienmärkte, robustes Wachstum statt Rezession) sieht sich einer CNN-Umfrage zufolge eine Mehrheit von 51 Prozent der Befragten »weiterhin im Abschwung«, wobei nur 37 Prozent der Befragten die Wirtschaftspolitik des Präsidenten gutheißen. Kein Wunder, waren doch die sozialpolitischen Komponenten der Pandemie-Konjunkturpakete kurzfristig angelegt, weswegen ihre Wirkung längst verpufft ist, während die neuen industriepolitischen Programme von Biden nur deswegen durchgesetzt werden konnten, weil er auf die Interessen der wichtigsten Kapital-Lobbys Rücksicht nahm.
Politisch sind die »Bidenomics« nicht nur eine Antwort auf Trumps Populismus, sondern auch auf die Forderungen der sozialdemokratischen und sozialistischen Linken mit ihrer Galionsfigur Bernie Sanders, der im vergangenen Vorwahlkampf 2019 gegen Biden ein sozioökologisches Transformationsprogramm namens »Green New Deal« von 16 Billionen US-Dollar verlangt hatte – eine gigantische Summe, aber der Krisendimension angemessen. Biden plädierte seinerzeit für Programme von rund vier Billionen – daraus ist nach einer Reihe von Blockaden der Republikaner und den entsprechenden Kompromissen der protektionistisch ausgerichtete Inflation Reduction Act im Umfang von 500 Milliarden US-Dollar geworden.
In dieser Hinsicht, als reformistische Antwort auf die ökologische und ökonomische Krise des Kapitals, handelt es sich bei den »Bidenomics« um kaum mehr als eine Ansammlung krisenbedingter Ad-hoc-Maßnahmen, die als politische Strategie verkauft werden. Den »Bidenomics« – dem, was von den sozialdemokratischen Blütenträumen von der Reformierbarkeit des Kapitalismus übrig bleibt, nachdem deren Vertreter ihren Gang durch die Institutionen der Washingtoner Politmaschine absolviert haben – mag es dennoch gelingen, die Krisenfolgen zeitweise auf die internationale Konkurrenz abzuwälzen. Bis diese in Sachen Protektionismus nachzieht.