Trotz guter Wirtschaftsdaten sind viele Bürger mit Präsident Bidens Wirtschaftspolitik unzufrieden

Biden macht die Arbeitskraftverkäufer nicht glücklich

Irrational sind nicht so sehr die Wähler, wenn sie trotz guter Wirtschaftsdaten Präsident Joe Biden nicht wiederwählen wollen, sondern die Wahl, vor der sie stehen. Denn Wählen heißt immer schon, gegen die eigenen Interessen zu stimmen.
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Vor einigen Jahren war in der Politikwissenschaft die sogenannte »realistische Demokratietheorie« groß in Mode. All die hehren Worte vom »mündigen Staatsbürger«, besagte die, seien nichts als Augenwischerei. Über den Ausgang von Wahlen entscheide nicht die politische Debatte über Programme, nicht einmal das Charisma des jeweiligen Personals, sondern ein bloßes Reiz-Reaktions-Muster: Stimmt die Kasse, wird die Regierung wiedergewählt, läuft der Laden schlecht, dann eben nicht – und zwar ganz unabhängig davon, ob die Regierenden für die missliche Lage auch nur ansatzweise verantwortlich zu machen sind.

2020 hatten daher Adepten dieser Theorie für alle Bestrebungen, die Wahl zwischen Donald Trump und Joe Biden zu einer über Autoritarismus versus Freiheit zu erklären, nur müden Spott übrig. »Demokratie«, »Würde«, »Freiheit« – mit solchen luftigen Parolen, die sich nicht im Geldbeutel bemerkbar machten, könne man nun wirklich keine Wähler an die Urne locken.

Stimmte die Theorie, sollte die Wiederwahl Bidens 2024 kein Problem darstellen. Die Warnungen vor einer Rezession im vergangenen Jahr haben sich nicht bewahrheitet. Alle ökonomischen Kennziffern besagen, dass es der Mehrheit der US-Amerikaner vergleichsweise passabel geht: Die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tiefstand; die Inflation liegt signifikant niedriger als in den meisten anderen Industrienationen; die Reallöhne steigen nach drei Jahren endlich wieder und mit ihnen auch der consumer confidence index, die Bereitschaft der Leute, Geld auszugeben.

Könnte man also künftige Wahlergebnisse aus den Wirtschaftsdaten ablesen, müsste Biden sich keine Sorgen machen. Muss er aber doch. In allen Umfragen liegen Biden und Trump mehr oder minder gleichauf, und insbesondere die Wirtschaftspolitik stellt demnach Bidens Achillesferse dar. Die Zahl derjenigen, die überzeugt sind, dass es für die USA ökonomisch bergab gehe, liegt regelmäßig bei 60 Prozent und mehr; die Hälfte der Wähler ist gar überzeugt, dass sich das Land in einer akuten Krise befinde. Mit politischer Polarisierung allein ist das nicht zu erklären.

Bidens Berater trösten sich damit, die Leute seien durch die Krisen der vergangenen Jahre viel zu sehr verunsichert, als dass sie den Zeichen der Besserung allzu schnell vertrauen würden; es brauche eben seine Zeit, bis der objektive Trend sich auch im Bewusstsein der Menschen widerspiegele. Ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht. Während die Mehrheit die Lage im Land insgesamt eher düster einschätzt, sehen die meisten, wenn es um ihre persönlichen Verhältnisse geht, zuversichtlich in die Zukunft.

Kein US-amerikanischer Präsident seit Lyndon B. Johnson, wenn nicht gar seit Franklin D. Roosevelt, dürfte dem sozialdemokratischen Ideal näher gekommen sein als Joe Biden.

Kritiker von links wiederum sind überzeugt, dass die Menschen sich in der Krise wähnen, weil sie noch immer an den Folgen von 40 Jahren neoliberaler Politik zu leiden haben. Dem ist schwer zu widersprechen. Der darin stets mitschwingenden Unterstellung, die Regierung Biden setze diese Politik bruchlos fort, freilich schon. Gerade wenn man, wie die Vertreter dieses Lagers, Armut und Elend nicht als notwendige Begleiterscheinung systemischer Zwänge begreift, sondern als Resultat verfehlter Politik, kommt man umgekehrt, wenn die Löhne steigen, kaum umhin, der Regierung, wie zähneknirschend auch immer, einen gewissen Anteil daran zuzuschreiben.

In der Tat dürfte kein US-amerikanischer Präsident seit Lyndon B. Johnson, wenn nicht gar seit Franklin D. Roosevelt, dem sozialdemokratischen Ideal näher gekommen sein als Biden. Was bedeutet, dass man in dessen Reden ständig Sermone über die »Würde der Arbeit« zu hören bekommt. Es bedeutet aber auch, dass, als sich im Sommer 2021 alle Experten einig waren, die Inflation sei nur mit Hilfe einer artifiziell herbeigeführten Rezession in die Griff zu bekommen, weil nur die damit einhergehende Arbeitslosigkeit die Lohnforderungen der Arbeiterklasse zu drosseln vermöge, die Regierung nicht etwa das geforderte Austeritätsprogramm auf den Weg brachte, sondern milliardenschwere Konjunkturprogramme. Schwer vorstellbar, dass ein Präsident Bernie Sanders viel anders hätte handeln können.

Dass die Massen die Politik der Regierung Biden nicht recht honorieren, liegt daher nicht an einem Mangel an gutem Willen. Sanders-Fans mögen der festen Überzeugung sein, dass eine Politik, die das Herz am rechten Fleck hat und wahrhaft auf Seiten des »kleinen Mannes« steht, gar nicht anders kann, als auf überwältigende Zustimmung zu stoßen. Aber was es heißt, auf Seiten »des kleinen Mannes« zu stehen, ist eben gar nicht so einfach – und schon gar nicht widerspruchsfrei – zu sagen.

Wählen heißt immer schon, gegen die eigenen Interessen zu stimmen: Denn wer nichts zu verkaufen hat als seine Arbeitskraft, ist notwendig darauf angewiesen, dass sich das für die, die sie kaufen, auch lohnt, die Ausbeutung also ordentlich profitabel bleibt. Wie viel Selbstbeschränkung dafür nottut und welche Interessen man im eigenen Interesse beschneiden muss, ist vernünftig überhaupt nicht zu bestimmen – einfach deswegen, weil der Prozess als ganzer einen einzigen Affront gegen die Vernunft darstellt.

Über einen Gegenstand wie »die Wirtschaft« kann daher gar nicht anders als ideologisch geredet werden; und was dessen Deutung maßgeblich beeinflusst, sind am allerwenigsten Daten und Fakten. Was uns zurück zur »realistischen Demokratietheorie« bringt. Deren Haken ist nicht, dass sie zu zynisch auf die Demokratie blickt – sondern dass sie ruhig ein bisschen zynischer sein dürfte.