Vor dem Beginn der Fußball-EM ­erhielten Fans Gefährderanschreiben von der Polizei

Auf der Schwarzen Liste

Vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft der Männer erhielten zahlreiche Fußballfans »Gefährderanschreiben« von der Polizei. Grundlage ist die vielkritisierte »Datei Gewalttäter Sport«.

»Richtig überrascht« sei Markus Meier* nicht gewesen, als er vor einigen Wochen einen Brief der Leipziger Polizei aus dem Briefkasten zog, erzählt er der Jungle Word. Der »Leiter des Vorbereitungsstabs« habe ihm in dem Brief mitgeteilt, dass er aufgrund »strafrechtlich relevanten Verhaltens im Zusammenhang mit vergleichbaren Veranstaltungen der gewalttätigen Fußballszene zugerechnet« werde. Die Polizei des Freistaats Sachsen werde »entschlossen handeln, um das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland« zu schützen. Meier sei aufgefordert, »durch ein angemessenes und vor allem gewaltfreies Verhalten dazu beizutragen, dass die 17. Fußballeuropameisterschaft der Männer in Deutschland ein friedliches Fußballfest wird«.

»Gefährderanschreiben sind ein bei der Polizei beliebtes Mittel, um Fußballfans zu gängeln und einzuschüchtern.« Oliver Wiebe, Dachverband der Fanhilfen

Meier wohnt in Berlin, besucht aber regelmäßig Fußballspiele des Regionalligisten Chemie Leipzig. Fraglich ist allerdings, warum solche Spiele – gegen den Zipsendorfer Fußballclub Meuselwitz e. V. oder das von bitterer Riva­lität geprägte Derby gegen den 1. FC Lokomotive Leipzig – »vergleichbar« mit der Europameisterschaft (EM) sein sollen. Der Jungle World sagt Meier, er ­interessiere sich überhaupt nicht für die EM, genauso wie »viele andere Fußballfans, die ein wenig aktiver sind, sich nicht für die EM interessieren«. Die Polizei nutze »Fußballspiele als Übungsfeld«, meint Meier.

Miriam Feldmann vom Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig e. V. teilt Meiers Einschätzung: »Das Interesse von Fans der BSG Chemie an einem durchkommerzialisierten Event oder Nationalmannschaftsfußball im All­gemeinen, ohne Bezug zum eigenen Verein«, dürfte »eher gegen null tendieren«, teilt sie der Jungle World mit. Die Behörden hätten offenbar entweder keine Ahnung von »Fanstrukturen und Interessen« – oder »ihnen ist der reine Symbolcharakter der Maßnahme durchaus bewusst«.

Der Leipziger Volkszeitung zufolge wurden mehr als 200 Gefährderanschreiben versendet. Feldmann berichtet der Jungle World, es meldeten sich immer noch vereinzelt Personen, »die erst in den ­letzten Tagen Post erhalten haben«.

Grundlage ist die »Datei Gewalttäter Sport« (DGS)

»Die Gefährderanschreiben oder -ansprachen an Fans von Chemie Leipzig sind keine Einzelfälle, sondern ein bei der Polizei bundesweit beliebtes Mittel, um Fußballfans zu gängeln und einzuschüchtern«, sagt Oliver Wiebe vom Dachverband der Fanhilfen der Jungle World. Wie viele genau zu dieser EM verschickt worden sind, weiß er nicht. Doch »sogar in Magdeburg, das gar kein Spielort der EM ist«, seien »Fans mit solcherlei Maßnahmen überzogen« worden.

Grundlage polizeilichen Handels gegen Fußballfans ist die »Datei Gewalttäter Sport« (DGS). Diese Datensammlung führt das Land Nordrhein-Westfalen als »Verbundsdatei«, sie wird bundesweit von Polizeidienststellen bestückt.

Die DGS gibt es seit 30 Jahren. Sie war immer wieder Gegenstand von Kritik, unter anderem weil dort nicht nur überführte Straf­täter gesammelt werden, sondern es schon reichen kann, im falschen Fanbus oder am falschen Treffpunkt gewesen zu sein. 2017 wurden zum Beispiel mehrere Hundert Fans des FC Schalke 04 vor einem Spiel eingekesselt – und daraufhin 681 von ihnen in der DGS gespeichert, unter anderem, weil die Polizei die Anreise der Schalker im eigenen PKW als »konspirativ« ­betrachtete.

Ursprünglich sollte die Datei reformiert werden

Vom Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste Nordrhein-Westfalen heißt es dazu, in der Datei würden auch »die Daten von Personen gespeichert, gegen die von der Polizei Personalienfeststellungen« angeordnet wurden, »wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass sich diese Personen zukünftig im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen an Straf­taten von erheblicher Bedeutung beteiligen werden«.

Ursprünglich hatte die derzeitige Regierungskoalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Datei »in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Löschfristen, Transparenz und Datenschutz« zu reformieren. Passiert ist bisher nichts. Immerhin: Eine Kleine Anfrage des sportpolitischen Sprechers der ­inzwischen aufgelösten Bundestagsfraktion der Linkspartei, André Hahn, ergab im September vergangenen Jahres, dass sich die Zahl der gespeicherten Fußballfans von gut 13.000 im Jahr 2011 auf 5.714 im April 2023 mehr als halbiert hat.

Derzeit wird die Datei benutzt, um während der EM auch ausländische Fußballfans zu überwachen. Das ergab im Mai eine weitere Kleine Anfrage Hahns. Das Bundesinnenministerium teilte mit, die Polizeibehörden anderer Staaten würden »Daten über Fußballstörer übermitteln, die zeitweise in der Datei Gewalttäter Sport (DGS) eingespeichert werden«. Seit Beginn der Europameisterschaft führt die Bundes­polizei verstärkt Grenzkontrollen durch. »Damit wollen wir vor allem Gewalt­täter früh erkennen und stoppen«, hieß es von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD).

* Name von der Redaktion geändert.