Jahresrückblick auf das politische Geschehen in deutschen Fußballstadien

Klare Haltung in der Kurve

Klimaproteste, Sexismus, Antisemitismus – das sind zwangsläufig die Themen im politischen Jahresrückblick auf das Treiben deutscher Fußball-Fankurven 2023. Für einige Fangruppen war der Überfall der Hamas und assoziierter Terrorgruppen auf Israel ein einschneidendes Ereignis, manche waren immerhin zuvor bereits gegen Antisemitismus aktiv geworden.

Das politische Bewegungsjahr begann Mitte Januar mit den Protesten Tausender Klimaschützer und -schützerinnen gegen die Räumung des symbolkräftigen Dorfes Lützerath am Tagebau Garzweiler II. Hunderte Menschen sollen dabei von Polizisten und Polizistinnen zum Teil schwer verletzt worden sein. Fans des 1. FC Saarbrücken bekundeten einige Tage später per Spruchband »Solidarität mit den Opfern von Polizeigewalt«. In der Fankurve des VfL Osnabrück wurde ein Transparent gezeigt, das die Ziele der Protestierenden bekräftigte: »1,5°C heißt: Lützerath bleibt«.

Im Februar wurde in einigen Fankurven der Opfer des mörderischen Nazi-Regimes gedacht: Der Gästeblock im Spiel Köln gegen Frankfurt erinnerte an den am 10. Februar verstorbenen Helmut »Sonny« Sonneberg. Dieser überlebte als Kind das KZ Theresienstadt und war später als leidenschaftlicher Fan der Frankfurter Eintracht bekannt. Fans von Bayern München gedachten anlässlich des 22. Februar, des 80. Jahrestags der Ermordung von Hans und Sophie Scholl durch die Nazis, der Mitglieder der Weißen Rose. Kurz darauf präsentierte der Fanblock des FSV Mainz 05 Anfang März eine Choreographie zu Ehren des 135. Geburtstags Eugen Salomons, der den Verein mitgründete, ihm zeitweilig vorstand und 1942 in Auschwitz ermordet wurde.

Feministische Positionen im Stadion

Rund um den internationalen Frauentag am 8. März trugen einige Fangruppen feministische Positionen ins Stadion. Die Duisburger Ultra-Gruppe Kohorte organisierte eine Choreographie, in der ein weiblicher MSV-Fan und der Spruch »Wenn die ganze Kurve bebt, wird Gleichberechtigung gelebt« abgebildet waren. Bayern-München-Ultras der Gruppe Colegio schrieben »One ­Solution – Feminist Revolution« auf ein Spruchband sowie die kurdische Losung »Jin Jiyan Azadî« (Frau, Leben, Freiheit). Sie erinnerten damit an die feministischen Proteste im Iran. Auch im Zweitligaspiel FC St. Pauli gegen die SpVgg Fürth präsentierten sowohl Heim- als auch Gästeanhang zahlreiche feministische Banner.

Zum Auftakt der laufenden Saison bekundete die Dortmunder Ultra-Gruppe The Unity auf einem Banner: »Justice for Mouhamed – Rest in ­Power! Für eine unabhängige Kontrolle der Polizei!«

Fans des Drittligisten (und späteren Absteigers) FSV Zwickau solidarisierten sich im März mit den Beschäftigten des örtlichen Autozulieferers GKN, die in den Streik getreten waren. nachdem die Schließung ihres Werks angekündigt worden war. Die Gruppe Ultrà Sankt Pauli rief im Mai zur Demonstration anlässlich der Urteilsverkündung im Prozess gegen die Antifaschistin Lina E. auf, unter anderem mit dem Spruch »Antifa ist kein Verbrechen«.

Am letzten Spieltag der abgelaufenen Bundesligasaison waren bei der Partie Köln gegen München in Heim- und Gästeblock Spruchbänder zu sehen, die das staatliche und polizeiliche Vorgehen gegen Mitglieder der Gruppe Letzte Generation scharf kritisierten. »Zu viel Klebstoff im Bullenhirn? Die einzige kriminelle Vereinigung seid ihr«, unkten die Bayern-Fans. Ebenfalls Bayern-Anhänger und -Anhängerinnen waren es, die im Juni am Münchner Christopher Street Day teilnahmen. Der Fanclub Queerpass erinnerte dabei mit einem Transparent an Angelo Knorr. Dieser war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Präsident des FC Bayern, bis er aufgrund einer sexuellen Beziehung zu einem Mann verhaftet wurde.

Prozess gegen fünf Polizisten

Zum Auftakt der laufenden Saison bekundete die Dortmunder Ultra-Gruppe The Unity auf einem Banner: »Justice for Mouhamed – Rest in ­Power! Für eine unabhängige Kontrolle der Polizei!« Der 16jährige Mouhamed Dramé war ein Jahr zuvor in der Dortmunder Nordstadt unter noch ungeklärten Umständen von der Polizei erschossen worden. Seine Familie sowie Antirassisten und ­Antirassistinnen fordern seither Aufklärung. Am 19. Dezember begann vor dem örtlichen Landgericht der Prozess gegen fünf Polizisten. Dem Schützen wird in der Anklage Totschlag vorgeworfen, den anderen vier Beamten gefährliche Körperverletzung.

Ebenfalls in Dortmund kritisierten Fans die Verpflichtung des Spielers Felix Nmecha, dem unter anderem Homophobie nachgesagt wird. Nach Angaben der Initiative Ballspiel.vereint wurden deren Mitglieder dafür von anderen BVB-Fans im Stadion verbal und körperlich angegangen, außerdem wurde ein Banner mit der Aufschrift »Gemeinsam gegen Homophobie« beschädigt.

Ebenfalls die Initiative Ballspiel.vereint sowie unter anderem die Ultra-­Gruppe Caillera von Werder-Bremen und die Nutria-Bande, eine Fangruppe des Frauenteams von Eintracht Frankfurt, solidarisierten sich im September mittels Spruchbändern mit der spanischen Nationalspielerin Spielerin Jenni Hermoso. Diese war vom spanischen Verbandspräsidenten Luis Rubiales gegen ihren Willen umarmt und geküsst worden, wehrte sich gegen eine Verharmlosung des Vorfalls und zeigte Rubiales an. Der Fall erzeugte international gewaltige mediale Aufmerksamkeit. Als der ehemalige Vorsitzende des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge, das Geschehen öffentlich herunterzuspielen versuchte, antwortete die Freiburger Ultra-Gruppe Corrillo deutlich: »Faust statt Kuss für Rubiales und Rummenigge«.

Einige unschöne Vorfälle ereigneten sich Ende November. Im Spiel Hansa Rostock gegen den FC St. Pauli zeigte die heimische Südtribüne eine Choreographie, auf der unter anderem prominent das sogenannte Sonnenblumenhaus abgebildet war, das zu einem Symbol für das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 geworden ist. Obgleich der FC Hansa Rostock seine Fans nachträglich in Schutz nahm, liegt – auch aufgrund ähnlicher Bezugnahmen in der Vergangenheit – die Vermutung nahe, dass hier bewusst mit dem rechten Image der Hansa-Fans und den historischen ­Ereignissen kokettiert wurde.

Sexistische Fans, Ultras gegen Antisemitismus

Am selben Wochenende kritisierte der K-Block in Dresden eine angeb­liche Bevorzugung der als »künstlich« bezeichneten AG Respekt durch den Verein. Diese hatte unlängst eine ­Anlaufstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt im Stadion des Zweit­ligisten SG Dynamo geschaffen, wofür die Fans offenbar wenig Verständnis aufbringen konnten. Im Spiel Werder Bremen gegen Bayer ­Leverkusen präsentierten Gästefans am Tag zuvor zudem ihre verstaubte Ansichten zum Stand der Geschlechtervielfalt. Auf einem Spruchband hieß es: »Es gibt viele Musikrichtungen, aber nur zwei Geschlechter«.

Fans von Werder Bremen wiederum reagierten in herausragender Weise auf die Ereignisse in Israel ab dem 7. Oktober. Bereits wenige Stunden nachdem die Islamisten in Israel eingedrungen waren und das Morden begonnen hatte, forderte die Gruppe Ultra Boys auf einem Spruchband im Stadion: »Stand with Israel!« Drei Wochen später zeigte die Gruppe eine Choreographie mit den Namen jener Maccabi-Haifa-Fans, die ermordet oder entführt worden waren. Die Ultra Boys pflegen eine langjährige Freundschaft mit den Ultras des israelischen Vereins.

Die Ultra-Gruppe Infamous Youth hingegen ist mit Ultras von Hapoel Jerusalem befreundet. Gemeinsam begannen die Bremer Gruppen eine Spendenkampagne für ihre isra­elischen Freunde und Freundinnen und beteiligten sich an der Orga­nisation einer Kundgebung, die die Freilassung der Geiseln forderte. Auch die Gruppe Caillera erklärte auf einem Banner: »Jeder Angriff auf jüdisches Leben ist einer zu viel«.

Fans des FSV Mainz 05 wendeten sich »gegen den antisemitischen Terror der Hamas« und stellten klar: »Am Yisrael Chai!«

Auch Ultras des FC St. Pauli initiierten eine Spendensammlung zugunsten betroffener Personen in der Fanszene des israelischen Vereins Hapoel Tel Aviv, deren Ultras wiederum mit denen aus Hamburg befreundet sind. Der Hapoel-Fan Liam, der als Geisel von der Hamas verschleppt worden und im Rahmen des Gefangenenaustauschs Anfang Dezember freigekommen war, wurde von der Gruppe Ultrà Sankt Pauli mit den Worten »Welcome back« auf einem Banner begrüßt.

Als der schottische Verein Celtic Glasgow den Ultras der Green Brigade nach anhaltenden Solidarisierungen mit der Hamas und ihrem Terror in Israel die Dauerkarten entzog, reagierten St.-Pauli-Fans mit dem Spruchband: »From Gaza to Glasgow – fight Antisemitism«. Die Ultra-Gruppe Horda Azzuro des Viertligisten FC Carl Zeiss Jena hingegen bekundete ihre Solidarität mit dem Celtic-Anhang.

Auch weitere Fanszenen machten die Ereignisse in Nahost zum Thema. In der Kurve des Regionalligisten BSG Chemie Leipzig stand unter anderem etwa geschrieben: »Peace for the People of Israel. Free Palestine from Hamas«. Auch Fans des FSV Mainz 05 wendeten sich »gegen den antisemitischen Terror der Hamas« und forderten zugleich »Frieden für die Menschen in Gaza«. Die Parole »Am Yisrael Chai« (Das Volk Israel lebt) prangte ebenfalls in der Mainzer Kurve. In München forderte die Ini­tiative »Löwenfans gegen rechts« des Drittligisten TSV 1860 auf einem Spruchband die Freilassung aller Geiseln. Die Freiburger Ultra-Gruppe Corrillo wagte zudem den Blick auf die Entwicklungen hierzulande: »Deutschland 2023: Häuser werden markiert, Angriffe auf Synagogen, Menschen bleiben aus Angst zuhause. Nie wieder ist jetzt. Gegen jeden Antisemitismus!«