Über den derzeit wieder florierenden Fußballnationalismus

Die Hassliebe

Viele wünschen sich bei der EM ein neues »Sommer­märchen« – und wollen nicht sehen, dass das alte seinen Teil zum Aufstieg der AfD beigetragen hat.

»Ist das schon das Sommermärchen?« fragte vorige Woche der Stern; auch der NDR träumt bereits vom »Sommermärchen 2.0«. Man denkt sich: Bitte nicht schon wieder! Denn wenn Deutschland schon nervt, ist Schland kaum auszuhalten. Die Abneigung gegen die nationalistische Massenfeierei ist aber nicht nur eine Befindlichkeit, sondern auch politisch geboten.

Der neue »Mut zu Deutschland«, der sich 2006 beim »Sommermärchen« im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer ausdrückte, war die politische Parole, mit der die AfD elf Jahre später in den Bundestag einzog.

Denn ohne die Normalisierung des deutschen Nationalstolzes, die mit den WM-Feierlichkeiten 2006 einherging, hätte sich der völkische Nationalismus in Form von Pegida und AfD nicht in dem Maße ausbreiten können. Der neue »Mut zu Deutschland«, der sich damals beim »Sommermärchen« im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer ausdrückte, war die politische Parole, mit der die AfD elf Jahre später in den Bundestag einzog.

Im kommenden Herbst könnte sie bei mehreren Landtagswahlen stärkste Kraft werden. Zu dieser Entwicklung gehört auch der Anstieg rechter Gewalt- und Straftaten auf den höchsten Stand seit der Jahrhundertwende. Die Welt zu Gast bei Freunden? Wohl kaum.

Patriotismus und Nationalismus ganz verschiedene Dinge?

Nun wollen einem wieder viele erzählen, dass Patriotismus und Nationalismus ja ganz verschiedene Dinge seien. Patriotismus sei die Liebe zu den eigenen, Nationalismus der Hass auf die anderen, so einer der beliebten Kalendersprüche. Wie man weiß, liegen Liebe und Hass aber sehr nah beieinander, nicht zuletzt beim Fußball. Je größer die Liebe zum Verein, desto größer die Feindschaft zum Gegner.

Wenn der Verein nun Deutschland ist, erweitert sich der Kreis der vermeintlichen Feinde, die den Hass zu spüren bekommen. Am Rande von Spielen der deutschen Nationalmannschaft – vor allem nach verlorenen – kommt es stets zu Ausbrüchen nationalistischer und rassistischer Gewalt.

Man konnte dies bereits am ersten EM-Wochenende wieder beobachten, zum Beispiel in Rostock-Warnemünde, wo mehrere Menschen den neuen deutschen Partyhit »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« grölten, den Hitlergruß zeigten und sich mit der Polizei prügelten. Rassistische Gewalt steht nicht im Gegensatz zur Liebe zur Nation, sondern ist ein elementarer Teil von ihr.

Deutsche Zustände

Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer, ein Kenner »Deutscher Zustände«, wie die von ihm viele Jahre lang herausgegebene Studie zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit heißt, hat das Gerede vom weltoffenen, friedlichen Patriotismus bereits damals, im WM-Jahr 2006, als »gefährlichen Unsinn« bezeichnet – und konnte diese Aussage wissenschaftlich belegen.

Nicht die Zustimmung zu demokratischen Werten, sondern nationalistische Einstellungen haben nach dem Ausbruch des »Partypatriotismus« einen Zuwachs verzeichnet. Mittlerweile ist man so unverkrampft, dass man sich auch als Deutscher »endlich« wieder traut, eine völkische Partei zu wählen und zu seinem Rassismus zu stehen.

21 Prozent der Deutschen wünschen sich mehr Spieler mit weißer Hautfarbe, wie neulich eine Umfrage der Sportschau ergab. 2006 waren es noch die Neonazis der NPD, die einen WM-Planer mit dem Titel »Weiß. Nicht nur eine Trikotfarbe« herausbrachten.

Heutzutage stellen die völkischen Nationalist:innen (mindestens) ein Fünftel der Bevölkerung, in deren Namen der AfD-Europa­abgeordnete Maximilian Krah vergangene Woche »der Mannschaft« absprach, eine »Nationalmannschaft« zu sein, und sie stattdessen als »politisch korrekte Söldnertruppe« bezeichnete.

Postmigrantische Realität der Republik

Während die AfD das durch die EM hervorgerufene »patriotische Gefühl« begrüßt und es politisch zu nutzen weiß, wird ihr Deutschland-Bild von der Nationalmannschaft in Bedrängnis gebracht. Schließlich entspricht deren Zusammensetzung weitaus mehr der postmigrantischen Realität der Republik als die ethnisch homo­gene Dystopie der AfD.

Das steigert wiederum deren Aggressivität. »Die heftigsten Widerstände gibt es gegen die Beschädigungen des kollektiven Narzissmus, das selbstverständliche ›Wir‹», schrieb Detlev Claussen einmal. Nationalistische Massenzelebrationen wie bei ­Europa- und Weltmeisterschaften sind daher keineswegs harmlose, unpolitische Volksfeste, sondern Ausdruck des kollektiven Narzissmus, der immer kurz davorsteht – wenn er zum Beispiel durch eine Niederlage beschädigt wird –, in kollektiven Hass umzuschlagen, gegen jene, die durch ihre bloße Existenz das »selbstverständliche Wir« in Frage stellen.

Dass es einen Zusammenhang zwischen dem »Partypatriotismus« und dem Aufstieg der AfD gibt, kann man übrigens bei den extrem Rechten selbst nachlesen. Dieter Stein, Chefredakteur der Jungen Freiheit, schrieb 2006: »Folgenlos wird diese einmal ausgelebte und von der überwältigenden Mehrheit des Volkes getragene nationale Begeisterung aber nicht bleiben.« Dem »patriotischen Gefühl« werde »die nationale Erkenntnis folgen müssen«.

Götz Kubitschek, der Ideologe des völkischen AfD-Flügels, hat dafür 2019 sogar einen Begriff geprägt: »Nichts dürfte das AfD-Projekt und sein ›politisches Minimum‹ so genau treffen wie der Begriff ›Normalisierungspatriotismus‹.

Götz Kubitschek, der Ideologe des völkischen AfD-Flügels, hat dafür 2019 sogar einen Begriff geprägt: »Nichts dürfte das AfD-Projekt und sein ›politisches Minimum‹ so genau treffen wie der Begriff ›Normalisierungspatriotismus‹. Darin stecken Minimalziel, Anknüpfungsfähigkeit, Ungefährlichkeit, Bezugspunkt, kurz: der kleinste gemeinsame Nenner in einem Wort.«

Kubitscheks Idee hinter dem »Normalisierungspatriotismus« ist, dass der Patriotismus als Türöffner funktioniert, um breite Teile der Bevölkerung anzusprechen und darauf aufbauend rechtsextreme Positionen in die politische Mitte einzuführen. Ganz bewusst bezieht er sich hier auf den gesellschaftlich akzeptierten Patriotismus und nicht auf den in Verruf geratenen Nationalismus, wohlwissend, dass es am Ende dasselbe ist.

Viele der Millionen, die noch Anfang des Jahres gegen die AfD und die Rechtsentwicklung demonstriert haben, wollen diesen Zusammenhang nicht sehen und malen sich nun Nationalfarben ins Gesicht.