Nachruf auf Aleksej Nawalnyj

No Future: Zum Tod des russischen Oppositionellen Aleksej Nawalnyj

Der russische Oppositionelle Aleksej Nawalnyj ist tot. Das russische Regime zeigt, dass es auch bei der Unterdrückung im Inneren keinerlei Grenzen mehr kennt.
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Ob es einen Befehl gab, Aleksej Nawalnyj am 16. Februar zu ermorden, kann man nicht mit Gewissheit sagen. Aber klar ist, dass die russische Regierung die Verantwortung für seine Todesumstände trägt.

Als Nawalnyj 2021, nach dem Giftanschlag, den er überlebt hatte, nach Russland zurückkehrte, ließ das Regime keinen Zweifel daran, dass es ihn nie wieder aus dem Gefängnis entlassen würde.

Nawalnyj wurde mit Isolationshaft bestraft, er klagte über unzureichende gesundheitliche Versorgung und Schlafentzug. Die letzten Wochen seines Lebens verbrachte er in einem Hochsicherheitsgefängnis am Polarkreis. Dass der Staat Nawalnyj zerstören wollte, war offensichtlich. Er tat es unverhohlen, um eine Botschaft an alle seine Sympathisanten senden: Widerstand ist zwecklos.

Wenn es nach 2014 noch eine Chance gab, den Marsch Russlands in Richtung Diktatur zu verhindern, dann war es wohl Nawalnyjs Bewegung.

Nawalnyjs Tod kommt genau einen Monat vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen. Diese sollen mitten im Krieg demonstrieren, dass die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin Wladimir Putin unterstützt. Die Wahlergebnisse werden gefälscht sein, echte oppositionelle Kandidaten dürfen nicht antreten. Und nun ist Nawalnyj im Gefängnis gestorben. Die Regierung lässt keinerlei Opposition mehr zu.

Nawalnyjs Kampf gegen Korruption

Viele Linke in Deutschland sahen Nawalnyj kritisch, und oft beteiligten sie sich damit, ob ihnen das klar war oder nicht, an der Diffamierungskampagne des Regimes: Nawalnyj, das war der Faschist, der Rassist, außerdem neoliberal und dem Westen hörig.

Tatsächlich betätigte sich Nawalnyj ab Ende der nuller Jahre als rassistischer Hetzer und verbündete sich mit Neonazis. Und der liberale Populismus, mit dem er gegen die »Gauner und Diebe« in der Regierung und ihre Korruption zu Feld zog, war strikt wirtschaftsliberal. Das war auch ein Grund dafür, dass es der russischen liberalen Opposition damals nicht gelang, eine große demokratische Bewegung aufzubauen.

Aber vieles deutet darauf hin, dass eben das, der Aufbau einer Demokratiebewegung, Nawalnyj in späteren Jahren doch noch hätte gelingen können. Nawalnyj ließ den Rassismus hinter sich, sowohl in seiner politischen Arbeit als offenbar auch persönlich – viele seiner Unterstützer weisen jetzt darauf hin, dass Nawalnyj sich im Gefängnis gegen die Diskriminierung muslimischer Mitgefangener einsetzte –, und konzentrierte sich immer mehr darauf, den Reichtum der kleptokratischen Führungsschichten um Putin herum zu skandalisieren.

Nawalnyjs ewiges politisches Anliegen war der Kampf gegen Korruption. In einem Land wie Russland, wo die Korruption die Grundlage einer autoritären Herrschaft über eine Gesellschaft mit extremer Vermögenskonzentration und sozialer Ungleichheit bildet, stellte er damit nicht nur die Macht-, sondern auf gewisse Weise auch die soziale Frage. Seine Enthüllungsvideos über den grotesken Reichtum der politischen Herrscher erreichten ein Millionenpublikum.

Man könnte denken, dass Nawalnyjs Bekanntheit im Westen ihm einen gewissen Schutz geboten hätte. Aber die Zeit, als solche Kalkulationen für die russischen Machthaber noch eine Rolle spielten, sind offenbar vorbei.

Nawalnyj schaffte es, Teile der russischen Bevölkerung auch abseits großstädtischer liberaler Millieus und der Mittelschicht zu erreichen, und er baute ein landesweites Netzwerk auf. Für die Macht Putins, die auf Depolitisierung und Passivität beruht, war das eine Gefahr. Bei Wahlen rief Nawalnyj dazu auf, den im jeweiligen Bezirk aussichtsreichsten Oppositionskandidaten zu wählen, was meistens eine Wahlempfehlung für Kandidaten der Kommunistischen Partei darstellte – Hauptsache, die Stimmen gingen nicht an die Putin-Partei »Einiges Russland«.

Krieg gegen die Ukraine und den Westen nicht im Interesse der russischen Bürger

Und obwohl er beispielsweise bei der Krimfrage jahrelang herumlavierte, so dass insbesondere viele Ukrainer Nawalnyj nie ganz vertrauten und in ihm einen unverbesserlichen russischen Nationalisten sahen, war seine Botschaft seit 2014 eindeutig: es sei nicht im Interesse der russischen Bürger, gegen die Ukraine und den Westen Krieg zu führen.

Das herrschende Racket hatte bekanntlich andere Pläne. Doch wenn es nach 2014 noch eine Chance gab, den Marsch Russlands in Richtung Diktatur aufzuhalten, dann war es wohl Nawalnyjs Bewegung. Aus diesem Grund unterstützten ihn in Russland auch Linke, die viele seiner politischen Ziele nicht teilten.

Was für absurde Ausmaße die Repression in Russland mittlerweile angenommen hat, lässt sich anhand von Einzelfällen verdeutlichen. So wie dieser, dokumentiert von der Bürgerrechtsorganisation OVD-Info: Am 1. Dezember versammelten sich in einem Konferenzraum in Moskau um die 20 Personen, um auf Einladung einer marxistischen Kleingruppe über die Revolution zu diskutieren.

»Putin ist ein Killer«. Freitag vor der russischen Botschaft in Berlin

»Putin ist ein Killer«. Freitag vor der russischen Botschaft in Berlin

Bild:
picture alliance/dpa | Fabian Sommer

Spezialkräfte des russischen Innenministeriums in voller Kampfmontur platzen herein. Die Teilnehmer der Veranstaltung wurden geschlagen, gedemütigt, LGBT-feindlich beleidigt und gezwungen, ihre Handys zu übergeben. »Sie stellten uns an die Wand und schlugen unsere Beine und Rippen mit Schlagstöcken. Sie haben jeden geschlagen, besonders die, die ihre Handys nicht freischalten wollten. Der Redner wurde am brutalsten verprügelt, er konnte nicht einmal mehr aufstehen«, zitiert OVD-Info eines der Opfer. Über eine Stunde lang wurden die jungen Marxisten und Marxistinnen verhört, geschlagen, gefoltert, auch mit Elektroschocks.

Man könnte denken, dass Nawalnyjs Bekanntheit im Westen ihm einen gewissen Schutz geboten hätte. Aber die Zeit, als solche Kalkulationen für die russischen Machthaber noch eine Rolle spielten, sind offenbar vorbei.

Die Invasion der Ukraine, die Zerstörung ganzer Städte im Nachbarland, der Tod von zehntausenden russischen Soldaten, all das hat keinen großen aktiven Widerstand in der russischen Bevölkerung ausgelöst.

Nach Nawalnyjs Tod zirkulierte in den sozialen Medien ein Ausschnitt aus dem 2022 veröffentlichten Dokumentarfilm über Nawalnyj. Darin wird dieser, der gerade erst den Giftanschlag überlebt hatte, gefragt, was seine Botschaft an die russische Bevölkerung im Falle seines Todes wäre. »Wenn sie mich getötet haben, dann heißt das, dass wir unglaublich stark sind«, sagt Nawalnyj mit dem ihm typischen Optimismus. »Nicht aufgeben! Erinnert euch daran, dass wir eine große Macht sind, die von diesen schlechten Typen unterdrückt wird.«

Das klingt zunächst plausibel: Eine Regierung, die einen Oppositionellen ermorden muss und Trauernde, die zu dessen Andenken Blumen niederlegen, festnehmen lässt, wie es in Moskau und anderen Städten nach Nawalnyjs Tod passierte, kann sich ihrer Sache nicht sicher sein.

Eine große Protestbewegung gibt es nicht

Die Realität könnte jedoch anders aussehen. Die Invasion der Ukraine, die Zerstörung ganzer Städte im Nachbarland, der Tod von zehntausenden russischen Soldaten, all das hat keinen großen aktiven Widerstand in der russischen Bevölkerung ausgelöst – vielmehr erlaubte es Wladimir Putin, jegliche Reste demokratischer Opposition zu unterdrücken.

Es mag innere Konflikte im russischen Regime geben, und die russische Regierung mag vor großen, beispielsweise ökonomischen, Problemen stehen. Es gibt auch viele Russen, die unter großem persönlichen Risiko Widerstand leisten, aber eine große Protestbewegung gibt es nicht. Die große Mehrheit unterstützt entweder den Krieg oder nimmt ihn passiv hin, Kriegsgegner wurden mundtot gemacht oder haben das Land verlassen.

»Es gibt wenig Zweifel, dass Nawalnyj hingerichtet wurde. Putin weiß, dass es keine Proteste geben wird und die wenigen, die sich es sich doch trauen, werden schnell Nawalnys Platz [im Gefängnis] einnehmen«, argumentierte der ukrainische Politologe Serhiy Kudelia auf X.

Wladimir Putin zeigt sich wieder siegessicher, auch weil der Konsens im Westen für die militärische Unterstützung der Ukraine bröckelt.

Putin wisse, »dass Nawalnyj und alles um ihn herum nach zwei Jahren der Militarisierung der russischen Gesellschaft für die durchschnittlichen Russen kaum noch relevant sind. Er weiß, dass er mittlerweile fast totale ideologische und repressive Kontrolle über die russische Gesellschaft hat«.

Dass Putin, der Nawalnyj zuvor jahrelang nur drangsaliert und juristisch belangt hatte, ihn jetzt recht unverhohlen töten ließ, sei deshalb eher ein Zeichen von Selbstbewusstsein. »Wenn das ein Zeichen von Schwäche ist, wacht bitte auf«, schließt Kudelia.

Tatsächlich zeigt sich Wladimir Putin zuletzt wieder siegessicher, auch weil der Konsens im Westen für die militärische Unterstützung der Ukraine bröckelt. Einerseits ist es Ausdruck von Unsicherheit, einen Oppositionellen ermorden zu lassen. Aber offenbar ist Putin zuversichtlich, dass ihn nichts aufhalten wird.

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