In der Ukraine wird über ein geplantes Mobilisierungsgesetz gestritten

Die Rekruten gehen aus

Der Ukraine fällt es immer schwerer, ausreichend Soldaten zu rekrutieren. Ein neues Gesetz soll die Mobilmachung erleichtern, ist aber umstritten, weil es dem Staat Mittel an die Hand gibt, um Bürger in die Armee zu zwingen.

Kiew. Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Lage. Die Gegenoffensive im vergangenen Sommer hatte nur geringe Erfolge erzielt. Trotz hoher Verluste verfügte die russische Armee über ausreichend Reserven, um ihrerseits zum Angriff überzugehen. Nach einer Reihe langer und blutiger Kämpfe entlang der Front zog sich die ukrainische Armee am Wochenende aus der Stadt Awdijiwka bei Donezk zurück, einer wichtigen Verteidigungsstellung, die fast zwei Jahre lang den russischen Angriffen standgehalten hatte.

Die Aussichten sind derzeit schlechter als noch vor einem Jahr. Erstens, weil die Militärhilfe aus den USA, des wichtigsten Unterstützers der Ukraine, stockt und der ukrainischen Armee die Munition ausgeht. Und zweitens wegen der Auswirkungen des Zermürbungskriegs auf Armee und Gesellschaft. Es mangelt an neuen Soldaten. Seit Monaten ist die Frage der Mobilmachung zu einem zentralen Thema in den politischen Debatten in der Ukraine geworden.

Tödlicher Mangel an modernen Panzern, Flugzeugen und Artillerie

Nach dem russischen Einmarsch vor zwei Jahren bildeten sich lange Schlangen vor den Rekrutierungsbüros. Viele Ukrainer traten den Einheiten der Territorialverteidigung bei, die später Teil der regulären Streitkräfte wurden. Zahlreiche Freiwillige wurden damals abgewiesen, weil die Armee nicht in der Lage war, so viele neue Soldaten auszurüsten und zu trainieren. Die schnelle Mobilmachung einer großen Zahl motivierter Männer und Frauen, die oft bereits Kampferfahrung im Donbass gesammelt hatten, machte es möglich, den ersten Angriff der russischen Armee zurückzuschlagen, bevor Militärhilfe in größerem Ausmaß aus dem Westen eintraf. Den Mangel an modernen Panzern, Flugzeugen und Artillerie bezahlten viele der ukrainischen Soldaten jedoch mit ihrem Leben.

Viele der Freiwilligen und professionellen Soldaten von damals sind tot, verwundet oder in Gefangenschaft.

Zwei Jahre später sieht die Situation ganz anders aus. Viele der Freiwilligen und professionellen Soldaten von damals sind tot, verwundet oder in Gefangenschaft. Die übrigen sind erschöpft und immer unzufriedener damit, dass sie nicht von neuen Rekruten abgelöst werden. Urlaube von der Front sind kurz, und dann sind die Soldaten, die für eine kurze Zeit ihre Angehörigen wiedersehen können, von Männern umgeben, die ein ziviles Leben führen, ­arbeiten oder sich in Bars und Cafés entspannen, während sie selbst ohne Aussicht auf ein baldiges Ende dem Schrecken des Krieges ausgesetzt sind. Solche bitteren Gefühle nagen noch heftiger an viele Soldaten, seit es ihnen an der Front immer schwerer fällt, bestimmte Stellungen zu verteidigen, weil es an Reserveeinheiten mangelt.

Der Großteil der Soldaten in der ukrai­nischen Armee hat keinen militärischen Hintergrund. Sie hatten nie die Absicht, Soldat zu werden, sondern meldeten sich, weil sie wegen der russischen Invasion glaubten, keine andere Wahl zu haben. Doch jetzt sehen sie, dass sie doch eine Wahl gehabt hätten: Viele andere Männer leben nach wie vor ein ziviles Leben, oder haben sogar das Land verlassen. Letzteres ist zwar für militärpflichtige Männer verboten, aber wer Geld hat, kann es trotzdem schaffen. Viele Soldaten fühlen sich von ihren eigenen Landsleuten im Stich gelassen.

Die meisten derjenigen, die nicht selbst zur Armee gehen wollen, unterstützen die ukrainische Kriegsführung dennoch und spenden beispielsweise Geld, um Ausrüstung für Soldaten zu beschaffen. Manch einer von ihnen hatte sich zu Beginn des umfassenden russischen Angriffskrieges zur Armee gemeldet und wurde abgewiesen, weil es zu viele Freiwillige gab. Seitdem ist das Grauen des Krieges für alle sichtbar geworden und es gibt immer weniger Freiwillige.

Das Land zu verlassen, ist zwar für militärpflichtige Männer verboten, aber wer Geld hat, kann es trotzdem schaffen.

Immer öfter erinnerte der Staat die Bürger daran, dass der Militärdienst eine Pflicht sei. Rekrutierungsoffiziere wurden ein häufigerer Anblick auf den Straßen der Städte und Dörfer, und sie traten forscher auf. Die Verteilung von Musterungsbescheiden, also Aufforderungen, sich bei der zuständigen Wehrbehörde zu melden, ist eine Sache, eine andere sind im Internet zirkulierende Videos, die zeigen, wie scheinbar wahllos aufgegriffene Männern zu den Einberufungsbüros geschleppt werden.

Dort werden sie oft unter Druck gesetzt, bedroht, geschlagen und manchmal sogar gefoltert – von vielen dieser Fälle gibt es Videobeweise –, damit sie die notwendigen Dokumente schnell unterzeichnen und es nicht zu langwierigen Gerichtsverfahren kommt. Doch auch die Gerichte gehen ihrer Arbeit nach und verurteilen Männer, die sich der Mobilisierung entziehen, zu Gefängnisstrafen.

Schwierigkeiten bei der Mobilisierung

Auf solche Zwangsmaßnahmen reagierten immer mehr Männer, indem sie sich aktiv der Rekrutierung entzogen. Die einfachste Methode, sich zu verstecken, ist es, die Wohnung nicht mehr zu verlassen. Während der Covid-19-Pandemie haben viele bereits die Erfahrung gemacht, dass sie auch von zu Hause arbeiten können. Außerdem gibt es zahlreiche Telegram-Kanäle, in denen Bewohner eines Ortes sich mit Informationen über den Aufenthaltsort von Rekrutierern versorgen, um ihnen aus dem Weg zu gehen.

Bis vor kurzem wurde in verschiedenen Landesteilen unterschiedlich intensiv mobilisiert. Insbesondere in der Hauptstadt Kiew wurden nur wenige Einberufungsbescheide auf der Straße verteilt und es gab kaum bekannte Fälle von Männern, die mit Gewalt zur Musterung gezwungen wurden. Ob das dar­an lag, dass es in Kiew ausreichend Freiwillige gab, oder ob die Regierung Unzufriedenheit in der Hauptstadt vermeiden wollte, ist schwer zu sagen.

Auf der Hand liegt, dass nur wenige die Möglichkeit haben, ihre Wohnung nicht zu verlassen und dennoch zu arbeiten. Aber es gibt immer noch den Ausweg, Bestechungsgeld zu zahlen, um die Musterung zu vermeiden. Um die Korruption in den Griff zu bekommen, entließ Präsident Wolodymyr Selenskyj im vergangenen Sommer in allen Regionen die Vorsitzenden der Militärrekrutierungsbehörden und ersetzte sie durch Kriegsveteranen, in der Hoffnung, dass diese gegen das Problem vorgehen würden. Diese Maßnahme soll jedoch vor allem zu Chaos in den Behörden geführt haben.

Das Problem des Mangels an Rekruten ließ sich nicht länger ignorieren.

Das Problem des Mangels an Rekruten ließ sich nicht länger ignorieren. Auch der Protest von Soldaten, die nach bis zu zwei Jahren im Kampfeinsatz abgelöst werden wollen, und ihrer Angehörigen wurde seit Monaten lauter. Deshalb legte die Regierung Ende Dezember den Entwurf eines neuen Mo­bilisierungsgesetzes vor. Mobilisierte Soldaten sollen demnach in Zukunft nach drei Jahren Dienstzeit aus der Armee entlassen werden können.

Gleichzeitig soll die Mobilmachung erheblich vereinfacht werden: Einberufungsbescheide sollen beispielsweise in Zukunft über das Internet zugestellt werden können anstatt wie bislang nur persönlich. Wer einen solchen Bescheid ignoriert, dem sollen in Zukunft eine Reihe von schweren Einschränkungen und Strafen drohen, vom temporären Einfrieren von Bankkonten bis hin zum Entzug des Führerscheins.

Der Gesetzesentwurf kam für viele in der Ukraine als Schock. Obwohl ein Teil der Bevölkerung, insbesondere die Angehörigen von Soldaten, die Maßnahmen begrüßten, war offensichtlich, dass das Gesetz unbeliebt sein würde. Die politische und militärische Führung schoben sich eine Zeitlang gegenseitig die Verantwortung zu: Präsident Selenskyj sagte in einer Rede, die Armeeführung habe verlangt, dass eine halbe Million neue Soldaten mobilisiert werden müssten, was der mittlerweile von Selenskyj entlassene Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, kurz darauf dementierte.

Im Februar legte das Kabinett dem Parlament einen überarbeiteten Gesetzesentwurf vor. Doch die umstrittensten Maßnahmen finden sich nach wie vor in dem Entwurf.

Selenskyj sagte außerdem, er habe die Forderung zunächst zurückgewiesen, um zu prüfen, wie sie finanzierbar sei – denn so viele Soldaten zu rekrutieren, koste den Staat nicht nur viel Geld, sondern entziehe der Wirtschaft auch Arbeitskräfte und damit Steuerzahler. Einige Oppositionspolitiker, beispielsweise Julija Tymoschenko, kritisierten das Gesetz scharf, der parlamentarische Beauftragte für Menschenrechte, Dmytro Lubinets, erklärte, Teile des geplanten Gesetzes seien nicht verfassungsgemäß.

Im Februar legte das Kabinett dem Parlament deshalb einen überarbeiteten Gesetzesentwurf vor. Dieser soll mehr darauf zielen, potentielle Rekruten zu »motivieren«, anstatt die Verweigerer zu »zwingen«, verlautbarte die Regierung. Doch die umstrittensten Maßnahmen – die elektronische Übermittlung von Einberufungsbescheiden oder die Möglichkeit des Einfrierens von Bankkonten – finden sich nach wie vor in dem Entwurf. Das Gesetz wurde in erster Lesung gebilligt und kann nun noch bearbeitet werden.

PR-Katastrophe für das russische Regime

Ob mit neuem Gesetz oder ohne – das grundsätzliche Problem bleibt bestehen: Je länger der Krieg andauert, desto größer wird der Widerspruch zwischen dem Bedarf von Staat und Armee an neuen Rekruten und den Möglichkeiten, diese bereitzustellen. Das trifft auch auf den Kriegsgegner zu: Putins Regime zögerte nach der Invasion lange, eine Mobilmachung zu veranlassen. Erst als im Herbst 2022 die russische Front in der Region Charkiw zusammenbrach, sah er sich dazu gezwungen. Die folgende chaotische Mobilmachung, die dazu führte, dass Hunderttausende Männer aus Russland flohen, war eine PR-Katastrophe für das Regime und wurde nach einigen Wochen stark eingeschränkt, wenn auch nie offiziell beendet.

Die russische Regierung versucht seitdem, möglichst viele Gefängnisinsassen in die Armee zu schleusen, bietet Migranten aus zentralasiatischen Ländern die Staatsbürgerschaft an oder rekrutiert de facto Söldner aus Nepal oder afrikanischen Ländern. Russland hat zwar eine viel größere Bevölkerung als die Ukraine und deutlich mehr Geld, um kontraktnikis, freiwillige Vertragssoldaten, anzuwerben, doch trotzdem gibt es mittlerweile wieder zahlreiche Berichte über einen kritischen Personalmangel in der russischen ­Armee, und es scheint durchaus wahrscheinlich, dass Putin nach der pro ­forma-Präsidentschaftswahl in einem Monat eine erneute Mobilisierung wird verfügen müssen.

Für einen autoritären Staat scheint es einfacher zu sein, Bürger in Soldaten zu verwandeln, doch bisher gelang es der Ukraine, trotz aller gesellschaftlichen Debatten und Konflikte über die Mobilmachung, der russischen Armee standzuhalten. Den Mangel an Ausrüstung und Munition bezahlen jedoch bereits jetzt viele Soldaten mit ihrem Leben.