Der Kriegsgegner Boris Na­deschdin darf nicht zur russischen Präsidentschaftswahl antreten

Gegen Putin, Krieg und China

Die Kandidatur des Oppositionspolitikers Boris Nadeschdin zu den russischen Präsidentschaftswahlen wurde verboten, nachdem er zum Hoffnungsträger der regierungskritischen Russ:innen geworden war.

In der Spätphase der Sowjetunion kursierte folgender Witz: Optimisten lernen Englisch, Pessimisten Chinesisch, Realisten den Umgang mit einer Kalaschnikow. Das nicht ganz einfach zu erlernende Chinesisch geriet im postsowjetischen Russland zu Unrecht ins Hintertreffen, die beiden anderen Varianten schienen da attraktiver. Doch die Sprachvorlieben ändern sich: Wassilij Orlow, Gouverneur der Oblast Amur, hielt anlässlich des chinesischen Neujahrsfests eine Glückwunschrede auf Mandarin. Moskaus Stadtregierung sorgte derweil an vielfrequentierten Orten für eine opulente Dekoration in knalligem Rot und Imbissstände mit chinesischen Snacks.

In diesem Jahr verdrängt das chinesische Neujahrsfest stellenweise den hoch kommerzialisierten Valentinstag – der ist schließlich eine Erfindung des Westens. Während im Osten die geographische Nähe zu China Freundschaftsgesten fördert, erfolgte am westlichen Ende des Lands, genauer in der russischen Ostsee-Enklave Kaliningrad, die Abrechnung mit dem Erbe des deutschen Philosophen Immanuel Kant. »Kant, der hier geboren wurde, hat einen fast direkten Bezug zu dem globalen Chaos, der globalen Neuordnung, mit der wir konfrontiert werden«, zitiert das Online-Portal Fedpress Anton Alichanow, den Gouverneur der Oblast Kaliningrad. »Mehr noch, er hat einen direkten Bezug zum militärischen Konflikt in der Ukraine.«

Wenig überraschend positionieren sich hochrangige Vertreter des russischen Machtapparats einen Monat vor der Präsidentschaftswahl ganz im Einklang mit der vom Kreml vorgegebenen Linie, den Westen ganz und gar abzulehnen. Der dem liberal-konservativen Lager entstammende Boris Nadeschdin, dessen Karriere zu Zeiten von Boris Jelzin begonnen hatte, setzte hingegen alles daran, auszuprobieren, wie weit er damit kommt, als Präsidentschaftskandidat den Vorgaben des Putin-Regimes zu widersprechen.

Nadeschdin ist nicht das, was man sich unter einem lupenreinen Oppositionellen vorstellt.

Nadeschdin ist nicht das, was man sich unter einem lupenreinen Oppositionellen vorstellt. Unter anderem war er Ende der neunziger Jahre als Berater für den damaligen Ministerpräsidenten Sergej Kirijenko tätig und Mitglied im Rat von dessen Bewegung Neue Kraft. Derzeit ist Kirijenko stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung und dort mit dem Bereich Innenpolitik betraut.

Ob Nadeschdin die alte Freundschaft geschützt hat, ist nicht bekannt, für die herrschenden Verhältnisse kam er jedenfalls weiter, als es ihm viele zugetraut hätten, er konnte seine Präsidentschaftskandidatur anmelden. Im Gegensatz zu Jekaterina Dunzowa, die als parteiungebundene Lokalpolitikerin Ende vorigen Jahres nicht einmal ihre Kandidatur anmelden durfte. Beinahe hätte es Nadeschdin sogar geschafft, als Kandidat anerkannt zu werden, doch die Realität holte ihn dann doch ein. In der vergangenen Woche erteilte ihm die Wahlkommission eine klare Absage, indem sie einen Teil der obligatorischen Unterschriften aus der Bevölkerung für eine Kandidatur nicht anerkannte. Höchstens fünf Prozent aller eingereichten Unterschriften dürfen für ungültig befunden werden, damit eine Zulassung erteilt werden kann.

Andere, die eine Kandidatur ins Auge gefasst hatten, scheiterten schon früher als Nadeschdin, weil sie die nötige Anzahl an Unterschriften nicht bereitstellen konnten – 100.000 bei der Aufstellung durch eine Partei, dreimal so viele, wenn es sich um einen parteiungebundenen Kandidaten handelt. Um diese Hürde niedriger zu halten, war Nadeschdin im Dezember in die rechtsliberale Partei Bürgerinitiative eingetreten, die nach den Massenprotesten 2012 gegen unfaire Wahlen entstanden war.

Amtsinhaber Wladimir Putin tritt als Parteiloser an, neben ihm gibt es drei Kandidaten, die im Parlament vertretenen Parteien angehören: Leonid Sluzkij, Vorsitzender der rechtsextremen Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR), Nikolaj Charitonow von der linksnationalistischen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und der 39 Jahre alte Wladislaw Dawankow von der wirtschaftsliberalen Partei Neue Leute, mit Abstand der jüngste Kandidat.

Putin machen sie allein schon deshalb keine Konkurrenz, weil sie allesamt hinter seinem Kurs stehen. Damit die Stimmabgabe für eine weitere sechs Jahre dauernde Amtsperiode Putins wenigstens von ferne einer im Westen üblichen Wahl ähnelt, braucht es die Namen der drei Mitbewerber jedoch auf dem Wahlzettel. Als plebiszitäre Demokratie bezeichnet der Moskauer Soziologe Grigorij Judin Russlands Modell, er ist derzeit häufiger Gast bei russischen Oppositionsmedien und Youtubern. Es gehe darum, Putin im Amt zu bestätigen, und nicht um einen Prozess der politischen Willensbildung.

Als Einziger, der seine Präsident­schaftskandidatur einreichen durfte, erlaubte sich Oppositionspolitiker Nadeschdin offene Kritik an Putin, und nannte den Angriff auf die Ukraine einen »fatalen Fehler«.

Auf Platz zwei hinter Putin in der Wählergunst liegt einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM zufolge Dawankow mit fünf Prozent, jeweils zwei Prozent entfallen auf die beiden anderen Kandidaten. Das aber ist keine Prognose im herkömmlichen Sinn, sondern zeigt lediglich den Toleranzspielraum, den der Kreml für die Abstimmung vorgibt. Die soll sich erstmals über drei Tage hinziehen, vom 15. bis 17. März.

Charitonow ist also weit entfernt von den über 13 Prozent, die er bei den Wahlen 2004 erhielt, als die KPRF ihn schon einmal aufgestellt hatte. Nadesch­din bezifferte sein Potential ausgehend von einer durch ihn in Auftrag aufgegebenen Umfrage bei rund zehn Prozent, in Oppositionsmedien kursierten Schätzungen von bis zu knapp 20 Prozent.

Aber nicht solche Zahlenspiele sind hier von Bedeutung. Als einziger Kandidat erlaubt er sich offene Kritik an Putin, kreidet ihm seine rückwärtsgewandte Politik an, nennt den Angriff auf die Ukraine einen »fatalen Fehler« und plädiert für schnellstmögliche Friedensgespräche. Die stärkere Orientierung auf China in der russischen Politik und Wirtschaft bewertet er negativ und wünscht sich stattdessen eine enge Kooperation mit westlichen Staaten.

Zudem wagte er es im Rahmen seines Wahlkampfs sogar, sich öffentlich mit den Frauen derer zu unterhalten, die nach Bekanntmachung der Teilmobilmachung im September 2022 an die Front eingezogen wurden. Die Frauen fordern mit wachsender Vehemenz die Rückkehr ihrer Angehörigen, in diversen russischen Städten organisiert ihre Bewegung »Weg nach Hause« Blumenniederlegungen an Denkmälern für in Kriegen mit russischer Beteiligung gefallene Soldaten.

Anfangs lief alles recht glimpflich ab, aber am vergangenen Wochenende nahm die Polizei in Jekaterinburg und Moskau etliche Teilnehmende fest. Der Sohn eines Mobilisierten wurde zu acht Tagen Arrest verurteilt. Viele stehen unter Beobachtung des Staatsschutzes, der sie auch zu Hause aufsucht. Marija Andrejewa, deren Ehemann und Bruder zum Militär rekrutiert worden waren und die schnell zur Führungsfigur der Bewegung avancierte, scheut nicht davor zurück, den Krieg gegen die ­Ukraine zu kritisieren.

Vor Nadeschdins Büros bildeten sich lange Schlangen, um für seine Kandidatur zu unterschreiben, 200.000 Unterschriften kamen so zusammen. Seine Unterschriftensammelaktion geriet landesweit zu einer regelrechten Manifestation – ganz legal, da ohne Transparente und Losungen.

Vor Nadeschdins Büros bildeten sich lange Schlangen, um für seine Kandidatur zu unterschreiben, 200.000 Unterschriften kamen so zusammen. Seine Unterschriftensammelaktion geriet landesweit zu einer regelrechten Manifestation – ganz legal, da ohne Transparente und Losungen. Ohne Angst vor Festnahmen konnten Menschen tun, was in Russland ansonsten schon seit Jahren strafbar ist. Sie kamen nicht, um den Politiker Nadeschdin zu unterstützen, sondern um ihrer Haltung Ausdruck zu verleihen, die sich in erster Linie gegen die Fortführung des russischen Angriffskriegs richtet.

Dass sich nun Tausende regimekritische Wählerinnen und Wähler davon überzeugen durften, nicht allein dazustehen, ist viel wert in einem Land, in dem an politische Partizipation seit vielen Jahren schon nicht mehr zu denken ist. Diese Gefühl wiegt frühere Versäumnisse und heutige Ohnmacht nicht auf, doch existiert in der Bevölkerung ein nicht zu unterschätzendes Protestpotential, ohne dass es derzeit für Putins Machtsystem eine relevante Gefahr darstellt. Trotzdem dürften jene langen Schlangen den Wahlstrategen in Putins Präsidialverwaltung Kopfzerbrechen bereitet haben, solche Bilder waren sicherlich nicht vorgesehen.

Vielleicht hatte Kirijenko seinen ehemaligen Mitstreiter einfach nur unterschätzt in der Annahme, dass Nadesch­din sich als systemnaher Politiker nicht über geltende Tabus hinwegsetzen wird. Nadeschdin stellte im Übrigen nach der Zurückweisung seiner Kandidatur klar, dass er auf keinen Fall zu Straßenprotesten aufrufen werde. Es ist allerdings auch kaum zu erwarten, dass einem solchen Aufruf viele Menschen Folge geleistet hätten.