Linke neigen immer ­stärker zur »Wir«-Form und verzichten auf individuelle Freiheit

Verzicht und Bezichtigung

Freiheit, so scheint es, ist heutzutage nur noch auf der Basis kollektiver Selbstbeschränkung zu erkämpfen. Aus der Sehnsucht nach der biederen Sippe, die sich zu diesem Zweck formieren soll, spricht vor allem die Überforderung, individuelle Freiheit überhaupt noch zu denken.

Paternalistische Politträume haben wieder Konjunktur. Es sind altbekannte Phantasien, die da wieder aufleben: Demnach seien die Massen unfähig, sich selbst zu helfen, würden diese jedoch erst mal auf ein Ziel zuschreiten, das ihnen andere dankenswerterweise aufgezeigt haben, dürfte doch noch das Glück auf Erden für sie anbrechen. Obschon die Drohung, die hier stets mitschwingt, evident ist, verdecken die zeitgemäßen Verpackungen dieses Wunsches das Bedürfnis nach individueller und kollektiver Maßregelung, welches sich gegenwärtig im modischen Gestus radikaler Dringlichkeit Bahn bricht.

Dass Freiheit stresst, verraten die heillos miteinander konkurrierenden Wegweiser in Buchform, die vorgeben, auf das vermeintlich korrekte Ziel für alle zu deuten. Bei manchen Publikationen ist es mittlerweile unklar, ob sie besser in die Sparte »Politik« oder die Sparte »Ratgeber« einzusortieren sind.

Während das Bedürfnis nach gemeinsamer Auflehnung als höchstes aller linken Gefühle galt, ist das moralinsauer Zurückhalten der eigenen Ansprüche ein neues Phänomen.

Während in der Regel das Bedürfnis nach gemeinsamer Auflehnung hartnäckig als höchstes aller linken Gefühle galt, ist das moralinsaure Zurückhalten der eigenen Ansprüche, das in jüngster Zeit beobachtet werden kann, ein neues Phänomen. Freiheit, das bedeutet inzwischen weder das Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, noch die Frage danach, was Autonomie und Emanzipation im 21. Jahrhundert sein könnten, sondern die Vorstellung, dass ein agitatorisches »Wir« den eigenen Radius definiert, in dem vor allem der Verzicht walten soll.

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