Die Dialektik der Zensur

Die Zeit und der Zensor

Angesichts von Cancel Culture und politischer Korrektheit beklagen viele ein neues Zensurregime. Verkannt werden dabei die ambivalente, gar produktive Bedeutung der Zensur in der bürgerlichen Gesellschaft sowie die spezifischen Merkmale des neuen Moralismus.

Seit die populäre Literatur der bürgerlichen Epoche, von Karl May bis Agatha Christie, von Buchverlagen in sprachpolitisch und antirassistisch renovierten Neuauflagen herausgebracht wird und eine moralinsaure politische Korrektheit immer stärker das öffentliche Sprechen und Schreiben an den Hochschulen, im Kulturbetrieb und im Journalismus bestimmt, meinen Neoliberale und -konservative aus dem Milieu von Cicero bis Die Achse des Guten, in dieser Entwicklung Züge von George Orwells Dystopie »1984« wiederzuerkennen.

Wokes Denken wird dementsprechend als »Doublethink«, die genderpolitische und postkoloniale Zurechtschwadronierung der Alltags- und Wissenschaftssprache als »Newspeak« denunziert. Verbunden mit solchen Orwell-Analogien ist die Suggestion, dass sich eine postdemokratische Diktatur am Horizont abzeichne, in der das Denken und Sprechen der Bürger durch ­moralische Zensur eingeschränkt oder gleich ganz zum Schweigen gebracht zu werden drohe.

Postmoderne Fürsorgegesellschaft

Manche Aspekte dieser Orwell’schen Deutung der Gegenwart leuchten zunächst unmittelbar ein. Die Tilgung inopportuner Worte und Ideen sowie die sprachliche Harmonisierung und Verharmlosung – historischer wie gegenwärtiger – politischer Gewalt durch Leute, die selbst in Zitaten von Martin Luther King nicht mehr das Wort negro hören oder lesen wollen, erinnern an die Euphemisierung und vedruckste Umschreibung für gefährlich erklärter Begriffe in Orwells »Newspeak«.

Die staatlich oktro­yierte Alltagsschizophrenie des »Double­think«, die die Menschen anhält, über politisch inkommensurable Gedanken in einer erfahrungslosen, standardisierten Diktion zu reden, die die Gehalte, die ausgedrückt werden sollen, im selben Atemzug zum ­Verschwinden bringt, ähnelt der Verquastheit, mit der postkolonial geschulte Akademiker und Studenten über Fragen von Geschlecht, Ethnie oder Rasse zu sprechen pflegen.

Beginn einer Selbstreflexion könnte die Einsicht sein, dass Zensur in der Sphäre der Kunst, der Literatur und Publizistik nie ein singuläres Charakteristikum totalitärer Staaten oder Diktaturen gewesen ist.

Doch solche Analogien lenken davon ab, dass die starr in geopolitische Einflusssphären aufgeteilte Welt von »1984« mit der transnationalen Gegenwart weniger gemein hat als mit der von 1949, als Orwells Roman erschien und sich bereits die Blockkonfrontation der Nachkriegsepoche ankündigte. Überdies lässt sich Orwells Dystopie eher mit dem damaligen Begriff des Totalitarismus ana­lysieren als mit Kategorien einer postmodernen Fürsorgegesellschaft, in der es statt rigider nunmehr flexible Kontrollmechanismen gibt, deren psychopolitischer Zugriff auf die Individuen nicht mittels »Gedankenkontrolle«, sondern mittels »Nudging« erfolgt und in der niemand ernsthaft an einen omnipräsenten, sei es auch imaginären »Großen Bruder« glaubt.

Beliebige Metaphern

Außerdem bringen Versuche, autoritäre gesellschaftliche Tendenzen der Gegenwart durch Metaphern literarischer Dystopien auf den Punkt zu bringen, immer die doppelte Gefahr der Stereotypie und der Beliebigkeit mit sich. So lassen sich mehr oder minder plausibel an Stelle von Orwell auch andere Autoren als Bildspender für die Kritik der Gegenwart heranziehen. Wenn es schon ein dystopisches Analogon zur Jetztzeit braucht, eignet sich nicht Aldous Huxleys 1932 – 17 Jahre vor Orwells Buch und an der Schwelle zum »Dritten Reich« – erschienener Roman »Brave New World« viel besser dafür, mutet es nicht sogar moderner an?

Bei Huxley bedarf es anders als bei Orwell keines zentralstaatlichen Zwangs, damit die Individuen den Imperativen der ihnen auferlegten besseren Welt gemäß leben. Zur Konformität genügt ein durch Sozialisa­tion, massenhafte Psychomanipulation und Glücksdrogen induzierter vorauseilender freiwilliger Gehorsam. Sexualität und die Fähigkeit zur Empathie, bei Orwell potentiell subversive Affekte, sind bei Huxley in das neue Gemeinschaftsbeglückungssystem integral eingebaut; die neue Unfreiheit wird von den Individuen spontan und authentisch als Freiheitsgewinn empfunden.

Oder sollte, um ein drittes Beispiel heranzuziehen, angesichts der zunehmenden freiwilligen Analphabetisierung der Menschen und des Kursverlusts von Bildung und historischem Urteilsvermögen nicht eher Ray Bradburys 1953 erschienener Roman »Fahrenheit 451« bemüht werden, in dem der Besitz und das Lesen von Büchern illegal sind und die Feuerwehr die Aufgabe hat, Bibliotheken zu verbrennen?

Alle diese Vergleichsdystopien sind teilweise geeignet, teilweise ungeeignet zur Dechiffrierung der Gegenwart. Je nach taktischem Zweck lässt sich die eine oder die andere anführen. Wirklich diagnostische Kraft haben sie eher in Bezug auf die Epoche, auf die sie historisch gemünzt sind, als auf das Hier und Jetzt. Auf sie zu rekurrieren, um die Gegenwart zu kritisieren, führt immer auch von der Wahrnehmung der Gegenwart weg.

Abgesehen davon, dass solche zum Zweck der Denunziation des Hier und Jetzt bemühten Analogiebildungen die konkrete Verankerung dystopischer Romane in ihrer jeweiligen Epoche übergehen, sind sie auch in anderer Hinsicht trügerisch und enttäuschend. Theodor W. Adorno hat die irreführende Ernüchterung, die dystopische Literatur beim aufmerksamen Leser bewirkt, am Beispiel von »Brave New World« präzise beschrieben. Gerade indem dystopische Romane als bedrohlich und destruktiv wahrgenommene Charakteristika ihrer jeweiligen Zeit in die Zukunft hinein verlängern, stellen sie die ästhetische Phantasie in den Dienst der Gegenwart, die vor dem, was ihr droht und bereits in ihr nis­tet, gewarnt werden soll, und gestalten die imaginierte erschreckende Zukunft zu diesem Zweck nach dem Modell der je eigenen Wirklichkeit.

Deshalb tendieren Dystopien dazu, zugleich falsche Übertreibung und Verharmlosung zu betreiben: Falsche Übertreibung praktizieren sie, weil sie die Gefahren, vor denen sie warnen, nach dem Vorbild gegenwärtiger Ressentiments, Ängste und Vorurteile modeln; verharmlosend sind sie, weil sie die Gefahren, die womöglich tatsächlich drohen, eben dadurch unterschätzen oder gar nicht erst erkennen.

Eine Zensur findet nicht statt

Was die erschreckenden Tendenzen der Gegenwart, die durch Orwell-Reminiszenzen auf den Begriff gebracht werden sollen, tatsächlich mit bedrohlichen gesellschaftlichen Formierungen der Vergangenheit verbindet, ist die Tatsache, dass die Menschen das, was sie einander und sich selbst antun, nie bloß aus Furcht vor dem totalen Staat, der Macht und den Herrschenden, sondern immer auch aus freien Stücken begehen. Schon allein deshalb ist es falsch, in Bezug auf das neue genderpolitische und antirassistische Sprechen, das die Öffentlichkeit immer stärker dominiert, von einer Zensur zu reden.

Kein Mensch zwingt Studenten, Dozenten, Verwaltungsmitarbeiter oder Moderatoren, ihr Jasagen zum Gender-Paradigma bei jeder Gelegenheit durch den sogenannten Glottisschlag zu bekräftigen, den an ein Stottern oder Stammeln erinnernden stimmlosen glottalen Verschlusslaut beim Aussprechen gegenderter Worte. Kein Mensch zwingt Kunden, sprachverbesserte Ausgaben von Klassikern zu erwerben, deren originale Fassung sich fast immer entweder antiquarisch oder im aktuellen Buchhandel kaufen lässt. Eine staatlich oder zivilstaatlich oktroyierte politisch korrekte Einschränkung oder eine strafrechtliche Reglementierung für inopportun befundener Literatur und Kunst jenseits bestehender Indizierungen existiert nicht.

Szene aus dem österreichischen Film »Wegen Verführung Minderjähriger« von 1960

Kontroverser Bestseller. Trotz, aber auch wegen Kürzungen, Zensurdrohungen und Verboten wurde Vladimir Nabokovs »­Lolita« ein Bestseller (hier eine Szene aus dem österreichischen Film »Wegen Verführung Minderjähriger« von 1960)

Bild:
picture alliance

Wenn trotzdem immer mehr sich für moralisch fortschrittlich haltende Menschen sich bei der Kommunikation einer Art von verwaltungs­dadaistischer Sprache bedienen, wenn sie sich die Ohren zuhalten und schreien, falls jemand »Neger« sagt, wenn sie bei der Anrede auf der Verwendung von Phantasiepronomen bestehen und die Schriftsprache zu identitätspolitischen Zwecken mit Sternchen versehen, die in den gedruckten Texten Else Lasker-Schülers noch als Schmuck und Ornament dienten, so geschieht all das nicht, weil ein Großer Bruder oder eine Große Mama es befähle, sondern, weil offensichtlich immer mehr Menschen Gefallen daran finden, sich so zu verhalten.

Eine Zensur findet nicht statt: Noch die eklatanteste Verdummung, die aus solchen Sprachprocederes resultiert und von der sie zeugen, haben sich die Individuen selbst zuzuschreiben. Der gewohnheitsmäßige Rückgriff auf Metaphern dystopischer Literatur erweist sich angesichts dessen als eine Form der Selbstberuhigung, einer Empörung, die die Furcht vor dem, worüber sie sich empört, zugleich stillstellen soll: Wenn das Schlimme, das uns droht, uns nur zu geschehen droht, müssen wir nicht der Möglichkeit ins Auge sehen, dass wir selbst es sind, die uns und einander durch unser eigenes Handeln eine schreckliche Zukunft bereiten.

Produktive Zensur

Beginn einer Selbstreflexion könnte die Einsicht sein, dass Zensur in der Sphäre der Kunst, der Literatur und Publizistik nie ein singuläres Charakteristikum totalitärer Staaten oder Diktaturen gewesen ist. Es ließe sich sogar behaupten, dass eine transparenten Regeln folgende, die vorherrschenden Kodizes des Zeitgeschmacks und Moralempfindens widerspiegelnde und juristisch eingehegte Zensur vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert weit eher typisch für bürgerliche Staaten gewesen ist. Große Teile der qualitativ modernen Literatur jener Epoche – von Gustave Flauberts »Madame Bovary« über Arthur Schnitzlers »Reigen«, den Felix Salten zugeschriebenen Roman »Josefine Mutzenbacher«, James Joyces »Ulysses« und Vladimir Nabokovs »Lolita« bis zur Prosa Arno Schmidts – wären so, wie sie vorliegen, niemals entstanden ohne die Auseinandersetzung der Autoren mit den Zensurbestimmungen, mit denen sie sich konfrontiert sahen.

An jedem einzelnen dieser Werke ließe sich zeigen, dass sie die ihnen genuine Sprachgestalt durch Integration und zugleich Negation der in der jeweils zeitgenössischen Zensur kodifizierten vorherrschenden Sitten- und Moralvorstellungen erhielten, dass hier also Zensur, weil die Regeln ihrer Anwendung bekannt und berechenbar waren, nicht nur die ästhetische Form produktiv geprägt, sondern auch den Schock, den die Werke auslösten, mit induziert hat, weil die Möglichkeit, Zensur zu durchbrechen, indem man ihre ­Bedingungen beachtet, den Skandal, den die Werke auslösten, begüns­tigte.

Die gegenwärtigen Formen der Sprach- und Ausdrucksreglementierung, die von ihren Gegnern als Zensur missverstanden werden, haben die historische Erosion jener Zensur zur Voraussetzung, die die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat.

In diesem Sinne bringen die Zensurbestimmungen in bürgerlichen Gesellschaften nolens volens die Ermunterung zum Ausdruck, sie zu umgehen und im Versuch ihrer Überschreitung die jeweilige ästhetische Form zu schärfen und zu kristallisieren. Flauberts Maxime vom seul mot juste, vom einzig treffenden Wort, das Bewegungsgesetz seiner Prosa sein sollte, reflektiert die Nötigung, der Gesellschaft, dem Allgemeinen, dem falschen Ganzen recht zu geben, indem man sie negiert; ihnen das zu konzedieren, was man ihnen bestreitet.

Auf etwas Ähnliches zielt Karl Kraus’ häufig zitierter, aber nur selten interpretierter Aphorismus: »Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.« Zensur, wie Kraus sie sah, war eine konstitutiv janusköpfige, ambivalente Institution. Indem sie die öffentliche, literarische, poetische und journalistische Rede einschränkte und reglementierte, prägte sie ihr zwar die Vorurteile, Borniertheiten und Schandmale der Welt auf, in deren Namen sie herrschte. Gleichzeitig galt sie Kraus aber immer auch als Appell, sie zu transzendieren und das Gerüst der Normen und Erwartungen, das sie repräsentierte, zusammenbrechen zu lassen.

Darum fürchtete Kraus den Zensor, der für ihn Mediokrität verkörperte und schon deshalb keine Gefahr war, weniger als den stümperhaften Setzer, der falsche Druckfehler (es gibt auch richtige) in seine Sätze patzte, oder den schlechten Leser, der seine Texte aus falschen Gründen schätzte. Die Zensur war für Kraus ebenso wie für Flaubert oder später für Schmidt ein kleineres Übel der Gesellschaft, in der er schrieb und die er verachtete.

Getilgte Vergangenheit

Die gegenwärtigen Formen der Sprach- und Ausdrucksreglementierung, die von ihren Gegnern als Zensur missverstanden werden, haben die historische Erosion jener Zensur zur Voraussetzung, die die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat. Als ästhetische und publizistische Institution war jene der objektive Ausdruck des Selbstwiderspruchs der bürgerlichen Gesellschaft, die die Konsequenzen der von ihr beförderten Freiheit und Gleichheit im selben Moment, da sie sie garantierte, einhegen und zurücknehmen musste. Gender-Sprache, freiwillig betriebene politisch korrekte Sprachkosmetik, Trigger-Warnungen und dergleichen sind demgegenüber Ausdruck einer Gesellschaft, deren Mitglieder jenen Widerspruch kaum noch erfahren, geschweige denn reflektieren können, und die sich als systemtheoretisch vernetzten Kommunikationsverbund betrachtet, dessen freies Fließen kein Zensor und kein Reaktionär mehr stören darf.

Getilgt werden muss aus diesem Kreislauf alles, was an Vergangenes, Historisches, Gewordenes, wie auch alles, was an die Offenheit der Zukunft erinnert. Das Wort »Neger« erregt nicht deshalb Anstoß, weil es beleidigend ist, sondern, weil es an Vergangenes erinnert: an historische Epochen und Vergesellschaftungsformen, von denen man nichts mehr wissen will. Und literarische oder biographische Darstellungen des Holocaust müssen mit Trigger-Warnung versehen werden, nicht weil sie einzelne Rezipienten traumatisieren könnten, sondern weil all das vorbei ist und man von nichts, was vorbei ist, etwas wissen will.

Die bürgerliche Zensur war eine bis ins Innerste historische Institution: Ausdrucks- und Reflexionsform einer Epoche und ihrer eigenen Grenzen. Das neue Sprachregime, wenn man es so nennen will, ist genuin antihistorisch: Ausdruck der Weigerung, irgendetwas zu akzeptieren, was Vergangenheit, Geschichte und Zukunft hat, was geworden und geschwunden ist und an die Zeitlichkeit als Konstituens des Menschlichen erinnert. Es ist keine Zensur, sondern eine Müllabfuhr.