Robinson mit Kettensäge
Freiheit im Iran oder Freiheit in Niederbayern beziehungsweise Argentinien zu fordern, sind entschieden zweierlei. Im ersten Fall ist es die nicht nur legitime, sondern selbstverständliche Forderung nach dem, was in der westlichen Geistesgeschichte gemeinhin als »negative Freiheit« bezeichnet wird: die Freiheit jedes erwachsenen Individuums, über sich, seinen Körper und dessen Fähigkeiten selbst zu bestimmen und nicht hinnehmen zu müssen, dass sie willkürlich beschnitten wird, wie es bei den Leibeigenen und Sklaven der Fall war (in der westlichen Welt zumindest kann man wohl das Präteritum wählen) und bei den Frauen in der Islamischen Republik der Fall ist.
Dass diese in der bürgerlichen Gesellschaft, sei es in Argentinien oder in Niederbayern, grundsätzlich gewährte negative Freiheit praktisch wieder in Unfreiheit im Namen der Freiheit umzuschlagen tendiert, liegt wiederum in Eigentum und Tausch begründet. Denn das Naturrecht an sich selbst erstreckt sich auch auf alle von diesem Selbst akquirierten Güter: Über sie frei zu verfügen – oberste Maxime des Liberalismus –, führt dazu, die Freiheit anderer zu entwerten, die sich verdingen müssen.
Diese Fesseln des Staats (idealer- und utopischerweise organisiert als Assoziation der Produzenten und Reproduzenten) – Steuern, Vorschriften, Abgaben, Kontrollen et cetera – erscheinen dem Libertären, also dem enthemmten, kompromisslosen Liberalen, als Diebstahl an seiner eigenen Freiheit.
»Verdingen« ist dabei wörtlich zu verstehen, beim Verkauf der Arbeitskraft wird aus dem Vertragsfreien zugleich ein Ding, eine Ware, der keinerlei Autonomie zukommt. Deswegen forderten sozialistische Kritiker im Laufe der beiden zurückliegenden Jahrhunderte schließlich »positive Freiheit«, die den durch die liberale Freiheit Entsubjektivierten durch Eingriffe des Staats in die Eigentumsverfügung zumindest ein gewisses Maß an Autonomie zurückgibt. Diese Fesseln des Staats (idealer- und utopischerweise organisiert als Assoziation der Produzenten und Reproduzenten) – Steuern, Vorschriften, Abgaben, Kontrollen et cetera – erscheinen dem Libertären, also dem enthemmten, kompromisslosen Liberalen, als Diebstahl an seiner eigenen Freiheit.
Die versteht er, wie noch jeder liberale Ökonom, als die Robinsons auf der einsamen Insel. Marx’ Kritik an den liberalen Ökonomen als Verwissenschaftler der Crusoe’schen Phantasie fällt zu Recht überaus deutlich aus. Der liberale Robinson kann die Welt um sich herum nach Gutdünken gestalten, denn er trifft zwar auf natürliche Hindernisse, aber nicht auf Hindernisse, die sich aus der Präsenz und den Rechten anderer Menschen ergeben.
Dass sein Selbstbild bloße Fiktion ist, macht den Liberalen, der sich für Robinson hält, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt irrer: Alles, was seiner Freiheit Beschränkungen auferlegt, erklärt er nun seinerseits zur Fiktion, zum bösartigen Trug. Gewerkschaften etwa sind ihm nicht mehr Reaktionen auf die kapitale Konsequenz der negativen Freiheit, sie verursachen vielmehr, dass die prästabilierte Harmonie des Tauschs aus der Balance gerät.
Und der irre Gewordene geht noch weiter: Selbst Naturgrenzen erkennt er nicht mehr an, sofern die der Freiheit im Weg stehen. Viren sind ihm Verschwörungen, und dass der Kapitalismus die natürlichen Lebensgrundlagen schädigt, ist ihm bloße Mär. Argentiniens oberster Anarchokapitalist und Kettensägenschwinger, Javier Milei, hat diese Stufe erreicht, Christian Lindner und Hubert Aiwanger bewegen sich darauf zu.
Getragen werden solche Figuren von einer gesellschaftlichen Strömung, die den Neoliberalismus und dessen Versprechen, keine Rücksichten mehr nehmen zu müssen, verinnerlicht hat. Deshalb meint die Forderung nach Freiheit inmitten liberaler Demokratien heute zuvörderst: Meinungsfreiheit, also die Freiheit, seine Ansichten nicht an der Sache, sondern allein am inneren Antrieb auszurichten; Handlungsfreiheit, also die Freiheit, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen auf die Existenz anderer und auf ihr Recht zu existieren; Freiheit des unabhängigen Denkens, also die Freiheit, seine Meinung keinerlei Reflexion unterziehen zu müssen.