Deutsche Rechtsextreme interessieren sich für Literatur

Die Bücher-Reconquista

Deutsche Rechtsextreme spielen sich gerne als Verteidiger der literarischen Kultur auf. In Wirklichkeit instrumentalisieren sie die Literatur und degradieren sie zur Propaganda.

Die Literatur ist gefährdet! So jedenfalls liest man es heutzutage häufiger, zum Beispiel in der kürzlich erschienenen Streitschrift »Der entmündigte Leser – Für die Freiheit der Literatur«: Melanie Möller, Professorin für Lateinische Philologie an der Freien Universität Berlin, beklagt darin, dass Triggerwarnungen, sogenannte Sensitivity Readings durch Verlage und allgemein die politische Korrektheit der »Woken« die Autonomie der Literatur gefährdeten.

Es überrascht kaum, dass Rechtsex­treme diese Debatte aufgreifen. In der jüngsten Ausgabe der Youtube-Sendung »Aufgeblättert. Zugeschlagen – Mit Rechten lesen« empfahl die rechtsextreme Publizistin Ellen Kositza Möllers Buch: Es zeige, wie sehr die Literatur durch die »Cancel Culture« gefährdet sei.
Kositza präsentiert »Aufgeblättert. Zugeschlagen« gemeinsam mit der Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen. Das Youtube-Format erinnert an »Das literarische Quartett«: Mit einem wechselnden Gast wird gut eine Stunde über Literatur diskutiert, jeder bringt ein Buch mit.

Die Sendung ist nur ein Beispiel unter vielen: Deutsche Rechtsextreme beschäftigen sich gerne mit Literatur. Im Podcast »Von rechts gelesen« des Jungeuropa-Verlags diskutieren zum Beispiel der Autor Volker Zierke und der Verleger Philip Stein neben popkulturellen Themen auch literarische Werke. Stein leitet den Verein »Ein Prozent«, der Spenden für rechtsextreme Anliegen sammelt, und ist damit eine zen­trale Figur in der völkischen Szene um den Verleger Götz Kubitschek, den Ehemann von Ellen Kositza.

Im Buch »Vorlesen« entwerfen Ellen Kositza und Caroline Sommerfeld einen Kanon der Kinder- und Jugendliteratur und geben Tipps, wie sich die eigenen Kinder buchaffin erziehen lassen.

Kubitscheks Verlag Antaios und die Zeitschrift Sezession, deren Chefredakteur er ist, spielen eine wichtige Rolle bei der rechtsextremen Literaturpolitik. Ursprünglich wurde die Sezession vom neurechten Institut für Staatspolitik (IfS) herausgegeben, das vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsex­trem eingestuft wurde. Seit Kubitschek das IfS im Mai aufgelöst hat – vermutlich um einem möglichen Vereinsverbot zuvorzukommen –, publiziert die Firma Metapolitik Verlags UG die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift.

2020 widmete Sezession eine ganze Ausgabe dem Thema »Lektüre«. Seit 2021 wird ihr gelegentlich das literarische Begleitheft »Phonophor« beigelegt mit »Kurzprosa aus dem oppositionellen Milieu«. Regelmäßig veröffentlicht die Sezession Literaturrezensionen. Besprochen wird meistens aktuelle Belletristik, die auch in den Feuilletons der großen Zeitungen Thema ist, zum Beispiel von T. C. Boyle, Leif Randt oder Juli Zeh.

»Kulturrevolution von rechts«

»Es gibt keine andere politische Strömung, die sich in den letzten Jahren so intensiv mit Literatur beschäftigt hat wie die Neue Rechte« – diese These stellte der Literaturwissenschaftler Torsten Hoffmann, der in Stuttgart das Forschungsprojekt »Neurechte Literaturpolitik« aufgebaut hat, Anfang des Jah­res in einem Interview mit dem Deutschlandfunk auf.

Alexander Fischer ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Stuttgarter Forschungsprojekt beteiligt. Im Gespräch mit der Jungle World begründet er das Interesse an Literatur als Teil der »metapolitischen« Strategie der extremen Rechten, die diese selbst als »Kulturrevolution von rechts« begreifen. »Es ist der Versuch, mit Hilfe der Literatur Dinge sagen zu können, die im politischen Bereich nicht sagbar sind, weil man sich mit Hilfe der Literatur immer wieder ins Uneindeutige, ins Mehrdeutige, ins Fiktionale zurückziehen kann«, so Fischer.

In dem Buch »Vorlesen« zum Beispiel entwerfen Ellen Kositza und Caroline Sommerfeld einen Kanon der Kinder- und Jugendliteratur und geben Tipps, wie sich die eigenen Kinder buchaffin erziehen lassen. Auf den ersten Blick scheint dieser Kanon nicht aus rechten Büchern zu bestehen. Neben Kinderbuchklassikern von Astrid Lindgren, Michael Ende und Sven Nordqvist wird jedoch auch das Buch »Deutsche Geschichte für junge Leser« von Karlheinz Weißmann empfohlen. Weißmann war bis 2014 Leiter des IfS und Mitherausgeber der Sezession.

»Reds don’t read«

In dem Buch ging es Weißmann darum, »die Heranwachsenden mit Stolz auf ihr Vaterland zu erfüllen«, sagte er im Interview mit der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit. In der Schule beschäftige man sich nämlich nur »zwecks Festigung des schlechten Kollektivgewissens« mit »der nationalen Vergangenheit«. Eine solche Haltung findet sich auch in Kositzas und Sommerfelds Buch. So schreibt Sommerfeld von der »eindeutigen Überdosis« an Jugendbüchern, die das »Dritte Reich« behandeln und bei denen sie als Jugendliche gar nicht mehr gewusst habe, »welches Mädchen im KZ oder im BDM gelandet war«.

Gewissermaßen die Erwachsenenversion des Buchs zur Kinderliteratur brachten Kositza und Kubitschek im Jahr 2020 heraus. In »Das Buch im Haus nebenan« berichten rechtsextreme Publizist:innen wie Benedikt Kaiser, Martin Sellner und Martin »Lichtmesz« Semlitsch von prägenden Lektüreerlebnissen. Das Buch sei »ein Beleg dafür, wie tief, breit und gründlich die Neue Rechte liest und denkt«, heißt es auf der Website des Antaios-Verlags – ­offensichtlich ist das für das eigene Selbstbild sehr wichtig.

Alexander Fischer weist darauf hin, dass zur Selbstinszenierung der Neuen Rechten als »Lesebewegung« die Abgrenzung von einer vermeintlich nicht ­lesenden Linken gehört. So schreibt Benedikt Kaiser in der »Lektüre«-Ausgabe der Sezession: »Reds don’t read« – die Roten lesen nicht. Er mahnt aber auch, dass die »Parole erst dann bildhaft, praktisch und schneidig« werde, wenn »der Wille zur geistigen Rüstung offensichtlich« sei. Deshalb müsse »das ›Lesen als Szene­pflicht‹« gelten.

Autonomie der Literatur

Diese Abgrenzung erlaube es den Rechten, sich als apolitische Bil­dungs­bürger:innen zu inszenieren, die sich tief in der deutschen Kulturtradition und Ideengeschichte verwurzelt sähen. Dabei werde auch ein Kulturpessimismus verbreitet, der die europäische Kultur und Literatur von einem fatalen Verfall bedroht sieht, wofür die Linken verantwortlich gemacht würden.

Der angebliche Verfall der Literatur zeigt sich Sommerfeld und Kositza zufolge auch bei Kinder- und Jugendbüchern. Sie empfehlen in »Vorlesen« kaum zeitgenössische Bücher, denn diese seien häufig »literarisch wert­los«: Es gebe im Spätsommer 2019, so die beiden Autorinnen, »heiß empfohlen von den staatsnahen Medien, Bücher wie ›Schamlos‹ (toughe norwegische Muslima berichten), ›Bus 57‹ (über eine tragisch endende Liebe zwischen einem weißen Mädchen und ­einem Jungen of color); ›Kinder mit Stern‹ (erklärt sich von selbst) und ›Ganz schön kaputte Tage‹ (erklärt sich auch von selbst): Müssen Kinder in solche Untiefen tauchen, um mithalten, mitschwimmen im Hauptstrom, mitreden zu können?«

Auffällig ist, dass in dieser Aufzählung von Büchern, die als literarisch wertlos bezeichnet werden, jeglicher Bezug auf literarische Qualität fehlt. Beurteilt wird allein die – vermutete – politische Botschaft. Die Thematisierung von Islam, Rassismus, Nationalsozialismus beziehungsweise Antisemitismus oder mentaler Gesundheit widerspricht dem rechtsextremen Weltbild – also muss es sich um schlechte Literatur handeln.

Dieses Muster zeigt sich immer wieder: Die Rechtsextremen predigen die Autonomie der Literatur, praktizieren jedoch das genaue Gegenteil. Deutlich machte das auch ein Vortrag von Götz Kubitschek in Wien im November vergangenen Jahres über Fahrenheit 451 von Ray Bradbury. In dem dystopischen Roman geht es um einen Staat, der Bücher verboten hat und in dem es die Aufgabe der Feuerwehr ist, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen.

»Reconquista der Hochschulen«

In seiner Rede bei der Kundgebung vor dem Vortrag rief Kubitschek die Anwesenden dazu auf, mehr zu lesen, allerdings mit einer bestimmten Absicht: »Wir müssen einen Roman nach dem anderen, ein zentrales Werk nach dem anderen, für uns vereinnahmen. Aus rechter Sicht lesen und daraus das machen, was man eine Rückeroberung oder Reconquista an der Universität nennen sollte.«

Im Vortrag sagte er, dass sein politisches Lager die Chiffre»Fahrenheit 451« längst vereinnahmt habe. Es sei »etwas sehr, sehr Wichtiges, dass wir Dinge für uns vereinnahmen, obwohl das auch eine Anmaßung ist. Das Buch gehört nicht den Rechten, nicht den Linken, das gehört denen, die lesen wollen.«

Doch direkt danach argumentierte er, dass der Roman, der 1953 erschienen ist, eindeutig die Gegenwart vorausgreife. Obwohl Kubitschek also auf die Vieldeutigkeit des Werks verweist, macht er aus dem literarischen Werk einen politischen Kommentar im Sinne seiner eigenen Agenda.

Zu Kubitscheks Auftritt hatte auch eine damals neu gegründete Gruppe namens Aktion 451 aufgerufen. Auf ihrer Website schreibt sie, ihr Ziel sei es, eine »Reconquista der Hochschulen« durchzuführen. Eigenen Angaben ­zufolge organisiert die Aktion 451 neun Lesekreise in Deutschland und drei in Österreich. Ihr Motto: »Wir lesen. Und wir handeln«.

»Der Neuen Rechten geht es darum, Begriffe, Metaphern und Narrative im Sinne der eigenen Welt­anschau­ung in die Welt zu spülen.« Alexander Fischer, Forschungs­projekt Neurechte Literaturpolitik

Die vereindeutigenden und zum Teil propagandistischen Lektüren literarischer Werke passen nicht recht zur rechtsextremen Inszenierung als belesene Intellektuelle und Bewahrer der Literatur. Alexander Fischer meint jedoch, dies sei aus strategischer Per­spektive nicht unbedingt eine Schwäche. Vielmehr versuche die Literaturkritik der Neuen Rechten dadurch, sowohl bürgerliche als auch rechtsextreme Milieus zu erreichen. Einerseits werde »ein ästhetisches Interesse vorgeführt, das Identifikationsmomente für das bürgerliche Milieu liefert«.

Hier punkten die Rechtsextremen mit der Angst vor dem kulturellen Verfall: Die jungen Leute läsen nicht mehr, und wenn, dann nur noch im Sinne einer woken Indoktrination – so die Erzählung der Neuen Rechten. Gleichzeitig werde in der Sendung von Kositza und Dagen – ob Inszenierung oder nicht – »teilweise wirklich über Literatur aus unterschiedlicher Perspektive gestritten«, stellt Fischer fest. Auch das liefere ­Anknüpfungspunkte für das bürgerliche Milieu. Andererseits werde die »unpolitisch suggerierte Ästhetik« auch im Sinne der eigenen – rechtsex­tremen – Gesinnung instrumentalisiert.

»Der neuen Rechten geht es nicht um Kohärenz. Es geht ihnen darum, Begriffe, Metaphern und Narrative im Sinne der eigenen Weltanschauung in die Welt zu spülen«, meint Fischer. Wenn diese Narrative widersprüchlich seien, tue das der propagandistischen Wirkung keinen Abbruch, sie seien womöglich sogar effektiver.