10.05.2017
Die Strategien der französischen Neoreaktionäre

Neoreaktionäre im Klassenkampf

Die französischen »néo-réacs« führen einen Kulturkampf um die soziale Frage.

Als Claus Leggewie 1995 die Generation der »89er« analysierte, die angetreten sei, die Meinungsführerschaft über das Erbe der »68er« anzutreten, antwortete der Redakteur der Jungen Freiheit, Roland Bubik, mit dem strategischen Bekenntnismanifest »Wir 89er«, in dem er eine Generation junger deutscher Neurechter affirmativ porträtierte. Etwa zur selben Zeit hatte sich der kritisch-zeitdiagnostische Charakter der intellektuellen Debatten neokonservativer Provenienz allmählich abgenutzt und einen Resonanzboden für ideologiepolitische Auseinandersetzungen um Geschichtspolitik und nationale Iden­tität zurückgelassen, den die Parteigänger der Neuen Rechten in tellurische Schwingungen versetzten.

Es war die Zeit, in der die Junge Freiheit rasant an Einfluss gewann, der Ullstein-Verlag ein stramm rechtskonservatives Sortiment verlegte und ein Teil der antibürgerlichen Nachwuchsrechten nicht mehr als halbstarke Jugendbanden auftreten wollte, sondern sich um eine manierliche Selbstdarstellung als Intellektuelle bemühte. Weil »die alten Dinge nicht einfach überlebt und tot sind«, wie Botho Strauß in seinem stilprägenden »Bocksgesang« geschrieben hatte, wollte man wieder »von ganzem Wesen« rechts sein, sich fortan wieder jungkonservativ heißen und die »linke Mehrheitskultur« mit einem konservativen »Lebensgefühl« irritieren. »Die Schamverletzungen, die die anarchofidele Erst-Jugend um 1968 herum beging, sind nun von rechts beerbt worden. Die neuen Jugendlichen tun zunächst nichts anderes als die ihr vorausgegangene Generation – sich großtun, Initiation betreiben durch Tabuzertrümmerung.« Heute lässt sich mit Blick auf diese Generationenmetaphorik konstatieren, dass manche der selbsternannten »Anti-68er« wenig später noch eine auffällige Rolle bei der Modernisierung der deutschen Rechten spielen sollten. Bubik bewies bei der Auswahl der damals 22jährigen Ellen Kositza, des 28jährigen Dieter Stein und des 19jährigen Manuel Ochsenreiter durchaus Gespür für eine politische Generation, »mit der man in Zukunft zu rechnen haben wird«.

Liberalismus, Freihandel und ewiger Frieden weichen bei Alexandre Devecchio einer konfliktreichen Zukunft, die durch religiöse Sehnsucht, kommunitaristische Zusammenrottung und ein Wiederaufleben ethnischer Kategorien identitär
geprägt wird.

Zwischen der Gegenwart und dem deutschen »Wendejahr« 1989 liegt die Spanne einer neuen Generation, in deren Namen sich abermals junge Rechte anmaßen, eine tabuzertrümmernde Initiation zu betreiben. Vor allem in Frankreich wird angesichts der überproportionalen Erfolge des Front national (FN) bei jungen Wählern derzeit verstärkt über eine rechte Generation der Millennials und einen »konservativen Frühling« diskutiert. Zum Teil handelt es sich dabei um strategische Selbststilisierungen eines dezidiert rechten Milieus zwischen Konservatismus und Neuer Rechter, das die formal gewordene neokonservative Kulturkritik mit ­rebellischem Gestus und populistischer Semantik in die Sprache des postliberalen Zeitalters übersetzt. Im argumentativen Zentrum stehen dabei die lange Zeit aufgeschobenen Diskussionen um Identität, diskur­sive Repräsentation, die Fragmentierung der Gesellschaft und die sozialen Folgekosten der Deindustrialisierung, die nun die ressentimentge­ladene Form eines Kulturkampfs annehmen und umso verbissener geführt werden.

Auffällig sind dabei gewisse Ähnlichkeiten zur aktuellen Debatte um Deindus­trialisierung und Identitätspolitiken in den USA sowie zu deutschen Querfrontdiskursen, die im Umfeld der Zeitschrift Compact und des neurechten »Instituts für Staatspolitik« forciert werden, wo Benedikt Kaiser die soziale Frage thematisch von rechts besetzt. Ein kritischer Blick auf die französische Debatte verspricht daher, aktuelle Umbrüche und semantische Verschiebungen in der politisch-ideologischen Topographie sichtbar zu machen, die möglicherweise den Rahmen für kommende Auseinandersetzungen abstecken. Im Folgenden soll diese rechte Diskurskonjunktur in Frankreich unter Rückgriff auf aktuelle Veröffentlichungen und ihre maßgeblichen Akteure rekonstruiert und im politischen Feld situiert werden.

Alexandre Devecchio und das identitäre Ende vom Ende der Geschichte
Im vergangenen Jahr veröffentlichte der 29jährige Alexandre Devecchio das essayistische Buch »Die neuen Kinder des Jahrhunderts. Jihadisten, Identitäre und réacs: Untersuchung einer fragmentierten Generation« und konstatierte darin das Ende vom »Ende der Geschichte« Fukuyamas. Liberalismus, Freihandel und ewiger Frieden weichen bei Devecchio einer konfliktreichen Zukunft, die durch religiöse Sehnsucht, kommunitaristische Zusammenrottung und ein Wiederaufleben ethnischer Kategorien identitär geprägt wird. In seinem Essay skizziert er ein Generationenmosaik, zusammen­gesetzt aus drei idealtypischen Fragmenten, die in einem auffälligen Komplementaritätsverhältnis gegen die politischen und kulturellen Eliten ausgerichtet sind.

Devecchio will diese pessimistische Gegenwartsdiagnose jedoch nicht als immanente Kritik identitär-postliberaler Konzepte verstanden wissen, sondern als notwendigen Abgesang auf die liberale Gesellschaft und ihr kulturelles System. Sie soll einem metapolitischen Kampf Begriffe und Deutungen bereitstellen: »Junge Essayisten und Journalisten kommen aus der Bewegung und beteiligen sich an der gegenwärtigen ideologischen Neuausrichtung.« Devecchio schöpft aus den traditionellen neurechten Topoi einer Dekadenzdiagnose, der ein zwanghaft ontologisierter Kulturbegriff Einhalt gebieten soll: »In der Mehrheit streben die Kinder des Jahrhunderts nicht die Zerstörung unserer Gesellschaft an, sondern im Gegenteil ihre Wiederfundierung, oder bescheiden ge­sagt die Konservierung des sozialen und kulturellen Erbes, an das sie ­gebunden sind.«

Eines dieser Fragmente ist die »génération Dieudonné« der abgehängten und zumeist migrantischen Vorstadtjugend, benannt nach dem antirassistischen und antisemitischen Comedian Dieudonné M’bala M’bala, der ihrem kompensatorischen Stolz auf das Herkunftsmilieu öffentliche Satisfaktion verschafft. Ein im doppelten Sinne reaktionärer Antirassismus, dessen Symbolfarbe nicht das solidarische Rot der Verdammten, sondern das exklusive Grün der Glaubensbrüder ist: »Für diese Kinder des Jahrhunderts bietet der ­Jihadismus die radikalst-mögliche Antwort auf die metaphysische ­Leere Europas, eine Art, ›Nein‹ zu sagen zum Ende der Geschichte.«

Strukturanalog und ganz ähnlich wie Michel Houellebecq in seinem Bürgerkriegsroman »Unterwerfung« sieht Devecchio eine davon lebensweltlich abgegrenzte, überwiegend weiße und mehrheitlich rechte Jugend im Aufwind, die er in zwei sich inhaltlich überlappende Strömungen unterscheidet: die kulturell verunsicherte »génération Zemmour«, bestehend aus den »petits Blancs« der Peripheriegebiete*, und die auf den »Manif pour tous« gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe groß gewordene, katholisch-traditionalistische »génération Michéa«. Empirische Bestärkung für diesen rechten Zeitgeist sieht Devecchio außerdem in den letzten Wahlergebnissen, in denen der Front national in der Kohorte der unter 30jährigen durchgängig überrepräsentiert war.

Ein gemeinsames Feindbild trägt zur Einheit dieser divergierenden Strömungen bei: der metropolitane »Bourgeois-bohème«, der »Bobo«, Sinnbild einer globalisiert-urbanen, linksliberalen und moralisch-hedonistischen Konsumkultur, die für die Krise der Gegenwart in vielfältiger Weise Verantwortung tragen soll. Zusammenfassen lässt sich die Argumentation hinter dem Bobo-Bashing in etwa so: Während die hart arbeitende Bevölkerung unter dem Druck von Abstiegsängsten und Flexibilitätsanforderungen zunehmend auf die Verliererseite der Gesellschaft rücke, betreibe eine dynamische Minderheitenklasse von Digitalisierungs- und Globalisierungsgewinnern unter dem Deckmantel von Moral und Offenheit einen Gesellschaftsumbau nach ihren partikularen Interessen. Soziale Verdrängung und gesellschaftliche Fragmentierung seien die Folgen eines neuen Klassenkampfs entlang der Achsen von Zuwanderung, politischer Korrektheit und moralischen Konsums. Die Bobos erscheinen dabei in konspirationistischer Manier als personifizierte Agenten eines marktkonformen sozialen Wandels im Interesse des Kapitals.

Éric Zemmour und die publizistischen Netzwerke der »réacosphère«
Unentwegt zeichnet eine eingespielte Querfront aus neuen Rechten, katholischen Traditionalisten, Neokonservativen und antiliberalen Linken seit geraumer Zeit den Wandel eines »68er-Denkens« (pensée 68) von der hedonistischen Rebellion zur Legitimationsideologie des freien Marktes nach. »Hemmungslos genießen« (jouir sans entraves), die emblematische Parole des Pariser Mai 68, wird zum Ideal der Konsumgesellschaft und die von ihr affizierte Linke zum nützlichen Idioten des Kapitals erklärt. In diesem Sinn beklagte der Kulturpessimist Éric Zemmour in seinem 2014 erschienenen Buch »Der französische Suizid« den vermeint­lichen Niedergang der französischen Nation durch das Zusammenspiel ­eines destruktiven individualistischen Hedonismus und einer technokratischen Politik des freien Marktes. Seine Thesen lösten in Frankreich eine mit der deutschen Sarrazin-Debatte vergleichbare, kontroverse Feuilletondebatte aus und bieten einen Resonanzraum für rechte Ideo­logen, die aus dem diffusen Gefühl einer kulturellen Verunsicherung po­litisches Kapital schlagen wollen. In den linksliberalen Medien Libération und Nouvel Observateur wurde für diesen diskursiven Rechtsschwenk der polemische Neologismus »Zemmourisierung« geprägt. Seitdem gilt Zemmour als Ikone der souveränistischen »Neoreaktionäre« (néo-réacs), die den binären politischen Rechts-links-Code für überholt erklären und durch eine neue Dichotomie zwischen »Globalisten« und Verteidigern lokaler Identitäten ersetzen wollen, mit der sie auf immer stärkeren Widerhallstoßen. Devecchio nimmt sie für eine Generationseinheit in Anspruch, der er sich selbst zugehörig fühlt. Wie Zemmour bekämpft er den Neoliberalismus der Rechtsliberalen im Namen des Staats und den Universalismus der Kulturlinken im Namen der Nation. »Wir sind die Anti-68er. Wir fordern Leitbilder und Werte, wir wollen Lehrer, denen wir folgen können und auch einen Gott«, heißt es in seinem Buch.

Ursprünglich als analytisch wenig differenzierter Schmähbegriff für ein rechtskonservatives publizistisches Milieu zwischen politischem Journalismus und metapolitischer Wissenschaft entstanden, fungiert die Bezeichnung néo-réacs mittlerweile auch als rekuperierte Selbstbezeichnung. Zum Teil umfasst sie das diskursiv ausgegrenzte Milieu um Dieudonné, Alain Soral und Renaud Camus. Letzterer hat der identitären Bewegung den Schlüsselbegriff des »großen Austauschs« geliefert, während Soral eng mit dem russischen Neo-Eurasier Alexander Dugin zusammenarbeitet und mit seinem Buch »Das Empire verstehen« ein Pendant zu dessen »Vierter Politischer Theorie« geschrieben hat.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen jedoch vor allem publizistische Dramatiker im Umfeld der Zeitschrift Causeur und der Online-Plattformen Figarovox, Boulevard Voltaire und Valeurs actuelles wie Alain Finkielkraut, Elisabeth Lévy, Éric Zemmour, Alexis Brézet und Natacha Polony, Grenzgänger zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus, wie Patrick Buisson und Robert Ménard sowie in der Öffentlichkeit stehende Intellektuelle, die mit ihnen gedanklich auf Tuchfühlung gehen und dabei auch vor einer theo­retischen Nähe zur französischen Neuen Rechten, der Nouvelle Droite, nicht zurückschrecken. Zur dieser Kategorie gehören Michel Onfray, Jean-Claude Michéa und Marcel Gauchet, deren unterschiedliche theo­retische Standpunkte in einer Zurückweisung des Neoliberalismus und seiner kulturellen Rahmenbedingungen konvergieren.

Devecchio ist selbst Mitbegründer der rechten Plattform Figarovox und des Comité Orwell, eines weiteren dubiosen Zusammenschlusses von libertären, antiliberal-linken und katholisch-rechten »Journalisten für die Verteidigung der Volkssouveränität und alternativer Ideen in den Medien«. Gemeinsam mit Natacha Polony hat das Komitee im vergangenen Jahr das Buch »Willkommen in der schlimmsten aller Welten« herausgegeben. Darin wird der »Soft-Totalitarismus« einer »ultraliberalen Globalisierungsideologie« angeprangert, deren »extreme Indivi­dualisierung«, gerahmt durch eine »Ideologie des Fortschritts«, zum sittlichen Verfall und Verlust der Souveränität führe. Einen Ausweg sehen die Autoren in der Rückbesinnung auf lokale Produktion, populistischer Politik und einem Ende des Freihandelskapitalismus.

Anders als die überwiegend protestantische Neue Rechte im Umfeld des Instituts für Staatspolitik predigt die französische Nouvelle Droite einen Neopaganismus und verdammt das monotheistische Christentum als Rationalisierungs­institution der Moderne.

Patrick Buisson auf der Suche nach dem neuen historischen Subjekt
Bereits in den siebziger Jahren spielte die konservative Tageszeitung Le Figaro eine entscheidende Rolle für die metapolitische Strategie der Nouvelle Droite. Als der esoterische Schriftsteller Louis Pauwelt die Verantwortung für das Kulturressort übernommen hatte, übertrug er 1978 Alain de Benoist und Patrice de Plunkett die Leitung der neuen politischen Wochenzeitschrift Le Figaro Magazine, die bald darauf für einige Jahre von Mitgliedern des neurechten Think Tank GRECE dominiert wurde. Gegen eine Viktimisierungsstrategie der neuen und extremen Rechten in Frankreich muss konstatiert werden, dass es den »Grecisten« seitdem immer wieder gelang, einflussreiche Positionen im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb einzunehmen und sich dort eine beachtliche Infrastruktur zu erschließen. Noch 2016 konnte Benoist auf Einladung der renommierten Grande École Sciences Po Paris vor Studierenden über die »Dumm­heiten der Gendertheorie« und die »Menschenrechtsideologie« referieren.

Die Internetplattform Figarovox wurde im Februar 2014 nach der Übernahme der Redaktion von Le Figaro durch Alexis Brézet zwei Jahre zuvor und auf Anraten seines Freundes Patrick Buisson gegründet und ergänzt die rechtsextreme Seite Boulevard Voltaire, deren Redakteure auch für Figarovox schreiben. »Beide Seiten sind komplementär«, wie ­Dominique Jamet, der ehemalige Chefredakteur von Boulevard Voltaire ausplauderte. Diese Seite gehört Robert Ménard, dem umstrittenen Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Béziers, der intensive Kontakte zur extremen Rechten pflegt und mit Stimmen des FN gewählt wurde. Ihr Name ist an die Seite Réseau Voltaire des mittlerweile in Syrien lebenden und Bashar al-Assad unterstützenden Verschwörungsideologen Thierry Meyssan angelehnt. Zu den regelmäßigen Autoren gehört neben Alain Soral, Renaud Camus und Alain de Benoist auch Jean-Yves Le Gallou, der in den achtziger Jahren die Annäherung der Nouvelle Droite an den FN betriebt und dessen Konzept der »nationalen Bevorzugung« (préférence nationale) theoretisch ausarbeitete.

Patrick Buissons Rolle wiederum werden gewisse Ähnlichkeiten zu der Stephen Bannons, des zeitweiligen Chefberaters Donald Trumps, nachgesagt. Aufgewachsen in einem rechten Elternhaus, das den faschistischen Schriftsteller Charles Maurras verehrte und einen militanten Antikommunismus pflegte, fungierte Buisson während seiner Studienzeit als Vizepräsident des Studentenbundes »Fédération nationale des étudiants de France«, dem nationalistischen Antipoden von Daniel Cohn-Bendits »Mouvement du 22-Mars«. Er pflegte in den achtziger Jahren enge Kontakte zu Alain Renault und Jean-Marie Le Pen, der ihm aufgrund seiner »großen ideologischen Nähe« eine Kandidatur für den FN nahe­legte. Buisson ging jedoch andere Wege und versuchte als Berater von Nicolas Sarkozy das Wahlmilieu des FN durch einen politischen Rechtsschwenk für dessen UMP zu erschließen. Ganz im Sinne der Nouvelle Droite, deren Zeitschrift Éléments er jüngst ein sechsseitiges Interview gab, verfolgte er dabei eine metapolitische Strategie langfristiger Einflussnahme, die Chefredakteur François Bousquet in seiner Buisson-Biographie »Die buissonistische Rechte« ausführlich schildert. Während Sarkozys Präsidentschaft hätten sich die politischen und diskursiven Kräfteverhältnisse entscheidend verändert: »Zum ersten Mal gelang es der Rechten, ihre kulturelle und intellektuelle Agenda durchzusetzen« und es gebe gute Gründe anzunehmen, »dass das Zeitalter der Aufklärung seinem Ende entgegen geht«. »Das neue historische Subjekt ist die Identität.«

Jean-Claude Michéa, anständige Leute und konservative Anarchisten
En vogue bei der französischen Rechten ist seit längerem auch der Postwachstumstheoretiker Jean-Claude Michéa, den Zemmour zu seinen wichtigsten Inspirationsquellen zählt. Michéa arbeitete zuletzt als Philosophielehrer in Montpellier und machte die Werke Christopher Laschs, der in den siebziger Jahren über das »Zeitalter des Narzissmus« schrieb, in Frankreich populär. In seinen eigenen Schriften kritisiert er die Linke aus einer wachstums- und auf­klärungskritischen Perspektive, wobei er für seine Invektiven gegen die politische Korrektheit wie das gleichnamige Komitee auf George Orwell und seine Idee der common decency rekurriert. Der sozialistische Kritiker des Totalitarismus wird in dieser Lesart zum antiprogressiven Revolutionär und Vertreter eines konser­vativen Anarchismus.

In derselben Tradition beruft sich Michéa auf die nativistische Entfremdungskritik in den Frühschriften von Karl Marx und ignoriert systematisch die autopoietische, historisch-dialektische Qualität des ­Kapitals. Seine Fortschrittskritik mündet in die unterkomplexe Forderung nach kleinteiliger und dezentralisierter Produktion, wie sie von Proudhon vertreten wurde. Michéa hat sie zeitgemäß »integrale Ökologie« getauft und wird in der Postwachstumsszene deshalb begeistert rezipiert.

Neben Konsumkritikern und Ökologen aller Couleur sind es aber vor allem Neurechte und konservative Katholiken aus dem Umfeld der Manif pour tous, die ihre Ismen als in­tegral attribuieren. Die Rechtsextremen Marine Le Pen und Alain Soral zitieren Michéa seit einigen Jahren unentwegt, sein Buch »Das Empire des kleineren Übels« wird vom Jugendverband des FN ausdrücklich als Lektüre empfohlen. Bei den Konferenzen des neofaschistischen Institut Iliade dominiert Michéa die Büchertische. Robert Ménard hat Michéa und der Idee der common decency in seinem jüngsten Buch »Fibel für ein Frankreich, das nicht sterben will« ebenfalls ein Kapitel gewidmet. Von einer großen intellektuellen Nähe zu Michéa spricht auch Alain de Benoist, der bereits seit 40 Jahren eine »bewusst querverbindende Denkweise« zur Überwindung der Links-rechts-Dichotomie propagiert. Im Gespräch über sein Lebenswerk mit der neurechten Zeitschrift Sezession bezog sich Benoist auf Michéas ­Adaption des Orwellschen »Doppeldenk«, die er als »revolutionären Neokonservatismus« bezeichnet. Ihr zufolge sei der gesellschaftliche und kulturelle Liberalismus nur die psychologische und ideologische Entsprechung des Neoliberalismus und beide Teil des gleichen kapitalistischen Systems. Eine ernsthafte Gesellschaftskritik müsse daher ­zugleich antikapitalistisch und antiliberal auftreten.

Éugenie Bastié, die junge Garde der »Manif pour tous«
Anders als die überwiegend protestantische Neue Rechte im Umfeld des Instituts für Staatspolitik predigt die französische Nouvelle Droite einen Neopaganismus und verdammt das monotheistische Christentum als Rationalisierungsinstitution der Moderne. Im Interview mit Éléments hat Michel Maffesoli, soziologischer Theoretiker eines Neotribalismus und ebenfalls wichtige Referenzquelle für die néo-réacs, allerdings darauf hingewiesen, dass dies vor ­allem auf den Protestantismus zutreffe, während es in einem mystischen Katholizismus mit seinen Heiligenkulten durchaus polytheistische Elemente und einen starken paganistischen Einschlag gebe. Auffällig ist jedenfalls, dass Alain de Benoist neuerdings die Nähe zu jungen, wertkonservativen Katholiken sucht, in deren Umfeld eine Serie von konsumkritischen, antimodernen Zeitschriftenprojekten und Blogs entstanden ist, die er gegenüber Le Monde euphorisch lobte: »Die Linke hat das Aufkommen einer Gegenöffentlichkeit auf den Blogs des Internets nicht vorausgesehen. Nach den schweren Jahren spüre ich endlich eine leichte klimatische Erwärmung. Das Eis ist dabei zu schmelzen: Junge Talente sind in die Fußstapfen der alten Greise getreten.«

Allen voran die 24jährige Journalistin Éugenie Bastié, medialer Shootingstar der französischen Konservativen, hat es Benoist angetan. Beide tauschten ihre Gedanken bei einem gemeinsamen Diner aus, nachdem sie Éléments ein Interview gegeben und die Zeitschrift auf ihrem Twitter­-Account gelobt hatte. Bastié liebt die Provokation und das politische Vexierspiel. Sie stammt aus einem südfranzösischen, bürgerlich-katholischen Milieu, ist antikapitalistisch, ökologisch und bezeichnet sich selbst als »antiliberal«. Abtreibungen lehnt sie zwar ab, plädiert jedoch für ihre Legalisierung, und obwohl sie Simone de Beauvoir zu ihren Idolen zählt, beteiligte sie sich 2013 intensiv an den Manif pour tous. Nach einem Praktikum bei der Zeitschrift Causeur wurde sie von deren Redaktionsleiterin Elisabeth Lévy protegiert und gefördert. Mittlerweile schreibt sie neben Devecchio hauptsächlich für Figarovox, ist Mitglied des Comité Orwell und gibt die Zeitschrift für integrale Ökologie Limite heraus. Vor kurzem veröffentlichte sie mit dem Buch »Adieu mademoiselle« ihre Abrechnung mit dem Feminismus. In mancherlei Hinsicht erinnert die journalistische Tätigkeit Bastiés an die der jungen Ellen Kositza. Gleichwohl will sich Bastié weder als Antifeministin verstanden wissen, noch als homophob gelten. Ihren Kampf gegen Minderheitenrechte und Geschlechteregalität sieht sie eher als integrale Kritik an der hedonistischen Gesellschaft des Spektakels. Dass sich dieser emanzipationskritische Antiliberalismus auf Michéa beruft und auch mit dem FN liebäugelt, dürfte indes kaum verwundern. Über Marion Maréchal-Le Pen, die radikalere Nichte der Parteivorsitzenden und Ikone der konservativen Jugendrevolution, berichtet Bastié stets in wohlwollender Neutralität und trägt damit zu Entdämonisierung des FN bei. Die Frage, ob sie Le Pen wählen würde, wollte sie Journalisten gegenüber nicht be­antworten.

Die »Anti-68er« und die alte Theorie der Neuen Klasse
Der neoreaktionäre Konservatismus, wie er von Devecchio, Zemmour, ­Michéa und Bastié argumentativ vertreten wird, ist durch eine doppelte Einseitigkeit geprägt. Die obsessive Besetzung der Identität – Jean-Claude Kaufmann spricht von einer »iden­titären Religiösität«, Luc Boltanski und Arnaud Esquerre sprechen von einer »Obsession mit der Identität« – ist affirmativ in Hinblick auf alles, was erhalten und rückgebunden werden soll, und amalgamiert zugleich alle Elemente des verhassten Liberalismus zu einem selektiven Feindbild, dessen Ambivalenz er nicht mehr gewahr wird. So konstruiert Michéa eine normative Opposition zwischen dem Sozialen (social) und dem Gesellschaftlichen (sociétal), die er mit dem »normalen Volk« (vrai peuple) auf der einen und dem »68er-Denken« der »Bobos« auf der anderen Seite identifiziert. In seinem neusten Buch »Unser Feind, das Kapital« zieht Michéa die fortschrittskritischen Konsequenzen und spricht ganz emblematisch von der politischen Spaltung in die Parteien des »Parteien des Gestern« und die Parteien des »Silicon Valley«.

Der Kategorienfehler eines solchen Manichäismus liegt darin, dass er ein sozialstrukturelles Phänomen unvermittelt mit seiner kulturellen ­Erscheinungsform kurzschließt und die gegenwärtige Krise essentialistisch lokalisiert, statt sie in ihrer historischen Genese zu durchdringen. Dann würde man nämlich auf desintegrative Tendenzen des Akkumula­tionssystems stoßen, die in allen Regulationsphasen der kapitalistischen Ökonomie auftreten und in stets ­innovativen Formen vermittelt werden. Das »Dilemma des Neoreaktionismus« liegt in dieser Vertauschung von Prozess, Vermittlung und Erscheinungsform. Es ist Verfallsprodukt der neokonservativen Theorie der »Neuen Klasse«, mit der bereits in den siebziger Jahren der Versuch unternommen wurde, eine in die Krise geratene, nachbürgerliche Sozialstruktur begrifflich zu fundieren.

Die zentrale These des Neokonservatismus ist damals gewesen, dass die in einer funktional ausdifferenzierten Wissensgesellschaft mit der Expansion des Bildungssystems entstandenen, neuen intellektuellen Übergangsklassen die öffentliche Hand unter dem Deckmantel sachbezogener Expertise für ihre partiku­laren Alimentierungsinteressen instrumentalisieren. Mit der »Neuen Klasse« waren all jene sozialen Berufsgruppen gemeint, die im weitesten Sinne Erziehungs- und Verwaltungsaufgaben im öffentlichen Sektor ausführten, ohne unmittel­bar Produzenten lebenswichtiger Güter zu sein. Bereits Helmut Schelsky hat diese »Klasse von Sinnvermittlern« in seiner gegen die Kulturrevolution der 68er gerichteten Kampfschrift »Die Arbeit tun die anderen« der Verschleierung ihrer Herrschaftsinteressen durch Sprachcodes und Heilslehren angeklagt. Mittlerweile hat sich das Argument im Kampf gegen die Bobos dahingehend verschoben, dass jene nicht mehr für einen aufgeblähten öffentlichen Sektor, sondern für eine Politik der offenen Grenzen und Märkte verantwortlich gemacht werden, ­deren desintegrative Folgeerscheinungen strukturell die petits Blancs in den Peripheriegebieten betreffen sollen – eine These, die vor allem der Sozialgeograph Christopher Guilluy in seinen selektiven und deshalb empirisch fragwürdigen Arbeiten starkmacht.

Galt die neokonservative Sozialstaatskritik ehedem der Denunzierung des vermeintlichen Übergreifens gesellschaftlicher Anspruchshaltungen auf den politischen Staat, so formulieren die Neoreaktionäre heute gesellschaftliche Ansprüche gegen den entgrenzten Weltmarkt. In ihrem Diskurs hat die kulturelle ­Liberalisierung jedoch keine eigenständige Qualität, die sich von einer ökonomischen Logik entkoppeln ließe. So werden eine in völlig unscharfen Begriffen des vulgären Alltagsverstandes gefasste »Globalisierung« und ein »Multikulturalismus« ununterscheidbar voneinander ab­geleitet und der konspirationistische Kampf gegen »politische Korrektheit« und hedonistische Dekadenz wird antikapitalistisch umgedeutet.

Dabei hat die These eines gewissen Entsprechungsverhältnisses zwischen den in den siebziger Jahren einsetzenden neoliberalen Transformationsprozessen und einem ideo­logischen Erbe des »68er-Denkens«, wenn sie differenziert vorgetragen wird, ja durchaus einen Wahrheitskern. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben in ihrer Studie über »den neuen Geist des Kapitalismus« gezeigt, wie die von der Kulturrevolu­tion der 68er beeinflusste »Künstlerkritik« anschließend in neoliberale Selbststeuerungsdispositive integriert wurde. Didier Eribon zeichnete denselben Prozess in »Rückkehr nach Reims« autobiographisch und in seiner Auseinandersetzung mit dem, was er »Konservative Revolution in Frankreich« nennt, philosophisch-diskursiv nach. Eribon zufolge wurde in deren Folge das marxistische und strukturalistische Funktions- und Systemdenken durch eine humanistische Handlungsphilosophie und antitotalitäre Menschenrechtsdiskurse ersetzt.

Paradoxerweise sind es heute aber erneut die linken Kritiker des »68er-Denkens« wie Boltanski, Eribon, Pierre Bourdieu und Michel Foucault, die im Zentrum der neoreaktionären Kulturkritik stehen und einem monolithischen linksintellektuellen Block zugeschlagen werden. Rückte Marcel Gauchet, den Éléments** jüngst zum wichtigsten Intellektuellen Frankreichs kürte, ihren »Anti­humanismus« in den achtziger Jahren noch in eine geistige Nähe zum gescholtenen Totalitarismus, so verkündet Michéa heute schematisch reduziert das nicht weniger absurde Gegenteil: »Hayek = Foucault«.

Man kann diese narrative Verkehrung für widersprüchlich und projektiv halten, verfehlt damit aber deren strategisch-instrumentellen Kern. Die heutigen Angriffe gegen eine vermeintlich neoliberale Linke sind wie die Versuche, in den acht­ziger Jahren die Dominanz des Marxismus in den Sozialwissenschaften zu brechen, vor allem interessengeleitet und metapolitisch motiviert. Die soziale Frage dient dabei als Transmissionsriemen identitärer Politikkonzepte, die hauptsächlich durch Dezision konstruiert werden. Deutlich wird das unter anderem an einer stereotypen Semantik und der Struktur des publizistischen Netzwerks. Im Causeur, auf Figarovox und Boulevard Voltaire finden sich immer wieder die gleichen Interviewpartner, inhaltlich redundante Artikel sowie Hinweise auf eine auf den ersten Blick unüberschaubare Anzahl an Veröffentlichungen, die Pluralität suggerieren sollen, aber größtenteils auf name dropping und faden Variationen der Thesen Michéas ­basieren. Es geht dort nicht um eine Analyse der Gegenwart, sondern um die Beschwörung eines normativen Befundes und seine Einleitung in die Echokammer.

Neokonservative, Souveränisten und die Neue Rechte
Möglicherweise zeigt sich hier eine Analogie zu jener Querfront, die in Deutschland das souveränistische Compact-Magazin Jürgen Elsässers erfolgreich propagierte, bevor es in der »Flüchtlingskrise« auf das ex­klusive Ticket von AfD, Pegida und der Neuen Rechten setzte und damit viele publizistische Bündnisoptionen auf lange Sicht desavouierte. Begeisterung für einen identitären Islam, einen traditionellen Katholizismus, integrale Ökologie und Thilo Sarrazin, begleitet von Invektiven gegen Globalisierung, Minderheitenrechte und das Finanzkapital gehörten dort schon zum diskursiven Kern, als linke und gemäßigte Konservative dem Magazin noch bereitwillig Interviews gaben. Im Unterschied zu Deutschland, wo gegen Pegida und die AfD noch eine klare rhetorische Abgrenzung behauptet wird, besaßen die Manif pour tous in Frankreich aber tatsächlich Rückhalt in einer Volkspartei und konnten Hunderttausende mobilisieren. Das spiegelt sich in den diskursiven Optionen der Medien wider.
Devecchio zufolge werden die Kinder des neuen Jahrhunderts vor allem von der Frage, wer sie sind, umgetrieben. Das Absurde der gegenwärtigen Debatte verdichtet sich in der Tatsache, dass die Bubiks, Devecchios und Bastiés darauf stets schon eine (identitäre) Antwort parat haben. Das unterscheidet sie zugleich vom kritisch avancierten Neokonservatismus der siebziger Jahre, der sich durch Erfahrungen irritieren ließ und seine Problemdiagnose auf die empirische Offenheit dieser Frage gegründet hatte. Damals zerfiel der »alte Konservatismus« in die zersprengten Glieder des kulturkritischen Neokonservatismus und der antimodernistischen Neuen Rechten, deren geistespolitische Paradigmen klar unterschieden waren. Es sieht danach aus, dass beide Traditionslinien mit der sich verschärfenden Krise des Neoliberalismus, inhaltlich und strukturell, wieder näher zu­einanderfinden.

 

* Die Bezeichnung »petits Blancs« wurde von Aymeric Patricot in einem Essay über die deklassierte Pariser Vorstadtbevölkerung als Pendant zum amerikanischen »white trash« geprägt und von Christophe Guilluy in Untersuchungen der französischen ­Peripheriegebiete aufgegriffen. Die eher politischen als wissenschaftlichen und zum Teil umstrittenen Thesen sind Gegenstand einer Kontroverse über soziale Ungleichheit und ihre Repräsentation in der französischen Öffentlichkeit, bei der Kritik an den sozialen Folgekosten der Globali­sierung mit generellen Angriffen auf die offene Gesellschaft verbunden wird.
** Es ist sicher keine Koinzidenz, dass fast alle Namen, die im aktuellen französischen Querfrontdiskurs kursieren, mit bemerkenswerter Systematik in einer metapolitischen Zeitschrift wie Éléments auf­tauchen. Dort wird nicht nur Michéa regelmäßig gegen Kritik verteidigt. Michel ­Onfray, Éric Zemmour, Marcel Gauchet und Michel Maffesoli wurden dort jüngst ebenso zu mehrseitigen Interviews ein­geladen wie Élisabeth Lévy, Eugénie Bastié und Patrick Buisson. In der letzten Aus­gabe gaben dann Alexandre Devecchio und Christopher Guilluy ihr Stelldichein bei der Neuen Rechten.