Christian Lindner ist ein professioneller ­Lieferant von Spektakeln

Der Gaukler des Kapitals

Bundesfinanzminister Christian Lindner wirkt manchmal geradezu wie eine Parodie auf die neoliberale Ideologie, die er vertritt.
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Wenn Christian Lindner die Flucht ergreift, dann immer ohne Tempolimit nach vorn. Während dem Bundesfinanzminister und FDP-Vorsitzenden vorgeworfen wird, zur Zeit der Koalitionsgespräche mit SPD und Grünen im vergangenen Jahr den Vorstandsvorsitzenden der Porsche AG, Oliver Blume, auf dem Laufenden gehalten zu haben, schimpft er über das Neun-Euro-Ticket und schlägt Steuerentlastungen vor, die allen voran Besserverdienenden zugute kommen sollen.

Die von Lindner produzierte Geräuschkulisse prägen hot takes, Provokationen und (meist folgenlose) Vorstöße, die manchmal geradezu wie eine Parodie auf neoliberale Ideologie wirken. Obgleich klar ist, dass die soziale und ökologische Krise derzeit stetig ernster wird, beklagt Lindner die »Gratismentalität« von Menschen, die kostengünstig in überfüllten Regionalbahnen reisen möchten. Probleme seien eben nur »dornige Chancen«, wie er zu sagen pflegt, und drum liegt es weiterhin in der Hand der Einzelnen, die Kohle für den Genuss öffentlicher Verkehrsmittel zusammenzukratzen – wer will, der kann auch!

Er ist nicht nur Finanzminister, sondern vor allem ein erfolgreicher Typ, der Menschen motivieren will, erfolgreiche Typen zu werden – und erfolgreiche Typen jammern nicht über teure ÖPNV-Tickets, sie haben keine »Gratismentalität«, sie sehen Krisen als Chancen. 

»Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln«, schrieb Guy Debord in seinem 1967 veröffentlichten Werk »Die Gesellschaft des Spektakels«. Lindner ist ein professioneller Lieferant von Spektakeln, von Debatten, die ins Nichts führen, von Feuilletonschlachten. Die Charaktermaske des Kapitals, die er dabei trägt, hat er sich nicht selbst aufgetragen. Als die FDP bei der Bundestagswahl 2013 als Regierungspartei fast zehn Prozentpunkte verlor und damit unter die Fünfprozent­hürde rutschte, vollzog die Partei eine Kurskorrektur. Allerdings weniger in Bezug auf die politischen Inhalte als auf das Image. Und die Blaupause ­dafür war Lindner, der im Dezember 2013, zweieinhalb Monate nach der verlorenen Bundestagswahl, als 34jähriger zum FDP-Vorsitzenden gewählt wurde.

Die Werbeagentur »Heimat Berlin« wurde beauftragt, die FDP neu zu erfinden. Lindner hatte mit ihr Anfang der nuller Jahre in Nordrhein-West­falen bereits gute Erfahrungen gemacht. Mit einer provokativen Kampagne schaffte es die FDP im Jahr 2000 in den Landtag, und mit ihr Lindner als jüngster Abgeordneter. War damals noch Adolf Hitler auf den Plakaten zu sehen, mit der Unterschrift »Wenn wir nicht schnell für neue Lehrer sorgen, finden unsere Kinder selber welche«, standen nun die Kandidierenden selbst im Fokus. Zum Beispiel in Hamburg bei der Bürgerschaftswahl 2014: Die Spitzenkandidatin Katja Suding ließ sich in Schwarzweiß ablichten. In poppigem Schriftbild verkündete ihr Slogan: »Unser Mann für Hamburg«. Das FDP-Logo wurde kurz darauf angepasst. Aus dem gelben Block mit schnörkelloser Schrift wurde der freistehende Schriftzug mit Serifen.

2017 überraschte und ­irritierte Lindner dann die Öffentlichkeit mit einer neuen Plakatkampagne zur Bundestagswahl. »Heimat Berlin« hatte aus dem Typ Anlageberater ein Instagram-Model gemacht. Die Bilder schoss ein Fotograf, der auch schon Rammstein, Iggy Pop und Die Ärzte porträtiert hatte. Sinnbefreite Kalendersprüche simulierten Nachdenklichkeit: »Nie gab es mehr zu tun«, »Ungeduld ist auch eine Tugend« und »Der Schulweg muss wieder in die Zukunft führen«. Das Bild, das Lindner von sich selbst kreieren ließ, hat Kraft gewonnen, die der Lindners weit überlegen ist. Dazu (mehr oder weniger) passend schrieb Debord: »Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens.«

Mit Hilfe einer smarten Werbeagentur schlafwandelte Lindner sein unternehmerisches Selbst aus den frühen nuller Jahren ins Zeitalter von Instagram und Tiktok. Auf diesen Plattformen versprechen Life- und Business-Coaches in adretten Anzügen, den Weg zum Erfolg zu weisen. Man müsse ­lediglich Scheitern als Chance begreifen, früh aufstehen und den jeweiligen Kurs zum Sonderpreis erwerben. Lindner hat seine eigene Biographie daran angepasst. Im Jahr 2000 gründete er mit Hilfe des Risikokapitalgebers ­Enjoyventure das Start-up Moomax, das Internet-Avatare verkaufen sollte. Die Firma ging schnell pleite, ein Großteil der Anlage ging verloren. Aber wie auch Elon Musk damit kokettiert, eine Reihe von Firmen in den Sand ­gesetzt zu haben, bevor er Paypal gründete, nutzt Lindner die Geschichte mittlerweile zur Illustration seines Unternehmergeists. Nicht die ökonomischen Verhältnisse entscheiden über die eigene Position, sondern die indi­viduelle Risiko- und Innovationsbereitschaft.

Als Deckideologie des Kapitalverhältnisses ist der Neoliberalismus mit einem Legitimationsdefizit in die Welt gekommen. Das Scheitern seines Glücksversprechens lag von Anfang ­offen zutage. Da jedoch Einzelne weiterhin mit Reichtum und Erfolg glänzen, lässt sich die unverdrossene Propaganda dieses Glücksversprechens selbst zum Karrierezweig machen, der seinerseits Reichtum und Erfolg verspricht. Längst schulen Business-Coaches die Karrierewilligen zu Business-­Coaches. Diese sonderbare Variante eines Ponzi-Systems ist in den sozialen Medien recht beliebt und Lindner wendet viele Ressourcen auf, sein Bild als Macher genau dort zu platzieren. Lindner postet unentwegt, und anscheinend findet seine Öffentlichkeitsstrategie bei jüngeren Menschen Anklang. Bei der Bundestagswahl im September vergangenen Jahres war die FDP unter den 18- bis 24jährigen zweitstärkste Kraft mit 20,5 Prozent, während sie insgesamt lediglich 11,5 Prozent erreichte. Das Image unternehmerischer Tatkraft dürfte daran einen Anteil haben, gerade weil es Wahrheit enthält: In der vergangenen Legislaturperiode häufte Lindner mindestens 425000 Euro mit Nebeneinkünften an. Vor allem hielt er Vorträge bei Banken und Consulting-Agenturen.

Er ist nicht nur Finanzminister, sondern vor allem ein erfolgreicher Typ, der Menschen motivieren will, erfolgreiche Typen zu werden – und erfolgreiche Typen jammern nicht über teure ÖPNV-Tickets, sie haben keine »Gratismentalität«, sie sehen Krisen als Chancen. Ein letztes Mal sei Debord strapaziert: »Das Spektakel ist die Ideologie schlechthin, weil es das Wesen jedes ideologischen Systems in seiner Fülle darstellt und äußert: die Verarmung, die Unterjochung und die Negation des wirklichen Lebens.«