Die Bajuwaren als Pioniere des Rechtspopulismus

Der bayerische Weg

Die Bayerischkeit zeichnet sich seit ihrer Erfindung durch ein Wechselspiel von Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex aus. Die bayerische Demokratie drückte sich notwendigerweise als Populismus aus. Nun hat der traditionsreiche bayerische Rechtspopulismus seine Singularität verloren und befindet sich im Zerfall.
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Wanderer, kommst du nach Bayern … Hüte dich zunächst vor dem erschreckenden Übermaß an Zeichen der Bayerischkeit. Da empfangen dich Schilder mit der Aufschrift »Freistaat Bayern«, weißblaue Rautenfahnen überall, mehr oder weniger gusseiserne Löwen in aufrechter Haltung. Sogenannte Maibäume auf jedem Dorfplatz. Symbole von Brezeln, Bierkrügen und Rettichen allerorts. Fahrzeuge mit Aufklebern, die den Stolz auf das weißblaue Heimatland verkünden. Die jungen Männer tragen Lederhosen, manche von ihnen auf Empfehlung Hubert Aiwangers mit einem Messer in der Seitentasche, vielleicht aus dem Waffengeschäft des Bruders jenes stellvertretenden Ministerpräsidenten. Filzhüte mit Enzianblüten, Almhütten- und Jägerzaunanmutungen noch in den grauesten Vorstädten.

Neben diesen »traditionellen« Zeichen der Bayerischkeit, die es in allen erdenklichen Größen und Materialien gibt, existieren auch solche des modernen Bayerns, wie der Merchandise des FC Bayern München oder das Fahren eines BMW oder Audi, und es gibt die Zeichen eines Rundfunksenders namens BR, der so viel Heimat senden muss, dass es für Kultur keinen Platz mehr gibt. Aber, Wanderer, du wirst genügend bayerische Menschen treffen, die dir sagen werden: Wer braucht schon Kultur, wenn man so viel Heimat hat.

Die Erfindung Bayerns
Und doch, Wanderer, sehen wir dich skeptisch blicken. Wenn etwas so inflationär und schamlos bezeichnet werden muss, kann es wohl nicht fraglos existieren. Es muss doch unter der semantischen Last seiner Bezeichnungen verlorengegangen sein, wenn es denn je existiert hat, das Bayerische. Und dann wirst du vielleicht einen schrecklichen Gedanken haben. Dieses Bayern gibt es gar nicht. Es ist eine Erfindung. Eine Behauptung, die gerade deswegen in Frage gestellt werden muss, weil sie so hartnäckig und gedankenlos wiederholt wird.

Ein Verdacht wird dich, Wanderer, beschleichen, dass du in ein Gespensterreich geraten bist. In ein Reich der Untoten.

Und hier ist seine Geschichte. So etwas wie ein Volk oder einen »Stamm«, eine Gesellschaft oder eine Kultur der Bayern, beziehungsweise der »Bajuwaren«, wie es die Gebildeten sagen, hat es nie gegeben. Es handelt sich vielmehr um ein wildes Durcheinander, in dem so ziemlich jeder Mensch seit Zeitenbeginn, der hier durchkam und vielleicht aus Gründen der Bergmassive verweilte oder, warum auch nicht, weil es hier zu essen und zu trinken gab, seine genetischen und kulturellen Spuren hinterlassen hat. Kelten, Germanen, Römer und nicht zuletzt syrische Bogenschützen sollen sich sehr gern mit den mehr oder weniger einheimischen Frauen zusammengetan haben.

So etwas wie ein Volk oder einen »Stamm«, eine Gesellschaft oder eine Kultur der Bayern, beziehungs­weise der »Bajuwaren«, wie es die Gebildeten sagen, hat es nie gegeben.

Trotz alledem hat aus diesem Durcheinander auch einmal eine territoriale und politische Einheit werden müssen, genauer gesagt, wie es damals so üblich war, feudaler Besitz. Die weltlichen und die geistlichen Herren (übrigens auch diese eher von außerhalb gekommen) teilten sich das Land und seine natürlichen Reichtümer untereinander auf, und dann ging es eben los mit Erbschaft, Eroberung, Kriegen und Verträgen, der übliche Flickenteppich entstand.

Man würde sich wundern, was alles mal zu Bayern gehört hat und was nicht. Den normalen Menschen war das freilich mehr oder weniger wurst, man wurde halt nur mal mehr und mal weniger drangsaliert, ausgebeutet oder niedergemetzelt.

Meisterstück des politischen Verrats
Das alte Baiern war unter den Merowingern Teil des fränkischen Reichs, aber schon unter Karl dem Großen gab es immer wieder Versuche, eine eigene Dynastie zu gründen. Das karolingische Kaisertum zerfiel Anfang des 10. Jahrhunderts, doch auch einem gewissen »Heinrich dem Zänker«, einem bayerischen Herzog aus dem Geschlecht der Ludolfinger, gelang es nicht, endlich zur eigenen Großmacht zu kommen. Im Gegenteil, Baiern verlor zu Beginn der 1000er Jahre fast die Hälfte seines Territoriums, darunter die ausgedehnten Gebiete in Norditalien. Und so ging es die folgenden 1.000 Jahre weiter. Baiern breitete sich aus, mal drastisch, mal teppichfleckerlhaft, wurde geschlagen und zurechtgestutzt, und halbwegs konstant blieb allenfalls das »Stammland« zwischen Donau und Alpen.

Abgesehen von den Abfolgen von Brandschatzung, Mord und Vergewaltigungen, die mit so einer Geschichte verbunden sind, war das alles der Bevölkerung eher gleich. Das änderte sich mit der Politik der Wittelsbacher und mit der Erhebung zum Königtum 1806 und der Stabilisierung des Territoriums beim Wiener Kongress 1814. Man hatte sich nämlich zuerst als Verbündeter Napoleons seine Modernisierungen gefallen lassen, schlug sich dann aber rechtzeitig auf die Seite seiner Feinde, um bei der Beuteverteilung am rechten Platz zu sitzen. Das moderne Bayern ist aus diesem Meisterstück des politischen Verrats hervorgegangen.

CSU-Wahlplakat von 1949

Früher ging es noch bergauf. CSU-Wahlplakat von 1949

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picture alliance / Ulrich Baumgarten

Nicht dass bayerische Politik etwa noch verräterischer gewesen wäre als die von anderen, man hatte als Zwischenreich den Verrat nur besser zu handhaben gelernt. Und genau dies nun wurde das Königreich Bayern: Eine Zwischengröße. Zu groß, um noch ein typischer deutscher Kleinstaat zu sein, aber auch zu klein, um den erstarkten Großmächten Österreich oder Preußen auf Augenhöhe zu begegnen. Dass sich Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex ständig abwechseln, war in dieser Zwischensituation beinahe selbstverständlich und der gekränkte Narzissmus in Bayern sozusagen Staatsräson.

Preußen verstand es, in seinem Imperium ein Staatsvolk zu bilden, Österreich gelang es, mehrere Staatsvölker halbwegs unter einen Hut zu bringen, hauptsächlich durch Disziplin, Bürokratie, Militär und Polizei. Diese Mittel standen auch in Bayern zur Verfügung und wurden gern eingesetzt, etwa zur Wahrung der feudalen Privilegien. Aber die Wittelsbacher verfielen noch auf eine andere Idee: Wie wäre es, wenn wir für den bayerischen Staat nicht bloß ein Staatsvolk, sondern eine bayerische Gesellschaft herstellen würden, komplett mit Tradition, Brauchtum, Identität und halt dem ganzen Schmarrn, der dazugehört?

»Die Preußen« als das ideale Gegenbild
Das Projekt, Bayern zu erfinden, nahm seinen Lauf. Es war die Obrigkeit, nicht »das Volk«, das für die Gründung von Trachten- und Heimatvereinen, für die Organisation von Umzügen und Festen, für eine bayerische Semiologie, für Heimatbewusstsein in den Schulbüchern, für Traditionspflege und Blasmusik sorgte. Dem echten Volk in Bayern war das alles ziemlich recht, nicht zuletzt, weil es reichlich in Bier getränkt wurde und sich ihm mit dem Tourismus schon bald eine weitere Einnahmequelle bot.

Zugleich notwendig und beflügelt war die Erfindung Bayerns übrigens vor allem durch die Niederlage im Preußisch-Österreichischen Krieg 1866, in dem Bayern auf der Seite Österreichs stand. Mit »den Preußen« hatte man das ideale Gegenbild (bayerisch sein heißt in erster Linie, nicht preußisch sein) und war zugleich kulturell unbesiegt, wenn nicht unbesiegbar.

Als das Projekt, Bayern zu erfinden, erst einmal richtig in Gang gekommen war, bewährte es sich auf mehreren Ebenen zugleich. Politisch garantierte es einen Zusammenhalt, eine Disziplinierung und nicht zuletzt eine Zufriedenheit, die zwar nicht immer, aber doch im Großen und Ganzen über die wachsenden inneren Spannungen und die sozialen Krisen hinweghalfen. Wirtschaftlich wurde die Erfindung Bayerns zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell. Auch die katholische Kirche, die gerade hier durch die Säkularisation etwas ­gerupft war, war zufrieden, denn die Verbindung von Religion und Folklore erwies sich als perfektes Steuerungsinstrument. Wo andere nur Herrschaft sahen, erkannte man in Bayern nun vor allem: Heimat. Es brauchte nur zwei, drei Generationen, und die Menschen in Bayern waren mehrheitlich davon überzeugt, dass das, was da als Ideologie, Organisationsmedium, Staatsreligion, Exportschlager und Tourismuswerbung erfunden worden war, ihrem tiefsten inneren Wesen entsprach.

Demokratie von Anfang an nur als Populismus
Die Heimat-Erfindung Bayerns als Trostangebot nach jedem verpatzten Griff nach mehr Herrschaft überdauerte nicht nur zwei Weltkriege, nach denen sich jeweils militärische und nicht zuletzt moralische Niederlagen in alpenländlicher Heimeligkeit auflösen ließen. In der Wirtschaftswunderzeit blühte das bayerische Heimat-Konstrukt noch einmal so richtig auf und verwandelte die einstige Agrar- und Tourismuszone in ein politisch-ökonomisches Erfolgsmodell.

Dazu gehört, dass sich Bayern als Land der Bundesrepublik von Beginn an zugleich perfekt anzupassen und einen Sonderweg zu verlangen verstand. Nachdem die CSU sich von der eher linken zur eindeutig rechten »Schwesterpartei« der deutschen Christdemokraten gewandelt und mit höchst unfeinen Mitteln die Konkurrenz in der Mitte, Zentrum und Bayernpartei, zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hatte (wie gesagt, die Geschichte des politischen Verrats zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Landes), war der Weg frei für jemanden wie Franz Josef Strauß.

Gedenkgottesdienst zum 25. Todestag von Franz Josef Strauß in der Kirche St. Michael in München

CSU-Personenkult. Gedenkgottesdienst zum 25. Todestag von Franz Josef Strauß in der Kirche St. Michael in München, 3. Oktober 2013

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picture alliance  / Sven Hoppe

Er verkörperte noch einmal regelrecht die Erfindung Bayerns, wenngleich in einer besonders vulgären und aggressiven Form. Und mit ihm war auch klar: Die Erfindung der Demokratie und die Erfindung Bayerns passten einfach nicht zueinander. Dass Bayern darin nicht gleichermaßen liebenswerte und beängstigende Rückständigkeit, sondern prophetische Avantgarde war, konnte damals natürlich noch niemand ahnen.

In Bayern war Demokratie von Anfang an nur als Populismus denkbar. Und Bayern wurde schon in den sechziger Jahren so regiert wie heute die populistische Autokratien Polen, Ungarn oder Italien. Und eben dieser antidemokratische Populismus, den alle Nachfolger von FJS mal lauter und mal etwas leiser fortsetzten, wurde wiederum als Emanation der Bayerischkeit verkauft.

Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex
Doch die bayerische Krankheit dauerte auch in der Nachkriegszeit an. Man war zu mächtig, um in der BRD einfach ein Bundesland unter anderen zu sein, aber man war doch nicht in der Lage, einen eigenen autonomen Staat zu gründen. Also griffen immer wieder die bayerischen Herren nach der Macht in Deutschland – und mussten scheitern. Strauß wurde nicht Bundeskanzler, was viele Deutsche damals noch als Verteidigung der Demokratie gegen einen rechtspopulistischen Angriff ansah, für viele Bayern war es eine Niederlage wie die gegen Preußen.

Die stete Abfolge von Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex setzte sich als ewiger Wahlkampf fort, der gekränkte Narzissmus trieb die Identitätskonstruktion im Inneren weiter. Denn für das touristische und mediale Erfolgsmodell (bayerische Heimeligkeit verkauft sich immer noch prächtig im Kino und als Käse, Oktoberfest und Fernsehserie) musste man mit dem Bild des »Seppls« oder dem Dirndl mit dem »Holz vor der Hütt’n« zumindest kokettieren. Wie aber sollte man dieses Bild des heimatversessenen Hinterwäldlers mit dem wirtschaftlichen und politischen Anspruch Bayerns auf Führung im mehr oder weniger neuen Deutschland in Einklang bringen?

Die Konstruktion der Bayerischkeit erreichte seit den siebziger Jahren immer neue Höhepunkte der Hysterisierung und Niedertracht (Jodelsexfilme, »volkstümliche Hitparade«, Bayern-Shops), und auf Schübe der Sexualisierung und Sentimentalisierung folgten solche der (Re-)Politisierung. Und dennoch: Während die Bayerischkeit als Geschäftsmodell weiterhin floriert (ein erfundenes Volk inszeniert sich selbst als Statisterie in einem fiktionalen wie realen Erlebnis- und Themenpark namens »Bayern«), gerät das so lange als stabil erachtete politische Modell des bayerischen Populismus in eine Schieflage.

Das geschieht nicht nur, weil dieser Populismus mittlerweile kein Alleinstellungsmerkmal Bayerns mehr ist, sondern auch, weil die Balance zwischen Separatismus (als beständige Drohung, auch wenn sie schon rein grundgesetzlich substanzlos ist), Nationalismus und Folklorismus sich nicht mehr in einer Person und nicht mehr in einer Partei halten lässt. Markus Söder steht durchaus für die Kontinuität des Regierens in Bayern (politischer Verrat natürlich ebenso inklusive wie gekränkter Narzissmus als politische Ideologie), er drückt den Rückzug in heimatliche Regression aus und hegt zugleich expansive Machtansprüche und scheitert daran wie seine Vorgänger, vielleicht nicht so dramatisch wie Strauß, nicht so bieder-komödienstadelig wie Edmund Stoiber. Aber irgendetwas stimmt da nicht mehr. Bayern als Heimat-Appendix in der Konstruktion der Bundesrepublik Deutschland funktioniert ebenso wenig mehr wie die Masche des ewigen Unruhestiftens und politischen Gauditums.

Drei Brutkammern des Postfaschismus
Bayern hat heute drei rechtspopulistische Zentren – man kann auch argwöhnen: drei Brutkammern des Postfaschismus. Zuvörderst ist da die alte CSU, die sich auf die Erfindung der Bayerischkeit beruft und von einem »Mia san mia« zu einem etwas unangenehmen »Mia san die besten« übergegangen ist, als wäre nicht gerade diese »preußische« Schulmeisterei und Überheblichkeit ein Wesenskeim bei der Erfindung Bayerns gewesen, eine CSU, die ihren Wählerinnen und Wählern immer das konservative Lebensgefühl von »Laptop und Lederhosen« vermittelte (alles bleibt so, wie es ist, aber wir bekommen trotzdem unseren Anteil am Fortschritt) und die eine stetige Mischung aus Aufmüpfigkeit nach außen und Staatstragendheit nach innen vermittelt.

Dazu kommen die »Freien Wähler«, die unter Hubert Aiwanger von einem etwas offeneren Korrektiv der CSU-Hegemonie zur Vertretung des enthemmten Bajuwarismus geworden sind. Sie spiegeln die Hysterisierung der Bayern-Erfindung direkt wider. Das erfundene Volk der Bayern kämpft derzeit mit einer durch die äußeren Umstände erzwungenen Erkenntnis der eigenen Erfundenheit. Diese Erkenntnis muss um jeden Preis in Bier, »G’wand« und Jawohl-Klartext-Rhetorik ertränkt werden.

Der gekränkte Narzissmus braucht ein Hassobjekt. Das Hassobjekt des enthemmten Bajuwarismus ist vordergründig dasselbe wie bei allen Rechten: die Grünen, die einem den Schweinsbraten und das Glyphosat verbieten wollen, die Flüchtlinge, die uns die Arbeit und die Fürsorge wegnehmen, die Gender-Wahnsinnigen, die die heilige Familienordnung ruinieren und eine Bundesregierung, die uns zugleich viel zu viele Vorschriften macht und überhaupt nie gescheite Machtworte spricht.

Aber spätestens wenn Aiwanger krakeelt, dass man sich die Demokratie zurückholen wolle, wird klar, dass in ihm die bayerische Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex gefährlich wird. Dass nach dem Bekanntwerden des antisemitischen Flugblatts aus Jugendjahren seine Zustimmungswerte steigen, wächst sich zum hässlichen (Selbst-)Bildnis der Bayerischkeit im Zustand ihres Zerfalls aus. Die Verniedlichungstaktik greift nicht mehr: Das ist nicht mehr komisch.

Festzelt der Brauerei Hacker-Pschorr kurz vor der Eröffnung des Münchner Oktoberfestes, 13. September

Bajuwarisches Glücksversprechen. Festzelt der Brauerei Hacker-Pschorr kurz vor der Eröffnung des Münchner Oktoberfestes, 13. September

Bild:
picture alliance / Robert Haas

Das Gegenstück zu den »Freien Wählern« bildet die dritte rechtspopulistische oder neofaschistische Partei, die AfD, deren Protagonisten zwar gelegentlich auch in bayerischer Kleidung, in Dirndl und Trachtenjanker auflaufen, die letztendlich aber vollkommen unbayerisch, man könnte beinahe sagen: preußisch daherkommt. Auch diese Hinwendung zu einer deutsch-nationalistischen Hass-Bewegung lässt sich vielleicht als Reaktion auf die Erkenntnis interpretieren, dass die Konstruktion der Bayerischkeit nicht mehr trägt oder dass sie zumindest (und da sind wieder alle drei postfaschistischen Milieus beieinander) von der Verinnerlichung wieder in die Veräußerlichung transformiert werden muss. Die Erfindung der Bayerischkeit war auch in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts kein Hemmnis für die Faschisierung.

Der Zerfall des bayerischen Rechtspopulismus bedeutet nicht nur wahlstatistisch zugleich seinen Triumph. Eine klassisch demokratische Partei hat in diesem System keine Chance. Nicht einmal eine so angepasste wie die »bayerische SPD« kann mit einem Achtungserfolg rechnen, geschweige denn irgendwas wirklich »Linkes«.

Hauptfeind Grüne
Und die Grünen? Es ist noch nicht so lange her, da waren ökologische Ideen, biologische und nachhaltige Anbauweisen oder Naturschutz Dinge, über die man an Ort und Stelle immerhin reden konnte, grüne Landwirtinnen und Landwirte konnten angesehene Mitglieder von Gemeinden und Vereinen sein, CSU-Mitglieder und Grüne konnten bei ökologischen Problemen zusammenarbeiten und Markus Söder ließ sich beim Bäumeumarmen fotografieren. Es war lange Zeit durchaus vorstellbar, dass eine grüne Strähne in die Konstruktion der Bayerischkeit hätte eingearbeitet werden können, dass Familien auf dem Land Grüne und CSUler am Tisch versammelt hätten, dass ein gemeinsames Bild von Natur und Umwelt entstehen hätte können. Eine grüne Erneuerung hätte der erfundenen Bayerischkeit vielleicht sogar zu neuer Vitalität verholfen. Aber es kam anders.

Die Grünen (nicht bloß die echten, sondern beinahe mehr noch die Schimären und Projektionen) wurden von den Konservativen ­unter Friedrich Merz zum Hauptfeind ausgerufen, und auch Markus Söder, einst Bäumeumarmer, folgte dem Ruf der nationalen Rechten, umarmte statt Bäumen die noch Rechteren, verlor dabei an diese noch mehr Stimmen, sagte das Wort »Bayern« so oft in die Mikrophone, dass es aus seinem Mund wie ein Fremdwort klang, und musste seine Ambitionen auf einen Marsch nach Berlin begraben.

Die Konstruktion der Bayerischkeit ist in eine weitere Krise geraten; den Grund dafür kann man auch Klassenkampf nennen. Die späten Wittelsbacher wollten das sozial so unterschiedliche Volk in ein bayerisches Volk verwandeln, und es ist ihnen größtenteils gelungen. Das Kleinbürgertum nahm die Techniken der Bajuwarisierung erst langsam, dann immer eifriger auf. Dass die Bajuwarisierungsmedien eine Industrie hervorbrachten, war zunächst segensreich.

Dass Strauß nicht Bundeskanzler wurde, sahen viele Deutsche als Verteidigung der Demokratie gegen einen rechtspopulistischen Angriff an, für viele Bayern war es eine Niederlage wie die gegen Preußen.

Allerdings wanderten die Attribute der Bajuwarisierung rasch nach oben. Schon in den »traditionellen« Trachten ging es weniger um Tradition als um den Ausdruck von relativem Reichtum. Dann mussten die Bajuwarisierungszeichen günstiger und massentauglich werden. Doch mussten auch sie zugleich gentrifiziert werden (wie alles in Bayern); und das bedeutet, dass eine teure und eine billige Bajuwarisierung (ein Designer-Dirndl oder ein Woolworth-Lappen) wiederum in sozialen Wettbewerb traten.

Bajuwarisierung der Klassengesellschaft
Ein zünftige Bajuwarisierung kostet schon einen Batzen Geld; man kann auch sagen: Bayerisch zu werden, muss man sich leisten können. Wenn Kindertagesstätten die Kinder zu einem Oktoberfestbesuch anmelden, kommen die ärmeren nicht mit, weil sich die Eltern die entsprechenden Lederhosen und Dirndl nicht leisten können. Die Selbstbajuwarisierung wird mehr und mehr zu einem Privileg, sie wird aber auch zu einer der vielen selbstgestellten Konsumfallen des Kleinbürgertums.

Das einfache Volk kann sich die Inszenierung der Volkstümlichkeit, wenn überhaupt, nur noch unter Opfern leisten. Die Verlierer des bayerischen Wegs werden auf diese Weise zwangsentbajuwarisiert. Ökonomisch gesehen ist ein Bayer, wer sich Lederhosen und Oktoberfest und den Mast zum Hissen der Landesflagge im Vorgarten des Einfamilienhauses leisten kann. Man bajuwarisiert sich als Zeichen des wirtschaftlichen Erfolgs. Die äußere Folge: Wir bajuwarisieren die Klassengesellschaft. Die innere Folge: Bayerischsein ist Ausdruck einer sozialen Zwangsneurose. Die Angst vor dem Nicht-dazu-Gehören gebiert Ungeheuer.

Die bayerische Transformation von einem gemütlich-hinterhältigen Rechts­populismus zu einem aggressiven Pa­rafaschismus mit neoliberaler Begleitmusik vollzieht sich nicht allein mit einer Wahl und nicht allein in der Farce von zwei Männern – Söder und Aiwanger –, die die Landesgeschichte des politischen Verrats auf ihre etwas obszöne Art fortschreiben. Sie vollzieht sich in einer Gesellschaft, in der man sein Interesse hinter Identität verbergen will. Die bayerische Identität wurde zur neuen politischen Waffe. Nun sei es aber den Menschen in Bayern gesagt, und du, Wanderer, nimm es als Warnung mit: Wo Identität sein soll, da kann keine Heimat sein.