Israels Armee hat den Norden des Gaza-Streifens eingenommen

Schüsse von allen Seiten

Israel hat die Kontrolle über den nördlichen Gaza-Streifen errungen. Im Umkreis mehrerer Krankenhäuser, um die herum sich Hamas-Mitglieder verschanzen, finden weiter Kämpfe statt. Derweil laufen Gespräche über die Freilassung der von der Hamas verschleppten israelischen Geiseln.

Jerusalem. Israelische Bodentruppen sind in den vergangenen Tagen weiter in das palästinensische Autonomiegebiet im Gaza-Streifen vorgerückt. Von dort aus hatte die islamistische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 ihren großangelegten Überfall auf Israel gestartet, bei dem rund 1.200 Menschen ermordet und mehrere Hundert als Geiseln entführt wurden.

Die israelische Armee hat mittlerweile die Kontrolle über Gaza-Stadt. Dort befinden sich die Hauptquartiere der Hamas, die den Gaza-Streifen seit 2007 autoritär regiert. Bei einer Pressekonferenz am Samstagabend sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, dass die Hamas die Kontrolle über den Norden Gazas verloren habe. Armeesprecher Daniel Hagari zufolge wird vermutet, dass sich der Hamas-Anführer Yahya Sinwar in einem Bunker unterhalb der Klinik al-Shifa verschanzt habe, dem größten Krankenhaus im Gaza-Streifen knapp 700 Meter nordwestlich des Zentrums von Gaza-Stadt.

Israelischen Medien zufolge geht das aus Verhören von inhaftierten Hamas-Terroristen durch den israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet hervor.
Hagari wies wiederholt darauf hin, dass die Hamas ihre Stützpunkte inmitten von zivilen Einrichtungen wie Krankenhäusern oder Schulen einrichtet. Die israelische Armee hat das al-Shifa-Krankenhaus und weitere Hospitäler in der Nähe von Gaza umstellt, weist Berichte über Angriffe auf diese jedoch zurück. Allerdings gebe es Aus­ein­andersetzungen mit Hamas-Kämpfern in der Umgebung. Das Krankenhaus ist Medienberichten zufolge nicht mehr funktionsfähig und kann die Tausenden darin Schutz suchenden Zivilisten kaum versorgen, da es an sauberem Wasser, Medizin und Strom mangelt. Israel vermutet unterhalb des Gebäudes, im Tunnelsystem unter dem Gaza-Streifen, ein Kommandozentrum der Hamas.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sagte, dass Gaza nach dem Sturz der Hamas entmilitarisiert und der sicherheitspolitischen Aufsicht Israels unterstellt werden müsse.

Am Sonntagabend sagte Hagari, dass die Armee den Hospitälern Hilfe beim Abtransport von Patienten angeboten habe. Außerdem hätten Soldaten 300 Liter Treibstoff für das al-Shifa-Krankenhaus bereitgestellt, die Hamas verhindere allerdings deren Abholung. Israels Armee hat nach eigenen Angaben auch Inkubatoren für Frühgeborene in die Klinik gebracht. Aus veröffentlichten Verhören der Terroristen geht hervor, dass die Hamas-Kämpfer Krankenwagen benutzen, um Waffen zu schmuggeln und sich durch den Gaza-Streifen zu bewegen. In einem vom Shin Bet aufgenommenen Mitschnitt eines Telefonats aus Gaza ist zu hören, wie ein Hamas-Terrorist sagt, dass er über Krankenwagen verfüge, mit denen er sich frei bewegen könne.

In Vorbereitung von Razzien in den umzingelten Krankenhäusern hatte Israel Zivilisten zu deren Evakuierung aufgerufen und dafür der Armee zufolge zwei Korridore eingerichtet. Über diese ziehen derzeit täglich Zehntausende Palästinenser Richtung Süden. Derweil versucht die Hamas, die Evakuierung der palästinensischen Zivilbevölkerung aus den Kampfgebieten im Norden des Gaza-Streifens zu verhindern.

Die israelische Nachrichten-Website N12 berichtete von Schüssen, die Hamas-Kämpfer auf palästinensische Zivilisten abfeuern, die versuchen, das al-Nasr-Krankenhaus nordöstlich vom Stadtzentrum Gazas in Richtung Süden zu verlassen. Das von der Hamas geführte Gesundheitsministerium in Gaza gibt die Zahl der seit dem 7. Oktober getöteten Palästinenser mittlerweile mit mehr als 10.000 an, wobei nicht zwischen getöteten Hamas-Mitgliedern und Zivilisten unterschieden wird.

Am Samstagmorgen erschoss die israelische Luftwaffe nach eigenen Angaben den Hamas-Terroristen Ahmed Ziam, der zuvor 1.000 palästinensische Zivilisten im al-Rantisi-Krankenhaus festgehalten habe, um sie am Verlassen des Kampfgebiets zu hindern. »Die Hamas will Zivilisten als menschliche Schutzschilder im Norden halten«, sagte Elior Levy vom Fernsehsender Kan 11.

Am Montagabend zeigte die israelische Armee Bilder von Kellergewölben unter dem al-Rantisi-Krankenhaus, in denen sie Waffen und Hinweise darauf gefunden habe, dass die Hamas dort israelische Geiseln festgehalten hat. Ziam hat sich zum Zeitpunkt seiner Tötung nach Angaben von N12 und der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa in der al-Buraq-Schule nördlich von Gaza-Stadt aufgehalten. Dort hat er sich demnach mit einer von ihm kommandierten Einheit versteckt, deren Mitglieder ebenfalls getötet wurden.

Netanyahu sagte am Samstagabend, dass Gaza nach dem Sturz der Hamas entmilitarisiert und der sicherheitspolitischen Aufsicht Israels unterstellt werden müsse. Er sprach sich gegen eine Verwaltung Gazas durch die Palästinensische Autonomiebehörde in der Westbank und deren Präsidenten Mahmoud Abbas aus: »Gaza kann nicht von einer Führung regiert werden, die Renten an Familien von Terroristen zahlt, deren Höhe sich an der Zahl der von ihnen ermordeten Opfer orientiert und welche die Massaker vom 7. Oktober kein einziges Mal verurteilte.« Damit widersprach Netanyahu US-Außenminister Anthony Blinken, der beim G7-Gipfel in Tokio vergangene Woche dafür plädiert hatte, Gaza mit der Autonomiebehörde in Ramallah zu vereinigen.

Am Tag nach Blinkens Äußerung sagte Palästinenserpräsident Abbas N12 zufolge, dass seine Autonomiebehörde bereit sei, Verantwortung in Gaza zu übernehmen. Gleichzeitig berichtet Kan 11 von Befürchtungen innerhalb der Autonomiebehörde, die Kontrolle in der Westbank zu verlieren. Dort versuche die Hamas ebenfalls, die Situation zu verschärften, während die israelische Armee aggressiver als sonst gegen Terroraktivitäten vorgehe.

Der Jerusalem Post zufolge wurden seit Kriegsbeginn im gesamten Westjordanland über 1.450 Verdächtige festgenommen, von denen über 930 mit der Hamas in Verbindung stehen. Kan 11 zeigte Bilder durch israelische Sicherheitskräfte getöteter Palästinenser, die eingewickelt in Flaggen der Hamas und der palästinensischen Terrororganisation Islamischer Jihad zu Grabe getragen werden.

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag vergangener Woche schossen palästinensische Terroristen in der Westbank auf einen PKW und verletzten zwei Personen. Ein weiterer Grund für die Angst der palästinensischen Autonomiebehörde vor einem Kontrollverlust sind die vermehrten gewalttätigen Übergriffe extremistischer jüdischer Siedler auf Palästinenser in der Westbank. Ihre Häufigkeit hat sich der Washington Post zufolge seit dem 7. Oktober mehr als verdoppelt. »Wir sind nicht bereit, das hinzunehmen, und wir werden mit allen Mitteln dagegen vorgehen«, sagte Netan­yahu vergangene Woche Mittwoch vor Vertretern jüdischer Siedlungen in der Westbank.

Aus dem Gaza-Streifen sind nach Angaben der israelischen Armee seit Kriegsbeginn 10.000 Raketen auf Süd- und Zentralisrael abgefeuert worden.

Eine Rede Hassan Nasrallahs, des Generalsekretärs der libanesischen Terrororganisation Hizbollah, von Samstag legen Experten dahingehend aus, dass die vom Iran finanzierte Miliz ihre Angriffe aus dem Libanon gegen den Norden Israels fortsetzen wolle, ohne jedoch in einen vollständigen Krieg einzutreten. »Das Fazit von Nasrallahs Rede ist, dass die libanesische Front wohl so weitermachen wird wie bisher. Die Angriffe der Hizbollah würden so lange fortgesetzt, wie auch der Krieg in Gaza andauere«, so eine Stellungnahme von Sarit Zehavi, der Leiterin des Forschungsinstituts Alma, das auf sicherheitspolitische Entwicklungen an Israels Grenzen mit Syrien und dem Libanon spezialisiert ist. Seit Beginn des Kriegs befindet sich der Norden Israels unter Beschuss der Hizbollah.

Aus dem Gaza-Streifen sind nach Angaben der israelischen Armee seit Kriegsbeginn 10.000 Raketen auf Süd- und Zentralisrael abgefeuert worden. Die südisraelische Stadt Eilat wurde von ebenfalls vom Iran ausgestatteten Houthi-Milizen im Jemen mit ballistischen Raketen und aus Syrien kommenden Drohnen angegriffen. Vorige Woche Donnerstag explodierte ein solcher Flugkörper in einer Schule, in der sich Kinder aufhielten, die aus den bei den Angriffen vom 7. Oktober zerstörten israelischen Gemeinden nach Eilat evakuiert worden waren. Verwundet wurde niemand.

Am Montag vergangener Woche zeigte die Pressestelle der israelischen Regierung Journalisten Videoaufnahmen der Massaker, darunter Mitschnitte der Körperkameras, mit denen die Hamas-Terroristen ihre Taten festhielten. Die Attentäter filmten sich dabei, wie sie Menschen in ihren Wohnzimmern überfielen und ermordeten. Auf einer der Aufnahmen ist zu sehen, wie sich einer der Attentäter in der Küche einer Wohnung am Kühlschrank bedient, während zwei blutüberströmte Kinder, nur mit Unterhosen bekleidet, daneben sitzen und um ihrem Vater weinen, den er zuvor erschossen hatte.

Nach Angaben der israelischen Armee befinden sich noch immer 239 aus Israel Entführte in Geiselhaft der Hamas, darunter Kleinkinder, Alte und Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen. Die jüngste Geisel ist die zweijährige Aviv Asher aus dem Kibbuz Nir Oz. Sowohl Israels Staatspräsident Yitzhak Herzog als auch Netanyahu haben mehrfach mitgeteilt, dass sie keiner Feuerpause zustimmen werden, solange die Verschleppten nicht freigelassen werden.

Gespräche über eine diesbezügliche Vereinbarung haben zuletzt die Leiter der Geheimdienste Israels und der USA mit dem Ministerpräsidenten Katars, Sheikh Mohammed bin Abdulrahman al-Thani, in Doha geführt, wo die Hamas ein politisches Büro unterhält. Als Gegenleistung für die Freilassung der Geiseln fordert die Hamas Kan 11 zufolge neben der Entlassung von palästinensischen Terroristen aus israelischen Gefängnissen und einer mehrtägigen Feuerpause auch die Lieferung von Treibstoff, um sich für eine Fortsetzung des Kriegs rüsten zu können. Offiziell äußern sich Israels Politiker nicht zu den Verhandlungen. In den israelischen Medien heißt es aber, man sei optimistisch, dass eine Übereinkunft zustande kommen könnte.