05.11.2020
Der neue »atmosphärische Jihad«

Krieg führen oder Arabisch lernen

Der französische Sozialwissenschaftler Gilles Kepel schlägt vor, den in Frankreich wütenden »Low Cost«-Terror als Ergebnis eines »atmosphärischen Jihadismus« zu begreifen.

Mit einer Serie von Attentaten hat sich der islamistische Terror wieder oben auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Nach einem Rückgang spektakulärer Attentate in den vergangenen zwei bis drei Jahren zeigt sich, dass es ihn noch gibt, dass er sich nicht abgenutzt hat und genau so mordlüstern wie eh und je geblieben ist, auch wenn es sich nicht mehr um Kommandos handelt, die von einer syrischen Zentrale des Islamischen Staats (IS) gesteuert werden. Notgedrungen greifen die Akteure zu einem »Low Cost«-Terrorismus mit Messern statt Kalaschnikows.

»Es reicht!« wütete der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, am 29. Oktober nach den Morden in der größten Kirche der Stadt. Aber es reicht ja schon lange. An die 50 jihadistische Attentate listet Wikipedia für das vergangene Jahrzehnt in Frankreich auf, darunter die Angriffe auf eine jüdische Schule in Toulouse im März 2012, auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und den Supermark Hyper Cacher im Januar 2015, die Überfälle auf den Pariser Konzertsaal Bataclan und das Stade de France im November des gleichen Jahres und die Amokfahrt mit einem LKW im Juli 2016 in Nizza – eine Tat, die ein halbes Jahr später auf dem Berliner Weihnachtsmarkt nachgeahmt wurde.

Die jihadistische Atmosphäre, so Kepel, lasse sich charakterisieren durch den Bruch mit der »ungläubigen« Gesellschaft und die Ablehnung ihrer republikanischen Werte.

Estrosi und der Abgeordnete Éric Ciotti sind an der Côte d’Azur die wichtigsten regionalen Vertreter der konservativen Partei Les Républicains. Ähnlich wie Marine Le Pen vom Rassemblement National fordern sie Sondergesetze und die Verhängung des Kriegsrechts. Doch die naheliegende Frage, was sich in Frankreich zum Besseren gewendet hätte, wenn man zum Beispiel vor fünf Jahren eine Politik der tabula rasa begonnen hätte, stellen sie nicht. Lautstarke Parolen lenken von den Problemen ab, mit denen sich Estrosi und Ciotti entweder gar nicht oder wenn doch, dann erfolglos befasst hat.

Die Stadt Nizza hat eine große frankotunesische Minderheit. Wenn tunesische Islamisten dort Anschläge verüben, dann nicht, weil sie es besonders auf die Promenade d’Anglais oder auf die Kirchen Nizzas abgesehen hätten, sondern weil sie im Milieu dieser Minderheit Adressen und Telefonnummern kennen und Anlaufstellen finden. Denn unter den Frankotunesiern dürften sich auch ein paar Gleichgesinnte befinden.

Setzt man mit dieser Feststellung die Frankotunesier der Stadt einem Generalverdacht aus? Nein, im Gegenteil. Es waren auch Bürgerinnen und Bürger tunesischer Abstammung, die nach dem Massaker vom 14. Juli 2016 fragten, wie es möglich war, dass der Fahrer des LKW, Mohamed Lahouaiej Bouhlel, überhaupt frei herumlaufen konnte. Er war im Viertel als rabiater Gewalttä­ter bekannt, der seine Familie schlug.

Die Polizei schenkte den Hinweisen aus der frankotunesischen Bevölkerung keine besondere Aufmerksamkeit, auch nach der Amokfahrt nicht. Dabei wären solche Zeuginnen und vielleicht auch Zeugen wichtige Verbündete im Kampf gegen den Islamismus. Denn sie sind nicht ins Land gekommen, um einen »Bevölkerungsaustausch« zu bewerkstelligen, sondern weil sie das Leben in Frankreich, den Alltag, die kleinen und großen Freiheiten, den Schutz der Persönlichkeit zu schätzen wissen. Sie sind, um es im Vokabular der Rechten zu sagen, vielleicht sogar kriegsentscheidend.

Unter all den martialischen Ansagen von Politikern und Meinungsmachern machen einige wenige Experten andere Vorschläge, wie etwa der Sozialwissenschaftler Gilles Kepel, der als einer der besten französischen Kenner des Islamismus gilt. In aktuellen Interviews wendet er sich gegen die üblichen Rezepte des Fahndens, Isolierens und Zerschlagens. Die Fehler hätten schon damit begonnen, Attentäter zu »einsamen Wölfen« zu erklären, anstatt in die »Ökosysteme« einzudringen, in denen sie sich bewegten. Nebenbei bemerkt ist dieser Irrtum gerade in Deutschland weit verbreitet.

Man dürfe den Islamismus weder auf politischen Extremismus noch auf re­ligiösen Fanatismus reduzieren, meint Kepel und nennt als Beispiel die Vorgeschichte des Mordes an dem Lehrer Samuel Paty am 16. Oktober im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine, der im Unterricht Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo behandelt hatte. »Sie begann mit der Lüge einer Schülerin, die zunächst von ihrem Vater gestreut wurde, der selbst in der ›Islamosphäre‹ aktiv gewesen war und dessen Schwester mit dem ›Islamischen Staat‹ nach Syrien ging. Die weitere Verbreitung übernahm ein bekannter 60jähriger islamistischer Agitator, Abdelhakim Sefrioui, Chef des früheren Scheich-Yassin-Komitees (benannt nach Scheich Ahmed Yassin, Gründungsvater der palästinensischen Hamas). Der Imam der Pantin-Moschee retweetete die Botschaft.«

In solchen Netzwerken – Religionsunterricht in einigen extremistischen Moscheen, islamistische Sportvereine und Fitness-Studios, Handelsverbünde mit Halal-Lebensmitteln, Chatgruppen im Internet – sei eine jihadistische Atmosphäre geschaffen worden, die den »Islamischen Staat« überdauert habe. Sie lasse sich charakterisieren durch den Bruch mit der »ungläubigen« Gesellschaft und die Ablehnung ihrer republikanischen Werte. Man könnte es als Separatismus bezeichnen, meint Kepel in Anlehnung an den Sprachgebrauch der französischen Regierung. In diesem Kontext erscheine die laizistische Schule als eine feindliche Burg, »die aus Sicht der Anhänger des politischen Islams geschleift werden muss«.

Das Interessante an Kepels Auffassung ist, dass er diese Kampfansage annimmt. Nachdrücklich bekennt sich Kepel zu dem Vorschlag von Innenminister Gérald Darmanin, den Arabischunterricht in französischen Schulen ­auszuweiten, um »die Macht der Religiösen zurückzudrängen«. Auf diesem Weg werde man den Reichtum der arabischen Kultur und Geschichte kennenlernen und weitergeben, den die salafistischen Heilsprediger konsequent unter Verschluss hielten.

Andere sehen im Schulfach Arabisch freilich einen »Königsweg der Ideologisierung«. Überraschende Unterstützung erhalten sie von Boualem Sansal, einem der prominentesten zeitgenössischen Schriftsteller Algeriens. Für ihn sind Sprache, Ideologie, Gesetz und Macht vier Wörter, die das Gleiche bedeuten. Ein Drittel der Zielgruppe, befürchtet Sansal, werde einen Prozess der Arabisierung durchmachen, »der aus einem kleinen Franzosen einen kleinen Araber macht und ihn darauf vorbereitet, die profane Welt zu verlassen, um in die Umma einzutreten, die von Allah ausgewählt wurde, um die Welt zu unterweisen«. Solche Prozesse verliefen unkontrollierbar, Regie­rungen hätten wenig Einfluss darauf.

Es sollte allerdings nicht vergessen werden, dass der »atmosphärische Jihadismus« – gewollt oder ungewollt – einem eindeutigen politischen Programm folgt. Dieses besteht darin, in Frankreich Le Pen und allgemein in Europa den Faschismus zu fördern. Das ist die einzige politische Wirkung, die der Jihad entfaltet. Was daran »heilig« sein soll, entzieht sich allen bisherigen Erklärungsversuchen.