Auf den Kanaren ver­sickert das Trinkwasser wegen maroder Leitungen

Lecks im Urlaubsparadies

Die Proteste auf den Kanaren machen den Tourismus für viele Miss­stände verantwortlich. Doch zumindest an der Wasserknappheit sind die vielen Urlauber nicht schuld.

Puerto de la Cruz. Durchschnittlich zehn Tage verweilen Urlauber auf den Kanaren. An allen anderen Tagen im Jahr haben sie viel Verständnis für die Anliegen der Inselbewohner. Doch geht es um ihren ­Urlaub, ist es damit nicht weit her. Der allgemeine Tenor in den sozialen Medien hinsichtlich der Proteste gegen den Massentourismus lautet, die Einhei­mischen sollten froh sein über das Geld, das mit den Touristen auf die Inseln kommt. Schließlich leben sie ja davon. Und tatsächlich: Auf den Inseln, deren Bewohner einst als Bauern ihr Leben fristeten, macht der Tourismus inzwischen ungefähr 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

Der Ausverkauf der Kanarischen Inseln begann in den sechziger Jahren auf Teneriffa. Als die Bebauung im Norden der Insel an ihre natürlichen Grenzen stieß, erschloss die Tourismusbranche kurzerhand den Süden. Dort hatte es bis dahin Bananenplantagen und weiter bergauf einige Dörfer gegeben. An den Küsten leben, da, wo die Sonne erbarmungslos alles verbrennt, das wollte niemand. Bis den ersten Festlandeuropäern dort ihre ­eigene kleine Welt erschaffen wurde – bestehend aus immer größeren und zahlreicheren Hotels, Bars und Restaurants. Die übrigen Inseln folgten und ihre Wirtschaft veränderte sich unumkehrbar. Mit allen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt, die Natur und die Menschen.

Das Leitungsnetz ist derart marode, dass bis zu 40 Prozent des Wasserver­brauchs auf das Konto von Lecks gehen.

»Die Inseln haben sich sehr verändert«, sagt Dragan Dimoski der Jungle World. Der Gastronom lebt in Puerto de la Cruz, der bekanntesten Stadt im Norden Teneriffas. Dimoski kam vor Jahrzehnten gemeinsam mit seiner Mutter aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. Beide reisten weiter auf die Insel. Als Dimoskis Mutter starb, übernahm er das Restaurant »El Drago«. Inzwischen betreibt er es als Bar. Nach so langer Zeit wird Dimoski selbst als Einheimischer wahrgenommen.

Und so verwickeln ihn Nachbarn immer wieder in kurze Gespräche. Sie beschweren sich im Vorbeigehen über die Probleme, die der Tourismus mit sich bringt. Kaum ein Urlauber bekommt davon etwas mit. Sie sitzen zwar daneben, bemerken aber gar nicht, dass gerade abstrakt auch über sie gesprochen wird. Denn die meisten Gäste des »El Drago« sprechen kein Spanisch. Für sie bedeutet Teneriffa Urlaub im Preisparadies. Das große Bier kostet hier 3,50 Euro; im Vergleich beispielsweise zu Deutschland ist das günstig. Für viele Einheimische ist ein Besuch in der Bar hingegen zu teuer.

Die Inflation steigt auf den Kanaren seit 18 Monaten. Erstmals seit anderthalb Jahren flacht immerhin ihre Wachstumskurve ab. Wer in einem der größeren Hotels arbeitet, verfügt zwar über ein gesichertes Einkommen, doch der geringe Lohn macht es vielen Kanarios unmöglich, in der Nähe ihrer Arbeitsstätte zu wohnen. Die Preisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt treibt viele Einheimische in die Außenbezirke. Auf Vulkaninseln bedeutet das: bergauf. Gegen diese Missstände protestieren Inselbewohner seit Wochen. Die »20A-Proteste« heißen so, weil am 20. April erstmals eine gemeinsame, wenn auch dezentrale Demonstration der Einwohner stattfand.

Tage ohne Stau sind selten

Tatsächlich hat der öffentliche Druck dazu geführt, dass der Hotel- und Gaststättenverband auf Teneriffa, Ashotel, mit einem Pilotprojekt im Süden der Insel gleich zwei Probleme anzugehen versucht: Shuttle-Busse bringen die Arbeiter vorerst kostenlos gesammelt zu ihren Arbeitsplätzen, so sparen sie Geld für Benzin und es gibt weniger Staus. Denn mehr Touristen bedeuten auch mehr Autoverkehr, vor allem aber mehr Arbeiter, die in die Ballungsgebiete pendeln. Tage ohne Stau sind auf Teneriffa deutlich seltener als solche mit Niederschlag.

Mehr Regen wäre auf Teneriffa aber sehr wichtig. Anfang März wurde auf der Insel der Wassernotstand ausgerufen. Viele Protestierende machten sogleich den Tourismus als Ursache des Wassernotstands aus. Davon jedoch will Marcos Lorenzo, stellvertretender Minister für territorialen Zusammenhalt und Wasser in der kanarischen Regionalregierung, nichts wissen: »Nur elf Prozent des Wassers werden von Touristen verbraucht«, sagt er der Jungle World.

Viele touristische Einrichtungen betreiben inzwischen eigene Meerwasserentsalzungsanlagen. Hauptabnehmer der öffentlichen Wassernetze bleibt die Landwirtschaft. Allerdings gibt es ein Problem: Das öffentliche Leitungsnetz ist derart marode, dass bis zu 40 Prozent des Wasserverbrauchs auf das Konto von Lecks gehen. Es gibt auch ein privatisiertes Leitungsnetz, das nur etwa die Hälfte dieses Wasserverlusts verzeichnet, doch das Gros der Insel ist an das öffentliche Netz angeschlossen.

Die Situation auf dem Wohnungsmarkt gestaltet sich immer schwieriger. 

Vergangene Woche vergab die Regierung der Kanaren einen Auftrag für den Bau von zehn Entsalzungsanlagen; es geht um mehr als 13,4 Millionen Euro. Jede Insel soll mindestens eine Anlage erhalten. Dadurch soll die Landwirtschaft mit acht Millionen Kubikmetern Brauchwasser pro Jahr versorgt werden.

Allerdings werden die Anlagen voraussichtlich erst nach dem Sommer 2025 betriebsbereit sein. Für die Zwischenzeit wurde diskutiert, ob ­Hotels und Freizeitparks ihre privaten Entsalzungsanlagen zu Teilen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Die meisten von ihnen folgen dem Vorschlag. Der Tourismus wird an einem äußerst neuralgischen Punkt für viele Einheimische also sogar zur Lösung eines Problems beitragen, während sich ein anderes weiter verschärft.

Denn die Situation auf dem Wohnungsmarkt gestaltet sich immer schwieriger. Nachdem Spaniens Zen­tralregierung im April vergangenen ­Jahres eine sogenannte Mietpreisbremse in Kraft setzte, widmeten viele Vermieter ihre Wohnungen kurzerhand zur nicht regulierten, touristischen Vermietung um. Die Folge sind Wohnungsmangel und steigende Mieten. Mieter zahlen bei der enormen Nachfrage derzeit notfalls auch unter der Hand mehr, als eine Wohnung gemäß der »Preisbremse« eigentlich kosten ­dürfte.

Neue Rekorde bei den Besucherzahlen

Das entlädt sich auf den Kanarischen Inseln in einer Ablehnung des Tourismus. Für Populisten wie die rechtsex­treme Partei Vox lief der jüngste Wahlkampf zu den EU-Wahlen dadurch fast von selbst. Auf den Inseln herrscht derzeit politisch eine Art angespannter Ruhe. Die Unzufriedenen warten auf die nächste Hiobsbotschaft, die eine neue Protestwelle auslösen kann. Vox reagiert aufmerksam auf alle Entwicklungen rund um existentielle Fragen wie Inflation, Wassermangel und Mieten.

Währenddessen sorgt die globale Lage dafür, dass wieder mehr Europäer erschwinglichen Urlaub auf dem eigenen Kontinent machen. Das führt zu neuen Rekorden bei den Besucherzahlen auf den vergleichsweise günstigen Kanarischen Inseln. In der vergangenen Woche veröffentlichte Spaniens Nationales Statistikinstitut die Touristenzahlen. Sie zeigen nach den Rekorden im vergangenen Jahr erneut einen Anstieg von 10,7 Prozent.

In den ersten fünf Monaten des Jahres kamen demnach 6,5 Millionen Urlauber auf die Kanarischen Inseln. Das sind so viele Menschen wie im gesamten Jahr 1993. Damals entstanden große Teile der bis heute verwendeten Infrastruktur der Inseln. Die schiere Menge der einst hochwillkommenen Touristen treibt heute die Inseln in eine völlige Überforderung, die sich ähnlich wie in anderen Urlaubshochburgen Europas plötzlich in zunehmender Ablehnung des wichtigsten Wirtschaftszweigs entlädt.

Johannes Bornewasser gründete 2011 die »Teneriffa News«, die inzwischen tagesaktuell über das Geschehen auf allen Kanarischen Inseln berichten.