Julie A. George, Politikwissenschaftlerin, im Gespräch über die autoritären Ziele der georgischen Regierung

»Iwanischwili sieht sich existentiell bedroht«

In Georgien hat die regierende Partei Georgischer Traum trotz heftiger Proteste ein Gesetz zur Kontrolle von aus dem Ausland finanzierten NGOs verabschiedet. Die Politikwissenschaftlerin Julie George warnt, dass die Regierung einen autoritären Staatsumbau anstrebe, um sich an der Macht zu halten.

Vergangene Woche hat das Parlament mit der Mehrheit der regierenden Partei Georgischer Traum ein Gesetz gegen die sogenannte LGBT-Propaganda verabschiedet. Warum diese Anti-LGBT-Gesetzgebung, so kurz nachdem gegen ­starken Widerstand das Gesetz gegen »ausländischen Einfluss« durchgesetzt worden ist?
Im Moment herrscht eine wahre Gesetzgebungswut. Neben dem »Gesetz gegen ausländische Einflussnahme« gab es eine Änderung der Steuergesetze, der Wahlgesetze et cetera. Das Anti-LGBT-Gesetz soll einen Keil in die Opposition zu treiben. Es gibt in Georgien keine Gruppe, die sich so sehr mit Diskriminierung und Intoleranz konfrontiert sieht wie LGBT-Personen, während die orthodoxe Kirche große Unterstützung in der Bevölkerung hat. Das Ziel ist also, prowestliche Positionen mit LGBT-Menschen in Verbindung zu bringen, um die Leute, die gegen die Regierung demonstrieren, als von den wahren georgischen Werten abweichend darzustellen. Einige Demonstranten versuchten, dieser Taktik zuvorzukommen, indem sie ihre Unterstützung für die orthodoxe Kirche zum Ausdruck brachten.

Was versucht die Regierung im Allgemeinen zu erreichen?
Es geht darum, sich auch über die Parlamentswahlen im Oktober hinaus an der Macht halten zu können. Die Partei Georgischer Traum hat seit 2012 mehrere Wahlen gewonnen, aber sie verliert an Unterstützung. Beobachtergruppen wie Freedom House haben im Laufe der Jahre zunehmende Probleme bei den Wahlen beobachtet: Wähler werden gehindert, ihre Stimme abzugeben, Oppositionskandidaten schaffen es nicht auf die Stimmzettel, es gibt Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung von Stimmen. Das Gesetz gegen »ausländische Einflussnahme« richtet sich auch gegen Wahlbeobachtungs-NGOs. Schon jetzt hört man aus der regierenden Partei Aussagen wie die, es verletze die Souveränität Georgiens, wenn ausländische Organisationen die Wahlen beobachten.

Aber hat die Regierung nicht mit den starken Protesten gegen ihre Pläne gerechnet?
Sie muss tatsächlich mit den Protesten gerechnet haben, denn schon im vergangenen Jahr, beim ersten Versuch, ein Anti-NGO-Gesetz zu verabschieden, gingen die Menschen auf die Straße. Aber anstatt auf die Demonstranten zuzugehen und mit ihnen zu verhandeln, verfolgt sie ihren Kurs kompromisslos weiter, mit der Absicht, ein autoritäres Regime nach dem Vorbild von Viktor Orbáns Ungarn aufzubauen. Aber Ungarns autoritäre Transformation geschah schrittweise und über Jahre, und als Ungarn bereits EU-Mitglied war. Der Georgische Traum befindet sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Je mehr die Partei auf Widerstand stößt, desto mehr eskaliert sie.

Was ist mit den Oppositionsparteien?
Die Proteste zwingen die Opposition, die zuvor in einem sehr schlechten Zustand war, sich zusammenzuraufen. Zuvor hatten sich Parteien zersplittert, es gab keine klare Linie der Opposition. Jetzt muss sie sich organisieren, um zu überleben.

Was für eine Art Partei ist der Georgische Traum?
Ich würde sie als eine typische Oligarchenpartei beschreiben, die den Interessen ihrer Führung und deren Gefolgschaften dient, mit dem Milliardär Bidsina Iwanischwili an der Spitze. Ihre politische Mission sieht die Partei darin, die Vereinte Nationale Bewegung (Ertiani Nazionaluri Modsraoba, ENM), die Partei, die bis 2012 regiert hat, zu zerstören. Als der Georgische Traum an die Macht kam, verschwand die ENM nicht, und eine Reihe anderer Parteien spalteten sich von ihr ab. Und so sagt der Georgische Traum nun, dass auch diese Opposition zerstört werden muss, dass sie allesamt Verräter an Georgien seien.

»Schon jetzt hört man aus der regierenden Partei Aussagen wie die, es verletze die Souveränität Georgiens, wenn ausländische Organisationen die Wahlen beobachten.«

Als die ENM 2012 die Macht verlor, war sie sehr unpopulär geworden. Sie vertrat eine neoliberale Ideologie mit niedrigen Steuern, aber sie hatte auch eine kleptokratische Tendenz und verfolgte immer mehr ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen.
Der Georgische Traum war anfangs eine eher linke Partei, aber in Wirklichkeit dient sie privaten wirtschaftlichen Interessen. Wer mit der Partei verbunden ist, kann günstig Immobilien in der Innenstadt von Tiflis kaufen, hat keine Probleme mit der behördlichen Aufsicht und profitiert von staatlichen Ausschreibungen. Diese Korruption ist ein weiterer Grund, aus dem die Partei die NGOs entmachten will.

Warum ist der Konflikt jetzt eskaliert?
Lange Zeit profitierte der Georgische Traum von der Grauzone, in der sich Georgien befand: Ja, die Regierung war korrupt, aber Georgien befand sich auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft und hatte eine lebendige, prowestliche ­Zivilgesellschaft. Doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine beschleunigte den Beitrittsprozess der Republik Moldau, der Ukraine und Georgiens, und das machte deutlich, wie weit Geor­gien davon entfernt war, die Anforderungen der EU zu erfüllen. Eine der Bedingungen, die die EU bereits im Jahr 2022 gestellt hatte, war die »Entoligarchisierung« der georgischen Politik. Das bedeutet im Wesentlichen: Der Georgische Traum müsse Iwanischwili loswerden. Aber die Partei kann ohne Iwanischwili nicht existieren, sie existiert, um Iwanischwili zu schützen. Er leitet de facto die Partei, er kontrolliert sie. Die EU forderte die Partei im Grunde auf, sich selbst abzuschaffen.

»Die Frage ist, ob der Schwung der Opposition bis Oktober nachlassen wird. Die Regierung hofft, dass sie die Proteste aussitzen kann.«

Da schrillten für mich die Alarmglocken. Der Georgische Traum tut jetzt alles, um sich an der Macht zu halten. Deshalb ist die politische Situation auch so schnell eskaliert. Die Partei befindet sich in einem Wettlauf mit der Zeit. Die Frage ist, ob der Schwung der Opposition bis Oktober nachlassen wird. Die Regierung hofft, dass sie die Proteste aussitzen kann.

Der Georgische Traum behauptet, dass er immer noch die EU-Mitgliedschaft anstrebt. Würde die Partei das opfern, um an der Macht zu bleiben?
Sie wird alles nehmen, was die EU und die USA ihr geben, aber der Machterhalt hat Vorrang, und man kann nicht als undemokratisches Land der EU beitreten. Die Regierung sucht nach Alterna­tiven zu westlichen Geldtransfers, zum Beispiel in China. Der Westen stellt zu viele Forderungen.

Was für Forderungen sind das Pro­blem?
Eine Regierung wie die derzeitige in Georgien muss Angst haben, die Macht zu verlieren. Denken Sie nur daran, was mit den vorherigen Machthabern in Georgien geschehen ist. Micheil Saakaschwili landete im Gefängnis. Tatsache ist, dass es in Georgien nie eine wirklich demokratisch agierende Regierung gegeben hat, das gilt auch für die prowestlichen. Auf das Justizsystem ist kein Verlass. Die einzige Möglichkeit, nicht von der Bildfläche zu verschwinden, ist also, sich an die Macht zu klammern. Auch wenn ich die Methoden des Georgischen Traums sicher nicht gutheiße, verstehe ich doch seine schwierige Lage. Wenn die Vertreter der Partei sagen, dass die EU-Konditionalitäten die georgische Souveränität bedrohen, meinen sie damit, dass die EU freie und faire Wahlen fordert. Und das ist für sie existentiell bedrohlich. Der einzige Weg, den sie sehen, ist eine autoritäre Regierung.

Aber demokratische Reformen sind etwas, was die EU von allen Kandidatenländern verlangt.
Sicher, aber der EU-Beitrittsprozess funktionierte in der Regel, weil die Länder, die beitreten wollten, in einer verzweifelten Situation waren. Ich weiß nicht, was die EU hätte anders machen können, aber ich frage mich, ob sie sich bewusst war, wie ihre Forderungen von der Regierungspartei aufgenommen werden würden. Georgien ist ein Land, das sehr schwer zu regieren ist und große wirtschaftliche Probleme hat. Ich glaube auch, dass im Westen oft missverstanden wird, woher die starke Unterstützung vieler Georgier für den EU-Beitritt rührt. Das hat in erster Linie mit einem tiefen Gefühl der Unsicherheit zu tun, das nun schon seit Jahrzehnten anhält. Nicht nur die wirtschaftliche Krise, auch die Kriege in den neunziger Jahren und 2008 haben dazu beigetragen.

Ist der EU-Beitritt nach wie vor beliebt?
Definitiv, rund 80 Prozent der georgischen Bevölkerung wollen, dass das Land der EU beitritt, auch die meisten Unternehmer. Alle sind froh über die chinesischen Investitionen, aber die können die Verbindung zur EU nicht ersetzen, und auch auf den russischen Markt zu bauen, ist langfristig keine gute Strategie, weil Russland anders als die EU den Marktzugang gerne als ­politisches Druckmittel nutzt. Aber diese wirtschaftlichen Interessen stehen derzeit hinter den Interessen der Regierungspartei zurück.

Strebt die Regierung also ein Bündnis mit Russland an?
So heißt es in der Opposition, und es gibt eine Menge Gerüchte darüber. Ich bin mir da nicht so sicher. Die Regierung versucht, sich in eine Position zu bringen, in der sie die EU-Fördergelder durch andere Quellen, zum Beispiel aus China oder Russland, ersetzen kann. Jedenfalls ist Russland über die derzeitige Entwicklung sehr erfreut.

»Die geor­gische Regierung hat im Laufe der Jahre einen ziemlich effektiven Überwachungs- und Repressionsapparat aufgebaut, der jetzt in Erscheinung tritt.«

Wie ist dann die antiwestliche Rhetorik aus dem Regierungslager zu bewerten? In einer einschlägigen Rede im Mai sprach Iwanischwili von ­einer »globalen Kriegspartei«, die versuche, Georgien über die NGOs zu kontrollieren, um eine »zweite Front« gegen Russland zu eröffnen.
Großer Reichtum und ein autoritärer Herrschaftsstil können dazu führen, dass Menschen den Bezug zur Realität verlieren. Für Iwanischwili ist die Opposition mit der »globalen Kriegspartei« verbunden, die es auf ihn abgesehen hat und ihn von seinem Geld fernhalten will. Die US-Sanktionen gegen Russland, von denen bereits einige seiner Verbündeten betroffen waren, ­haben diese Befürchtungen noch verstärkt. Und dann forderte die »globale Kriegspartei«, deren Arm die EU in seinen Augen ist, die »Entoligarchisierung« Georgiens! All das sieht er als existentielle Bedrohung. Und nicht nur er, die ganze Partei – es sind ja viele, die ein Interesse an der Herrschaft des Georgischen Traums haben, nicht ­zuletzt die Sicherheitsdienste. Je mehr der Konflikt eskaliert, desto mehr haben sie zu verlieren.

Es wäre allerdings auch nicht das erste Mal, dass eine Regierung, die versucht, sich in einem postsowjetischen Land an der Macht zu halten, von einer Protestbewegung gestürzt würde.
Ja, aber oft bleiben solche Umstürze auch aus, denken Sie beispielsweise an Belarus oder Aserbaidschan. Die geor­gische Regierung hat im Laufe der Jahre einen ziemlich effektiven Überwachungs- und Repressionsapparat aufgebaut, der jetzt in Erscheinung tritt. Es gibt keine Signale, dass die Regierung zu Kompromissen bereit wäre. Und die Krise ist für Teile der Opposition ebenso existentiell wie für die Regierung. Dieser Konfrontationskurs und das repressive Vorgehen der Regierung bereiten mir für die Zukunft Georgiens große Sorgen.

Julie A. George

Julie A. George ist Lehrbeauftragte für Politikwissenschaft an der City University of New York (CUNY) und Expertin für die ­Politik Georgiens und die Kaukasus-Region

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