Die wirtschaftlichen Hintergründe der politischen Krise in Georgien

Ökonomie des Protests

Die chronische Wirtschaftskrise Georgiens nach der Unabhängigkeit führte zur Entstehung einer korrupten Rentenökonomie, während weite Teile der Bevölkerung, insbesondere die gebildete Mittelschicht, ihre Hoffnungen in den EU-Beitritt setzen.

Seit dem Frühjahr 2023 stehen sich auf dem Rustaweli-Boulevard wieder De­monstrant:innen und Polizist:innen gegenüber. Auf der Prachtstraße im Zen­trum von Tiflis sind nach 1989 die meisten politischen Konflikte in Georgien ausgetragen worden, immer wieder auch gewaltsam. Die derzeitigen Proteste gegen das Ende Mai verabschiedete »Gesetz über die Transparenz ausländischer Einflussnahme« reihen sich in diese Geschichte ein. Betroffen sind von dem Gesetz die Tausenden NGOs, die in dem Land mit weniger als vier Millionen Einwohner:innen registriert sind und die vor allem von internationalen Geldgebern finanziert werden.

Die Proteste werden hierzulande meist als Kampf einer jungen, demokratischen und proeuropäischen Zivilgesellschaft gegen autoritäre und prorussische Machthaber interpretiert. Doch lässt das die ökonomischen Konflikte und sozialen Probleme außer Acht, die das Leben der georgischen Bevölkerung seit dem Ende der Sowjetunion bestimmen. Die NGOs sind nicht zuletzt ein Wirtschaftsfaktor: Sie übernehmen nicht nur viele Aufgaben in Bereichen, aus denen sich der neoliberal zugerichtete georgische Staat zurückgezogen hat, sie sind auch ein relevanter Arbeitgeber, vor allem für eine akademisch gebildete, städtische Mittelschicht, deren Angehörige beispielsweise im staatlichen Bildungs- oder Gesundheitswesen viel weniger verdienen würden. Ähnlich ist es im Medienbereich: Eigenständig könnten Print- und Online-Medien im Print- und Onlinebereich könnten ­finanziell kaum überleben, sie sind zu großen Teilen auf Finanzierung aus dem Ausland angewiesen.

Ein Fünftel der Bevölkerung Georgiens lebt in absoluter Armut, die Arbeitslosenquote liegt knapp unter 20 Prozent.

Dass die NGO-Szene in Georgien dieses ökonomische und politische Gewicht bekommen hat, hängt eng mit der geographischen Lage des Landes zusammen. Die USA und die EU bemühen sich um Einfluss in dem kleinen Staat auf der Landbrücke zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, zwischen Russland, dem Iran und der Türkei. 2014 unterzeichnete Georgien ein Assoziierungsabkommen mit der EU, seit Dezember vergangenen Jahres ist es Beitrittskandidat. Bevor die EU-Kommission Georgien den Status des Beitrittskandidaten zusprach, legte sie einen Forderungskatalog für Beitrittsverhandlungen vor: Georgien müsse unter anderem gegen Korruption vor­gehen, die Unabhängigkeit der Justiz, Menschenrechte und die Rechte der Oppositionsparteien stärken sowie das angehen, was die EU »Entoligarchisierung« nennt, den Kampf gegen die politische Macht der Milliardäre.

Vor allem Letzteres ist aus Sicht der regierenden Partei Georgischer Traum ein Problem, steht hinter ihr doch der mit Abstand mächtigste Oligarch Georgiens, Bidsina Iwanischwili. Viele Organisationen, die sich für rechtsstaatliche Reformen oder andere politische Anliegen einsetzen – selbst gewerkschaftsorientierte NGOs –, werden aus dem Ausland finanziert. Auch auf sie zielt das Anti-NGO-Gesetz.

Georgien einst eine der reichsten Sowjetrepu­bliken

Die Zahlungen aus dem Westen mildern jedoch nur ansatzweise die Folgen des wirtschaftlichen Verfalls nach der Unabhängigkeit. Zuvor gehörte Georgien zu den reichsten Sowjetrepu­bliken. Von dort kamen Lebensmittel wie Wein und Obstsorten, die in den nördlichen Regionen der Sowjetunion nicht gediehen, es gab eine ausgedehnte Tourismusindustrie, hinzu kamen während des Zweiten Weltkriegs nach Georgien ausgelagerte Flugzeugwerke sowie Schwerindustrie. Mit dem Ende der Sowjetunion brachen diese Wirtschaftszweige zusammen. In den neunziger Jahren war lange selbst die Stromversorgung unregelmäßig. Bis in die nuller Jahre war Schrott, Überreste der sowje­tischen Schwerindustrie, das wichtigste Exportgut Georgiens.

Heute lebt immer noch etwa ein Fünftel der Bevölkerung in absoluter Armut, die Arbeitslosenquote liegt knapp unter 20 Prozent. Etwa ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig, die oft eher Subsistenzwirtschaft denn Produktion für den Markt, geschweige denn für internationale Märkte ist.

Seit den frühen nuller Jahren entsteht eine neue Tourismusindustrie, ein Wirtschaftsbereich, dessen Verletzlichkeit durch externe Schocks sich allerdings in der Covid-19-Pandemie zeigte, als das Bruttoinlandsprodukt Georgiens 2020 um mehr als sechs Prozent sank.

Ebenfalls seit der Jahrtausendwende wird Georgiens geographische Lage als Wirtschaftsfaktor wirksam. In den Jahren 2002 bis 2004 wurde die Pipeline Baku–Tiflis–Ceyhan gebaut, die unter Umgehung Russlands Erdöl aus Aserbaidschan und Kasachstan zu Häfen im Schwarzen und im Mittelmeer transportiert.

Chinas »Neue Seidenstraße« führt durch Georgien

Noch größere Bedeutung kommt Georgien im Rahmen des Mittelkorridors der chinesischen Belt and Road Initiative, bekannt als Neue Seidenstraße, zu. Dieser soll über Kasachstan, das Kaspische Meer, Aserbai­dschan, Georgien und das Schwarze Meer eine Verkehrsverbindung über Land zwischen China und der EU sowie der Türkei herstellen. Im Rahmen dessen treiben seit 2018 chinesische Firmen eine Autobahn durch das gebirgige Terrain Georgiens, mit beträchtlichen ökologischen und sozialen Folgen. ­Solche Bauprojekte tragen zum überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum in Georgien seit Ende der Covid-19-Pandemie bei. Mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 gewann das Projekt des Mittelkorridors an Bedeutung, weil es die Landverkehrsverbindungen zwischen Europa und China unter Umgehung Russlands ausbaut. Ende Mai gab Georgiens Wirtschaftsminister Lewan Dawitaschwili bekannt, dass chinesische Firmen in Anaklia am Schwarzen Meer den ersten Tiefwasserhafen des Landes errichten sollen.

Die Selbstvermarktung des Landes als Transportweg zwischen Europa und China und als Kooperationspartner an Einfluss in der Region interessierter Staaten zeigt deutlich rentenökonomische Züge. Dass so mehr Profit erzielt werden kann als durch die Verwertung der Arbeitskraft der georgischen Be­völkerung und der natürlichen Ressourcen des Landes, prägt die georgische Politik, denn es führt dazu, dass die Regierenden ihre politische Machtposition zur persönlichen Bereicherung und zur Versorgung ihres Umfelds mit staatlichen Geldern nutzen. Dass das politische Amt die wichtigste Revenue darstellt, führt wiederum zum Bemühen um repressive und autoritäre Machtsicherung.

Dieser Mechanismus kennzeichnete auch die Entwicklung der Regierung der Vereinten Nationalen Bewegung unter Michail Saakaschwili, die nach der Rosenrevolution von 2003, maßgeblich getragen vom jungen NGO-Milieu, an die Macht gekommen war. Die Partei trat zwar mit dem Versprechen an, die bis in die Sowjetzeit zurückreichende endemische Korruption in Georgien einzudämmen, versuchte aber bald ihrerseits, sich mit Repression gegen die Opposi­tion an der Macht zu halten. Nach Skandalen um Folter in Polizeidienststellen wurde sie 2012 durch Iwanischwilis Georgischen Traum abgelöst.

Regierungswechsel gefährlich für Bidsina Iwanischwili

Iwanischwili ist ein klassischer Oli­garch, der im Russland der neunziger Jahre zum Milliardär wurde, sich aber Anfang der nuller Jahre nach Georgien zurückzog. Sein offiziell bekanntes ­Vermögen in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar entspricht einem Fünftel des jährlichen Bruttoinlandsprodukts Georgiens, doch ist sein Reichtum über ein undurchsichtiges Firmengeflecht weltweit verteilt.

Offiziell ist Iwanischwili mittlerweile nur noch Ehrenvorsitzender des Geor­gischen Traums, de facto bestimmt er weiterhin die Politik der Regierungspartei. Ein Regierungswechsel ist für ihn nicht nur politisch gefährlich, weil er beispielsweise unter einer neuen Regierung wegen Korruption vor Gericht gestellt werden könnte, auch seine wirtschaftlichen Interessen wären bedroht. Dabei geht es nicht nur um sein Eigentum in Georgien und das seiner politischen Verbündeten.

Im April verabschiedete das Parlament eine Steuerreform, die das Ziel hat, Kapital aus Steueroasen weltweit nach Georgien zu ziehen. Kritiker meinen, dass das Gesetz vor allem Iwanischwili selbst ermöglichen soll, sein Vermögen steuerfrei nach Georgien zu transferieren. Damit würde er sich auch vor westlichen Sanktionen schützen können.

Die Aufnahme des Landes in die EU ist nicht nur eine Sehnsucht der Mittelschicht, sondern weiter Kreise der ­Bevölkerung.

Diese Interessen erklären die Heftigkeit des derzeitigen Konflikts: Eine Oligarchenpartei, deren Patron fürchtet, mit der politischen Macht auch seinen Reichtum zu verlieren, steht gegen den Teil der Bevölkerung, der befürchtet, dass die Regierung mit dem autoritären Kampf um Machterhalt und dem Vorgehen gegen NGOs den EU-Beitritt gefährdet.

Die Aufnahme des Landes in die EU ist nicht nur eine Sehnsucht der Mittelschicht, sondern weiter Kreise der ­Bevölkerung. Umfragen zufolge unterstützen 80 Prozent den möglichen EU-Beitritt. Nicht zuletzt ist mit ihm die Hoffnung auf einen legalen und geregelten Zugang zum EU-Arbeitsmarkt verbunden. Die verarmte Bevölkerung Georgiens verlässt massenhaft das Land, allein 2021 und 2022 emigrierten insgesamt 180.000 Personen, knapp fünf Prozent der Bevölkerung. Viele landen unter höchst prekären Bedingungen in Westeuropa, in Deutschland werden sie beispielsweise als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt. Immer mehr Georgier:innen beantragen in Deutschland Asyl, oft, um eine Krankenversorgung zu erhalten. Ohne Berücksichtigung dieser aus der Not geborenen Hoffnung auf die EU lässt sich die Wut der Demonstrant:innen auf dem Rustaweli-Boulevard nicht ver­stehen.