Die Selbstmusealisierung Europas

Postmoderne Landnahme

Was sich in internationalen Touristenhochburgen wie Venedig, London und Paris bereits als Alltag abzeichnet, könnte die Zukunft des gesamten europäischen Hinterlands sein, inklusive Bielefeld und Rügen. Europa könnte für die Touristen der Zukunft ein von Europäer­darstellern be­­wohn­­tes Museum, deren Alltag ein unterhaltsames Folklore­schau­spiel sein.

Die Idee ist vielleicht gar nicht mal so schlecht: Das alte Europa wird unter eine Glaskuppel gesteckt und als lebendes Museum der vergangenen Moderne und der noch vergangeneren Kunst- und Kriegsgeschichte zum Tourismus-Hotspot für die Welt, die sich bekanntlich immer weiterdreht. Die Hyper­modernen und Neobarbaren aus aller Welt bestaunen die Akropolis, das Kolosseum und Hitlers Geburtshaus, machen ein paar Selfies an der Reichenbachbrücke, nehmen einen gepflegten Imbiss auf einer Original-Almhütte zu sich und erwerben eine Marx-Büste aus Bimsstein als Souvenir. Man kann die Wiege der Demokratien, die Schlachtfelder, die Konzentrationslager und Gemälde von Caravaggio und Picasso besichtigen.

In Städten wie Venedig mag man, wenn man überhaupt vor Menschen noch etwas sieht, eine einstige Blüte der Zivilisation bewundern, die heutzutage nur noch als »einfach schön« gilt. Dazu aber gibt es Geschichten genug von Macht, Mord und Verführung für den kleinen Thrill zwischendurch. Man hört förmlich die Seufzer auf der nach ihnen benannten Brücke, und ein Hexenverbrennungs-Reenactment ­gehört zur Attraktion weiter nördlich. Was man vor allem mitbringen muss, ist Geduld beim Schlangestehen.

Europa als Ganzes würde unter der Glaskuppel wiederholen, was solche Städte bereits ereilt hat: Der soziale, ökologische und architektonische Zusammenbruch durch unbarmherzigen overtourism (Übertourismus). Es gilt die Regel: Der Profit der Touristifizierung wird den Konzernen und ihren Agenten zugeschlagen, die Folgen tragen die Bevölkerung und die seltenen Exemp­lare wirklich Reisender. Venedig, Sylt, Berlin, vielleicht bald auch Bielefeld (wegen der vielen Witze, die man über die arme Stadt macht) werden so teuer, dass sich die Ureinwohner das Leben dort nicht mehr leisten können.

Man weiß gar nicht mehr, wen man mehr verachten soll, den Sauf­touristen im Hawaii-Hemd oder den Oberlehrer in Birkenstock-Sandalen.

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