Islamistische Anschläge auf eine Synagoge und zwei Kirchen in Dagestan

Jihad im Kaukasus

Bei Anschlägen auf Polizeiposten, Kirchen und eine Synagoge in der russischen Kaukasus-Republik Dagestan wurden 20 Menschen getötet, die meisten von ihnen Polizisten.

Rauch strömt aus dem dritten Stock der Synagoge in Machatschkala. Eine männliche Stimme verwünscht Ungläubige, kündigt an, sie zu töten. Schließlich endet das kurze Video mit einem lauten »Allahu akbar«-Ruf. An der Eingangstür hinterlassen die Angreifer Zahlencodes, die auf Koransuren wie diesen verweisen: »Und kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung mehr gibt und die Religion gänzlich Allahs ist.« Zurück bleiben auch die Leichen der Wachmannschaft.

Machatschkala ist die Hauptstadt der im Nordkaukasus gelegenen, zu Russland gehörenden Republik Dagestan, die überwiegend von Muslimen bevölkert ist. Hier haben bewaffnete Islamisten am frühen Sonntagabend – dem Tag des orthodoxen Pfingstfests – außerdem auf eine orthodoxe Kirche geschossen. Kurz zuvor waren bei der Polizei erste Meldungen über Angriffe mit Brandsätzen und Schusswaffen aus der weiter südlich, nahe der Grenze zu Aserbaidschan gelegenen Stadt Derbent eingetroffen.

Die Synagoge in Derbent brannte bis weit in Nacht, Lösch­arbeiten wurden zeitweilig ausgesetzt. Die Mauern des über 100 Jahre alten Gebäudes hielten dem Feuer zwar stand, doch die Schäden im Inneren sind erheblich, der Gebetssaal ist komplett ausgebrannt. 

Insgesamt fielen den Anschlägen und folgenden Schusswechseln mindestens 20 Menschen zum Opfer, darunter 15 Polizisten, dazu kommen über drei Dutzend Verletzte. Die Synagoge in Derbent brannte bis weit in Nacht, Lösch­arbeiten wurden zeitweilig ausgesetzt. Die Mauern des über 100 Jahre alten Gebäudes hielten dem Feuer zwar stand, doch die Schäden im Inneren sind erheblich, der Gebetssaal ist komplett ausgebrannt. Auch hier kamen Wachmänner ums Leben. Dem Geistlichen Nikolaj Kotelnikow, seit über 40 Jahren mit der orthodoxen Kirche auf der zentral gelegenen Leninstraße verbunden, schnitten die Jihadisten die Kehle durch. Die Täter attackierten während ihrer Flucht außerdem mehrere Polizeipatrouillen.

Nach offiziellen Angaben wurden fünf Angreifer getötet, deren Identität schnell feststand. Zwei von ihnen, dar­­unter der mutmaßliche Anführer der Gruppe, Osman Omarow, sind Söhne des Vorstehers eines im zentralen Teil von Dagestan gelegenen Bezirks, Magomed Omarow. Dieser wurde mittlerweile seines Amts enthoben und aus der Partei Einiges Russland ausgeschlossenen. Mit von der Partie war auch dessen Neffe. Die restlichen beiden stammten aus derselben Gegend, einer von ihnen leitete die lokale Zweigstelle der Partei Gerechtes Russland. Der andere soll in einem Club des Vaters des bekannten ehemaligen Mixed-Martial-Arts-Profis Habib Nurmagomedow trainiert haben, was Letzterer jedoch dementierte.

Magomed Omarow soll bei seiner Vernehmung durch Ermittler zugegeben haben, von den radikalislamistischen Überzeugungen seiner Söhne und des Neffen gewusst zu haben, allerdings stehe er bereits seit Jahren nicht mehr in Kontakt zu ihnen. Im Übrigen hätten deren Ansichten keinerlei Zustimmung bei der restlichen Verwandtschaft gefunden. Fest steht, dass alle bislang mit den Anschlägen in Verbindung gebrachte Personen aus Verhältnissen stammten, die ihnen an sich gute Karrierechancen versprachen. Über den Weg ihrer islamistischen Radikalisierung ist hingegen wenig bekannt und auch nicht darüber, ob sie als autonome islamistische Gruppe agierten oder sich als Teil eines Ablegers der Terrormiliz »Islamischer Staat« begriffen.

Neue Welle des Jihad gegen Russland?

Abwegig sind derlei Mutmaßungen keineswegs. Als sich Ende März der Islamische Staat – Provinz Khorasan (ISPK) zu dem Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle Crocus City Hall mit 145 Todesopfern bekannte, erhielt erstmals seit Jahren wieder ein Phänomen große Aufmerksamkeit, das sich in der russischen Hauptstadt leicht hatte verdrängen lassen. Der Afghanistan-Experte Andrej Serenko geht in einem Beitrag für die russische Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta sogar so weit, dass er von einer neuen Welle des Jihad gegen Russland spricht. Er argumentiert, dass es dem ISPK mit seinem Terroranschlag in der Moskauer Crocus City Hall gelungen sei, sowohl bei den afghanischen Taliban neue Anhänger anzuwerben als auch im Kaukasus, wo ein neuer Ableger der Terrormiliz entstanden sei.

Eine Gruppe mit dem Namen »Islamischer Staat – Provinz Kaukasus« (ISCP oder auch Wilajat Kawkas) war bereits 2015 entstanden, als im »Emirat Kaukasus« vereinigte Jihadisten dem damaligen Anführer des IS in Irak und Syrien, Abu Bakr al-Baghdadi, die Treue schworen. Russlands Sicherheitsapparat ging rigoros gegen den ISCP im Nordkaukasus vor, eine Zeitlang war sogar von einer weitgehenden Zerschlagung die Rede. Doch finden sich immer mehr Hinweise, dass der Kampf gegen islamistische Terrorgruppen auf der Prioritätenliste der Ordnungskräfte weit nach unten gerutscht ist.

Konkrete Warnungen der US-Botschaft in Moskau vor einem geplanten islamistischen Anschlag in der Crocus City Hall schlugen die russischen Sicherheitsbehörden in den Wind. Nach Angaben des Institute for the Study of War (ISW) veröffentlichte der ISPK unmittelbar nach den jüngsten Vorfällen in Dagestan über einen seiner Kanäle, al-Azaim Media, eine Stellungnahme mit einem expliziten Lob an die »Brüder aus dem Kaukasus«. Sie hätten unter Beweis gestellt, wozu sie fähig seien. Um ein Bekennerschreiben handelte es sich zwar nicht, doch das ISW wertet es als ein Indiz dafür, dass ein lokaler Ableger der Terrormiliz für die Taten verantwortlich ist.

Antisemitischer Mob auf dem Flughafen Dagestans

Sergej Melikow, der Präsident von Dagestan, teilte bei einer Ansprache an die Bevölkerung mit, er wisse, wer hinter den Anschlägen stecke und welche Ziele damit verfolgt würden. »Der Krieg macht auch vor unserem Zuhause nicht halt«, konstatierte er darin. Es handle sich um einen Versuch, die nationale Einheit zu spalten; klar sei auch, dass ausländische Kräfte bei der Vorbereitung beteiligt gewesen seien. Als Ende Oktober ein antisemitischer Mob aus rund 1.200 Personen das Gelände des Flughafens in Machatschkala gestürmt hatte, um Passagiere aus einer aus Tel Aviv gelandeten Maschine in ihre Gewalt zu bekommen, war der Zusammenhang mit dem brutalen Angriff der Hamas vom 7. Oktober und Israels militärischem Vorgehen im Gaza-Streifen offensichtlich.

Melikow dürfte darum bemüht sein, Kritik im Voraus abzuwenden. Mit Unverständnis für fehlende Bereitschaft oder Fähigkeit, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, sieht er sich jedenfalls häufig konfrontiert. Die Region gilt aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und einer alle Lebensbereiche durchdringenden Korruption für den russischen Staat als problematisch. Mitte Juni sollte im benachbarten Krasnodarer Gebiet ein Strafprozess gegen fünf Teilnehmer der Oktoberunruhen beginnen, allerdings wurden die Verhandlungen auf Juli verschoben. Offenbar sind die Behörden bemüht, den Fall nicht an die große Glocke zu hängen, was für Irritationen sorgt.

Fragen wirft auch die Geiselnahme von Wachpersonal Mitte Juni in einem Untersuchungsgefängnis im südrussischen Rostow am Don durch Jihadisten auf. Vier von ihnen wurden kürzlich wegen Terrorismus verurteilt. Sie waren mit Messern bewaffnet und präsentierten sich bei ihrer Aktion mit Flaggen des IS. Allein dieser Umstand sollte zu denken geben.

Der in Teilen der Linken populäre Journalist Maksim Schewtschenko, der sich als Kaukasus-Experte darstellt, tut die Anschläge als kriminelle Umtriebe verwöhnter junger Männer ab.

Umso auffälliger ist, mit welcher Vehemenz in Russland Beobachter und Politiker darauf pochen, dass es sich trotz zunehmender islamistischer Aktivitäten in Russland am Sonntag nicht um einen von Islamisten verübten Anschlag handeln könne. Abdulchakim Gadschijew, ein Duma-Abgeordneter aus Dagestan, will eine Verbindung zu ukrainischen Geheimdiensten und Nato-Mitgliedsländern erkannt haben. Der in Teilen der Linken populäre Journalist Maksim Schewtschenko, der sich als Kaukasus-Experte darstellt, tut die Anschläge als kriminelle Umtriebe verwöhnter junger Männer ab. Präsident Wladimir Putin gab bereits nach dem Terroranschlag in Moskau seine Linie vor: Russland komme allein schon deshalb als Zielscheibe islamistischer Fundamentalisten nicht in Frage, weil das Land trotz konfessioneller und ethnischer Vielfalt eine beispiellose Einigkeit demonstriere.

Putin inszeniert sich ohnehin lieber als global player. Am 19. Juni reiste er für eine Stippvisite nach Nordkorea. Der Kern des Besuchs bestand in der Unterzeichnung eines umfassenden Vertrags über strategische Partnerschaft, der Neuauflage eines Bündnisvertrags zwischen der Sowjetunion und Nordkorea aus dem Jahr 1961. In Artikel vier heißt es, dass im Falle eines Angriffs durch einen Drittstaat der Bündnispartner »unverzüglich alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel« einsetzen müsse, um »militärischen und sonstigen Beistand« zu leisten. Putin reiste nach Vietnam weiter, wo er Öl- und Gasverträge schloss und den Bau eines Zen­trums für Atomwissenschaft im Süden Vietnams verabredete.