Antisemitische Übergriffe im muslimisch geprägten Nordkaukasus

Kollektives Gebet für Palästina

In Dagestan versuchte ein aufgebrachter Mob, Passagiere eines Flugzeugs aus Israel anzugreifen. Auch in anderen Teilen des Nordkaukasus gab es antisemitische Übergriffe. Aufgerufen zu derartigen Protesten wurde bei Telegram. Russlands Präsident sieht die Drahtzieher hinter dem Aufruhr in den USA und der Ukraine.

Was sich am letzten Oktobersonntag am Flughafen von Machatschkala abspielte, sorgte weit über die Grenzen von Dagestan hinaus für Irritationen und Empörung. Die Tage zuvor waren in zahlreichen lokalen Telegram-Kanälen Behauptungen verbreitet worden, wonach israelische Staatsangehörige auf der Flucht vor dem von der Hamas angezettelten Krieg ausgerechnet den russischen Nordkaukasus angepeilt hätten. Ein aufgebrachter Mob aus rund 1.200 Personen – so berichtete später die Polizei – stürmte an jenem frühen Abend zunächst das Flughafengebäude und rannte weiter über das Rollfeld zu einer eben gelandeten Maschine aus Tel Aviv. Einige hatten palästinensische Flaggen dabei, vereinzelt waren Rufe »Tod den Juden!« zu hören. Was passiert wäre, hätten sie von ihnen als Israelis identifizierte Passagiere in ihre ­Gewalt bekommen, lässt sich nur erahnen.

Seit Februar fliegt die russische Fluggesellschaft Red Wings von mehreren Städten aus Tel Aviv an, darunter seit Mitte Oktober auch aus Machatschkala. An jenem frühen Abend befanden sich in der Maschine 45 Passagiere. Etwa ein Viertel von ihnen verfügte über einen israelischen Pass – sie wurden mit einem Militärhubschrauber in Sicherheit gebracht –, bei den meisten handelte es sich hingegen um russische Staatsangehörige, darunter viele Frauen und Kinder, die nach einer medizinischen Behandlung aus Israel zurückgekehrt waren.

Einige Männer forderten Zugang zum Flugzeuginneren, um die Pässe der Angekommenen zu überprüfen. Auf der Zufahrtstraße zum Flughafen hielt der Mob Autos und Busse an, um sich die Ausweise der Insass:innen zeigen zu lassen; nicht einmal vor Polizeiwagen machte er halt. Ein Mann inspizierte im allgemeinen Tumult sogar das Triebwerk, offenbar in der Annahme, dass aus Israel Geflüchtete sich darin versteckt haben könnten.

Bei den meisten Passagieren handelte es sich um russische Staatsangehörige, darunter viele Frauen und Kinder, die nach einer medizinischen Behandlung aus Israel zurückgekehrt waren.

Bereits am Samstag hatte sich in der ebenfalls in Dagestan gelegenen Stadt Chassawjurt eine Menschenmenge vor einem Hotel namens Flamingo versammelt. Gerüchte, wonach sich dort geflüchtete Israelis aufhalten sollen, hatten sich nach einer Überprüfung im Beisein der Polizei nicht bestätigt. In einem zweiten Hotel wurde die Menge ebenfalls nicht fündig.

In anderen Republiken des Nord­kaukasus richteten sich Aktionen nicht nur gegen Israelis, sondern auch ­gegen im Kaukasus ansässige Jüd:in­nen. So fanden sich in Tscherkessk rund 80 Personen vor dem Gebäude der Lokalregierung ein und forderten lauthals, Jüd:innen auszuweisen. In Nal­tschik, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Kabardino-Balkarien, wurde ein sich noch im Bau befindliches jüdisches Kulturzentrum durch Brandstiftung zerstört.

Allem Anschein nach hatte die Führung der Ordnungskräfte nicht mit Ausschreitungen des Ausmaßes gerechnet, wie sie am Flughafen von Machatschkala zu beobachten waren. Verstärkung war zwar vor Ort, aber die Polizei ließ den Mob zunächst gewähren. Schließlich kamen Einheiten der Rosgwardija (Nationalgarde) zum Einsatz, es gab über 20 Verletzte, auch unter Polizeiangehörigen.

In Aufrufen zu den Protesten hatte es zuvor geheißen, die Polizei sei dieses Mal »nicht von Interesse« und nicht zu provozieren, da sie sich ebenfalls mit Palästina solidarisiere. Diese Annahme war nicht unbegründet, wie die Zurückhaltung lokaler Einsatzkräfte zeigte. Außerdem präsentierte Sergej Melikow, der Präsident von Dagestan, ein Video mit einem Staatsbeamten, der anscheinend zum Flughafen fuhr, um ­alles zu unternehmen, damit die aus Israel Ankommenden »den Weg hierher nicht mehr finden«, wie er sagte.

Melikow, der als Offizier im Ersten Tschetschenien-Krieg gekämpft hatte und seit drei Jahren Dagestan mit harter Hand regiert, kündigte eine konsequente Strafverfolgung für die Teilnahme an den Ausschreitungen am Flughafen an. Mit Nachsicht hätten diese »Verräter« nicht zu rechnen. Doch seine Tonart mäßigte sich, nachdem sich der russische Präsident Wladimir Putin zu den Vorfällen geäußert hatte. Der sieht die Drahtzieher der versuchten Pogrome in den USA und der Ukraine, was an Absurdität kaum zu überbieten sein dürfte.

Abbas Galljamow, ein im Exil lebender ehemaliger Redenschreiber Putins, vermutet, dieser habe zu verstehen geben wollen, dass der Mob in Machatschkala im Großen und Ganzen die Sicht des Kreml auf die derzeitigen Entwicklungen im Nahen Osten teile. Bis Wochenanfang vermeldeten die Polizeibehörden zwar rund 200 Festnahmen, aber die meisten der Festgenommenen kamen mit Ordnungsstrafen davon, gegen weniger als ein Dutzend Teilnehmer laufen Strafermittlungen wegen Beteiligung an Massenunruhen. Melikow ruft derweil dazu auf, lieber für Hilfsorganisationen der Palästinenser zu spenden, anstatt an illegalen Protestaktionen teilzunehmen.

Wer tatsächlich hinter den antiisraelischen Aufrufen steckt, lässt sich indes nicht klar beantworten. Mit die weiteste Verbreitung fanden sie durch den mittlerweile gesperrten Telegram-Kanal »Utro Dagestan« (Morgen Da­gestan). Im Herbst 2022 hatte dieser Kanal einen entscheidenden Beitrag zur Koordination der Proteste gegen die damals erfolgte Teilmobilmachung geleistet, die in Dagestan ein weitaus größeres Ausmaß angenommen hatte als in anderen Teilen der russischen Föderation. Ilja Ponomarjow, ein in Kiew ­lebender ehemaliger Abgeordnete der russischen Duma, hatte an verschiedener Stelle immer wieder betont, die Betreiber von »Utro Dagestan« seien ­damals auf ihn zugekommen mit der Bitte um Unterstützung, doch die ­Zusammenarbeit habe er später eingestellt. Mittlerweile distanzierte er sich völlig von den Islamisten, die den Kanal betrieben hätten.

Viele russische Medien knüpfen an die sowjetische Berichterstattung an, die hart über die »israelische Kriegsmaschinerie« urteilt, für die palästinensische Seite aber Verständnis aufbringt.

Dagestan birgt ohnehin nach allgemeiner Einschätzung Konfliktpotential. Das liegt an der desolaten sozialen Lage, die mit Arbeitslosigkeit einhergeht, aber auch an schwelenden Terri­torialkonflikten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und einer miserablen Infrastruktur. Proteste sind daher keine Seltenheit. Dass der Krieg zwischen der Hamas und Israel insbesondere in Dagestan auf derart großes Interesse stößt, ist indes eine neue Tendenz, die der russischen Regierung in Zukunft noch mehr Kopfzerbrechen bereiten könnte als jetzt schon; der in Dagestan vorherrschende eher gemäßigte Sufi-Islam wird von starken salafistischen Tendenzen bedrängt. Viele russische Medien knüpfen mittlerweile an die sowjetische Tradition der Berichterstattung über den Israel-Palästina-Konflikt an, die hart über die »israelische Kriegsmaschinerie« urteilt, für die ­palästinensische Seite hingegen Verständnis aufbringt.

Im Nordkaukasus mit seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung treffen solche Nuancen in der Darstellung auf besonderen Nährboden. In Tsche­tschenien ist Palästina-Solidarität sogar oberste Pflicht, Diktator Ramsan Kadyrow ergriff klar Partei und rief unter anderem zum kollektiven Gebet für Palästina auf. Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, wer die antisemitischen Aufrufe getätigt hat, die zu den Ausschreitungen geführt haben, doch ist zumindest davon auszugehen, dass die klar artikulierte antiisraelische Haltung Kadyrows den Boden dafür bereitet hat.

Melikow bleibt da nur noch, die ­Zeichen aus dem Kreml richtig zu deuten und für Ruhe in Dagestan zu sorgen. Kein anderer Präsident einer Republik im Nordkaukasus sitzt so fest im Sattel wie Kadyrow. Durch zur Schau gestellte Loyalität sichert er seine Macht, die sich der Kreml hohe Summen kosten lässt. Kadyrow hatte sich im Übrigen auch angeboten, Teile der Söldnergruppe Wagner aufzunehmen und ­diese in die tschetschenische Sondereinheit Achmat zu integrieren. Diese, wie es in Kadyrows Telegram-Kanal am Montag hieß, durchlaufe derzeit ein Trainingsprogramm zur Vorbereitung auf einen Kampfeinsatz.

Auf dem afrikanischen Kontinent übernehmen nach Kenntnis des Wall Street Journal zwei andere Söldnergruppen die vormaligen Aufgaben der Söldnergruppe Wagner – Redut und Konwoj, die von zwei Putin nahestehenden ­Geschäftsleuten kontrolliert werden, Gennadij Timtschenko und Arkadij ­Rotenberg. Der Großteil der Wagner-Organisation, wie sie nach dem Scheitern des vom Gründer der Söldnertruppe, Jewgenij Prigoschin, initiierten »Marsches der Gerechtigkeit« übriggeblieben ist, soll in die Rosgwardija eingegliedert werden.

Noch ist der Prozess jedoch nicht abgeschlossen. US-amerikanische Nachrichtendienste vermuten mittlerweile, dass die libanesische Hizbollah-Miliz aus Wagner-Beständen mit dem Flugabwehrraketen- und Kanonensystem Pantsir-S1 (Nato-Codename SA-22 Greyhound) beliefert worden ist. Eindeutige Beweise dafür liegen indes noch nicht vor. Das Luftabwehrsystem ist auf einem Militärfahrzeug montiert. Es wurde von Russland entwickelt, um Flugzeuge, Drohnen und feindliche Präzisionsmunition abzufangen.