Die Suche nach einem neuen tschetschenischen Staatsoberhaupt läuft

Diktator gesucht

Die jüngste Verschlechterung des Gesundheitszustands des tschetschenischen Herrschers Ramsan Kadyrow befördert Spekulationen um seine Nachfolge.

Denkt man an Tschetschenien, denkt man sofort an Gewaltherrschaft par excellence. Seit 2007 heißt der Diktator an der Spitze der zur russischen Föderation gehörenden Nordkaukasusrepublik Ramsan Kadyrow. Und das unan­gefochten, weil die Moskauer Zentralregierung Kadyrows Entschlossenheit, mit der er gegen separatistische Tendenzen vorgeht, zu schätzen weiß; der Kreml gewährt großzügige Transferleistungen und lässt Kadyrow freie Hand, brutal gegen Abtrünnige vorzugehen – seien es Gegner seines allei­nigen Führungsanspruchs, Islamisten oder Menschen, deren sexuelle Orientierung dem Regime nicht passt.

Die tschetschenische Gesellschaft hat nach strikten Regeln zu funktionieren. Kadyrow modelliert den Islam ­lokaler Prägung nach seinen persönlichen Vorstellungen, die Kultur wird in Schemata gepresst, die angeblich der tschetschenischen Mentalität entsprechen. Seit kurzem gilt bei Musik und Gesang eine Tempovorgabe zwischen 80 und 116 Schlägen in der Minute. An stalinistische Praktiken erinnernde Entschuldigungsrituale, deren Videoaufzeichnungen viral gehen, haben sich in Tschetschenien zur Abschreckung und Demütigung bewährt und finden längst auch im restlichen Russland Anwendung. Und nicht nur dort. Kady­rows langer Arm reicht bis nach Westeuropa. 2020 wurden in Lille und bei Wien zwei tschetschenische Oppositionelle mutmaßlich aufgrund ihrer offen vorgebrachten politischen Haltung ­getötet.

47 Jahre jung, könnte Kadyrow theoretisch noch jahrzehntelang weiter despotisch regieren – vorausgesetzt, sein Gesundheitszustand lässt dies zu. Doch es verdichten sich die Hinweise, dass es um diesen nicht allzu gut steht. Schon seit geraumer Zeit kursieren Gerüchte, Kadyrow sei schwer angeschlagen, eine Covid-19-Erkrankung 2020 habe seine Gesundheit dauerhaft geschädigt. Von Nierenversagen war die Rede, einem aufgeschwemmten Körper, Atemnot; im September 2023 wurde er dem Exilmedium Nowaja Gaseta Jewropa zufolge in einer Moskauer Klinik sogar kurzzeitig in ein medikamentöses Koma versetzt. Immer häufiger glänzt Kadyrow durch Abwesenheit. Präsentiert er sich gelegentlich doch der Öffentlichkeit, gibt er keine gute Figur ab und ist teils kaum in der Lage zu sprechen.

Kadyrow nutzte die vergangenen Jahre intensiv, um nahe Verwandte auf allen möglichen Führungs­posten zu platzieren, auch seine Kinder.

Die Zeit scheint reif für einen Machtwechsel. Aber das ist leichter gesagt als getan. Kadyrow nutzte die vergangenen Jahre intensiv, um nahe Verwandte auf allen möglichen Führungsposten zu platzieren, nicht zuletzt ­seine Kinder. Sein Sohn Achmat, gerade einmal volljährig, erhielt Anfang des Jahres zunächst das Amt des Ministers für Jugend, um nur wenige Monate später das Sportministerium anzuführen. Kadyrows 24jährige Tochter Chadischat stieg gleichzeitig zur ersten stellvertretenden Verwaltungsleiterin der Regierung auf, zuständig für soziale Belange – Ämter mit unklar umrissenem Aufgabenbereich gibt es viele in Tschetschenien. Ihre ältere Schwester Ajschat ist seit 2021 Kulturministerin, während Diktatorensohn Adam im Teenageralter wegen Gewaltexzessen wie der Misshandlung eines wegen ­Koranverbrennung angeklagten jungen Mannes aus Wolgograd mit dem Orden »Held Tschetscheniens« bedacht wurde.

Doch niemand von ihnen kommt in Frage, womöglich in Bälde die Nach­folge des Vaters anzutreten; diese Rolle wird wohl einer Person zufallen müssen, die in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zum derzeitigen unangefochtenen tschetschenischen Oberhaupt steht. Aufgrund der Clanstrukturen im Land könnte sich dieser Umstand als durchaus problematisch erweisen.

Überreste der Söldnergruppe Wagner integriert

Im Dezember wurde Kadyrow beim Parteitag der Partei Einiges Russland von Apti Alaudinow vertreten. Der Kommandeur der tschetschenischen Spe­zialeinheit Achmat steht nicht nur Kadyrow nahe, sondern hat sich auch aus russischer Sicht im Ukraine-Krieg verdient gemacht. Im März sorgte er dafür, dass Überreste der Söldnergruppe Wagner in die von ihm geführte Einheit integriert wurden.

Kurz darauf wurde er zum stellvertretenden Abteilungsleiter für militärpolitische An­gelegenheiten beim russischen Verteidigungsministerium befördert – für ­einen ehemaligen Polizisten aus dem Nordkaukasus ein Aufstieg sondergleichen.
Alaudinow dürfte aber nicht der einzige potentielle Anwärter für die zukünftige Führung Tschetscheniens sein. Mitte Mai trat Magomed Daudow von seinem Posten als Parlamentssprecher zurück und wurde kurzerhand zum Ministerpräsidenten ernannt. Sein Vorgänger in dem Amt, Muslim Chutschijew, wechselte nach Moskau und fungiert nun als Berater des russischen Ministerpräsidenten Michail ­Mischustin.

Daudow gilt als Kadyrows enger Vertrauter, ist geübt darin, Angst und Schrecken zu verbreiten, und hat seine Loyalität in den russischen Kriegen ­gegen tschetschenische Separatisten bewiesen. Gleichwohl ist nicht gesagt, dass er seiner neuen Aufgabe gewachsen ist. Ihm fehlt es an Bildung, an ­politischer Erfahrung im Umgang mit dem Moskauer Machtzentrum und ohne Ramsan Kadyrow im Rücken womöglich auch an Autorität.

Fehlender Rückhalt im tschetschenischen Repressionsapparat

Da im Falle von Kadyrows Abwesenheit dessen Kompetenzen auf den Ministerpräsidenten übergehen, stellt Daudows Ernennung ein Politikum dar. Chutschijew, dessen berufliche Karriere in den neunziger Jahren als Journalist in Moskau begann, kommt als möglicher Kandidat zwar ebenfalls in Frage, doch haftet ihm ein großes Manko an – im fehle es an Rückhalt im tschetschenischen Repressionsapparat, wird gemutmaßt. Eine reibungslose Machtübergabe ist so kaum vorstellbar.

Wenig ändern wird sich vermutlich indes an der patriarchalen Familiengewalt, der insbesondere junge tschetschenische Frauen ausgesetzt sind. Beispielhaft dafür steht das Schicksal von Seda Sulejmanowa. Mit 25 Jahren entkam sie ihrer Familie und einer Zwangsheirat und lebte einige Monate in Sankt Petersburg. Als Sulejmanowa ihren russischen Partner heiraten wollte, widersetzten sich ihre Angehörigen.

Schließlich nahm die russische Polizei sie im vergangenen Sommer unter fadenscheinigen Vorwänden fest. Die brachte die junge Frau nach Tschetschenien zurück, wo sich ihre Spur verlor. Vermutlich wurde Sulejmanowa Opfer eines sogenannten Ehrenmords. Die 19jährige Lija Saurbekowa hatte mehr Glück. Ihr gelang die Flucht aus Russland, weil die Moskauer Polizei sie nach einer Festnahme doch nicht der Verwandtschaft in Tschetschenien aushändigte.