Der Terroranschlag auf die Crocus City Hall

Massaker in Moskau

In einer Moskauer Konzerthalle töteten Bewaffnete mehr als 130 Menschen. Der sogenannte Islamische Staat Provinz Khorasan reklamierte den Anschlag für sich, Wladimir Putin beschuldigt ­indirekt die Ukraine.

Am Sonntag herrschte in ganz Russland Staatstrauer. Zwei Tage zuvor hatten bei einem Terroranschlag in Moskau mindestens 139 Menschen ihr Leben verloren, in Krankenhäusern liegen Dutzende Schwerverletzte. Das immense Ausmaß der Tragödie rief landesweit Fassungslosigkeit und Entsetzen hervor. Während der vergangenen zwei Jahre des Kriegs gegen die Ukraine hatte der Staat für Trauer keinen Platz vorgesehen, jetzt hingegen scheinen bei Russlands Bevölkerung aus dem öffentlichen Gedächtnis längst verdrängte gewaltvolle Ereignisse, wie die Geiselnahme von Besuchern des Musicals »Nord-Ost« 2002 mit offiziell 130 Todesopfern, wieder ins Bewusstsein vorzudringen. Das schweißt zusammen; nur hinsichtlich der Frage, wer hinter dem jüngsten Anschlag steht, herrscht Uneinigkeit.

Während die unmaskierten Schützen mit Sturmgewehren vorgingen und in den großen Saal vordrangen, legte ein weiterer Täter an etlichen Stellen Feuer.

Am 22. März war der Konzertsaal mit 7.000 Plätzen in der Crocus City Hall, einem riesigen Veranstaltungskomplex direkt hinter der Moskauer Stadtgrenze, fast ausverkauft. Für den Auftritt der seit Jahrzehnten populären russischen Rockband Piknik waren Fans aus halb Russland angereist. Im selben Gebäude fand außerdem ein Tanzsportwettbewerb statt. Kurz vor 20 Uhr drangen mehrere bewaffnete Männer in die Crocus City Hall ein und begannen schon im Eingangsbereich, gezielt und systematisch auf Menschen zu schießen. Während die unmaskierten Schützen mit Sturmgewehren vorgingen und in den großen Saal vordrangen, legte ein weiterer Täter an etlichen Stellen Feuer.

Eine Viertelstunde nach ihrem Erscheinen verließ die Terrorgruppe das Gebäude unbehelligt. Notausgänge waren teils blockiert, die schnelle Rauchentwicklung behinderte eine Evakuierung zusätzlich. Manche hatten sich in den Toiletten Zuflucht vor der Schießerei gesucht und schafften es nicht mehr, diese rechtzeitig zu verlassen. Auch umfangreiche Löscharbeiten konnten nicht verhindern, dass schließlich das Dach einstürzte.

Die US-Botschaft in Moskau hatte bereits für das lange Wochenende ab dem 8. März vor möglichen Terroranschlägen insbesondere bei Konzertveranstaltungen gewarnt. Dem russischen Sicherheitsapparat hätten die USA die ihnen vorliegenden Informationen weitergeleitet, so die Nachrichtenagentur Interfax, doch seien diese allgemein gehalten gewesen, ohne konkrete Hinweise.

Nach der Präsidentschaftswahl bezeichnete Wladimir Putin das Vorgehen der USA als »Erpressung« mit dem Ziel, die russische Gesellschaft zu verunsichern und zu destabilisieren. Am 9. März trat in der Crocus City Hall der Sänger Schaman auf, der nach Beginn des großangelegten Angriffskriegs gegen die Ukraine mit patriotischen Hits wie »Ich bin Russe« einen enormen Karrieresprung hingelegt hatte. Gut möglich, dass bereits für diesen Tag konkrete Anschlagspläne vorlagen.

Gründe zur Annahme, der ISPK habe den Anschlag verübt, gibt es zur Genüge.

Margarita Simonjan, die Chefre­dakteurin von RT (früher Russia Today), präsentierte am Samstag gegen Mittag ihre eigene Version: Nicht eine islamistische Terrormiliz stecke hinter dem Anschlag, vielmehr sei dieser das Werk der Ukraine. Und da die Ukraine dem Kreml als Vasallenstaat der USA gilt, werden diese mitverantwortlich gemacht. Andere Propagandakanäle stimmten dieser Lesart unisono zu.

Am Nachmittag meldete sich schließlich Putin zu Wort. Aleksandr Bortnikow, der Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB, hatte dem Präsidenten da bereits elf Festnahmen im Zusammenhang mit dem Vorfall gemeldet. Die Täter, so Putin, hätten »sich in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübertritt vorbereitet worden war«.

Zu dem Zeitpunkt hatte sich bereits ein Ableger der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) zu dem Attentat bekannt. Über die IS-Nachrichtenagentur Amaq übernahm der sogenannte Islamische Staat Provinz Khorasan die Verantwortung, bekannt auch unter der Abkürzung ISPK oder ISIS-K. Etwas später veröffentlichte Amaq grausame ­Videoaufnahmen aus der Crocus City Hall, auf denen »Allahu akbar«-Rufe ertönen und zu sehen ist, wie ein Täter einem bereits am Boden liegenden Opfer die Kehle durchschneidet.

Gründe zur Annahme, der ISPK habe den Anschlag verübt, gibt es zur Genüge. Die 2015 in Afghanistan und Pakistan entstandene Terrorgruppe bekämpfte zunächst die US-Armee und die afghanische Regierung, nach der Machtübernahme der Taliban richtete sich ihr Kampf gegen diese. Zahlenmäßig unterlegen, änderte der ISPK seine Taktik und ging dazu über, Terroranschläge mit möglichst hohen Opferzahlen zu verüben. Im September 2022 kamen bei einer solchen Aktion auch mehrere Angehörige der russischen Botschaft in Kabul ums Leben. Und bei einem doppelten Suizidattentat im iranischen Kerman tötete die Terrormiliz Anfang Januar etwa 90 Menschen.

Unter der ta­dschikischen und usbekischen Minderheit im Norden Afghanistans scheint der ISPK an Popularität zu gewinnen und insbesondere in Tadschikistan dürften Anwerbungsversuche auf fruchtbaren Boden fallen.

Der IS zählt Russland schon wegen dessen militärischer Unterstützung der syrischen Regierung unter Bashar al-Assad zu seinen Feinden. Weitaus brisanter jedoch stellen sich Versuche des ISPK dar, seine Anhängerschaft in den Staaten Zentralasiens auszuweiten. Unter der ta­dschikischen und usbekischen Minderheit im Norden Afghanistans scheint der ISPK an Popularität zu gewinnen und insbesondere in Tadschikistan dürften Anwerbungsversuche auf fruchtbaren Boden fallen.

Ungereimtheiten bleiben dennoch. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie die Täter problemlos entkommen konnten, um dann an einem Ort nahe der ukrainischen Grenze gefasst zu werden. Vier Tatverdächtige wurden am Sonntag dem Haftrichter vorgeführt, zwei »gestanden« ihre Schuld. Einem von ihnen war nach der Festnahme ein Ohr abgeschnitten worden, ein anderer hatte, wie ein auf diversen regierungsnahen Kanälen gepostetes Video zeigt, direkt nach der Festnahme davon gesprochen, sich für die Zahlung einer größeren Summe auf die Aktion eingelassen zu haben. Er kenne die Regeln, sagte er. Ein anderes Video legt nahe, dass auch dieser Mann gefoltert worden war.

Das öffnet den russischen Autoritäten einen erheblichen Interpretationsspielraum. Wegen dieser Ungereimtheiten und des militärisch offenbar stümperhaften Vorgehens der Täter werden bereits erste Stimmen laut, die über eine false flag-Operation des Kreml spekulieren. Offensichtlich zeugt die Verbreitung der Foltervideos zumindest von einer weiteren Brutalisierung des Regimes.