In der Ukraine wächst die Zahl der Zwangsrekrutierungen

Kiew ist nicht Sparta

In der Ukraine werden immer mehr Männer unter Zwang zur Armee rekrutiert. Auch Arbeitskräfte fehlen, weil Millionen das Land verlassen haben. In Deutschland fordert die CDU, ukrainischen Flüchtlingen kein Bürgergeld mehr zu zahlen.

Ein Mann in Odessa wird von mehreren, teilweise uniformierten Männern festgehalten, wehrt sich, ruft nach einem Anwalt, bis er weggetragen wird. In Lwiw versuchen drei Uniformierte, einen laut rufenden Mann in ein Auto zu zwingen. Ein Video, das angeblich in Dnipro aufgenommen wurde, zeigt einen jungen Mann in Jeans, der sich aus dem Fenster eines Kleintransporters von Rekrutierungsbeamten herauszwängt und die Flucht ergreift.

Tag für Tag kursieren solche Videos aus allen Teilen der Ukraine in den sozialen Medien. Sie zeigen kleine Gruppen von Militärrekrutierern, die Männer auf der Straße aufgreifen und oft mit Gewalt in ein Fahrzeug zwingen.

 Bis Mitte Juli sind alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren, auch die, die im Ausland leben, verpflichtet, sich bei den zuständigen Stellen zu registrieren.

Es sind nur die extremen Szenen, die im Internet verbreitet werden, und oft auch in propagandistischer Absicht. Doch sie zeigen, wie die Rekrutierung von Soldaten in der Ukraine immer öfter abläuft. Meldeten sich zu Beginn der umfassenden Invasion Russlands noch mehrere Hunderttausend freiwillig zur Armee, wendet der Staat mittlerweile oft Zwang an. Der Bedarf an neuen Soldaten ist hoch. Mittlerweile können auch 25jährige eingezogen werden, bislang war das Mindestalter 27. Auch Gefängnisinsassen können sich seit Mai für besonders gefährliche Einheiten an der Front melden; anders als in Russland prüfen Gerichte jeden einzelnen Antrag, nach Dienstende wird die Reststrafe nicht erlassen, sondern zur Bewährung ausgesetzt.

Am 18. Mai trat das lange angekündigte neue Mobilisierungsgesetz in Kraft. Die verstärkte Mobilmachung lief da schon seit Monaten – die Armeeführung hatte bereits im Dezember angekündigt, dass sie Hunderttausende neue Soldaten brauche. Der Mai sei der erfolgreichste Monat bei der Rekrutierung von neuen Soldaten seit über einem Jahr gewesen, sagte der Vorsitzende des parlamentarischen Verteidigungsausschusses, Roman Kostenko.

Das Gesetz soll die bislang oft mangelhafte Erfassung aller Militärdienstpflichtigen verbessern: Bis Mitte Juli sind alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren, auch die, die im Ausland leben, verpflichtet, sich bei den zuständigen Stellen zu registrieren, damit sie jederzeit eine Vorladung zur Musterung oder Einberufung zugestellt bekommen können. Jeder Mann soll jederzeit seine Registrierungsbescheinigung vorzeigen können, sei es bei Behördengängen oder auf der Straße.

Verweigerern drohen bis zu fünf Jahre Haft

Gleichzeitig wurden die Strafen erhöht. Wer sich nicht registrieren lässt, dem droht eine Geldstrafe von umgerechnet 117 Euro, wer einen Einberufungsbescheid ignoriert, muss über 570 Euro zahlen. Bei Wiederholung summieren sich die Strafen – was bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 450 Euro in der Ukraine schnell unbezahlbar werden kann – und man kann zur Fahndung bei der Polizei ausgeschrieben werden. Auch der Führerschein kann entzogen werden. Wer sich weiter verweigert, dem drohen bis zu fünf Jahre Haft.

Das neue Gesetz sollte auch eine Beschränkung der Dienstzeit auf 36 Monate enthalten. Doch kurz vor Verabschiedung des Gesetzes wurde dieser Passus, angeblich auf Insistieren der Militärführung, die auf keinen Soldaten verzichten könne, gestrichen. Somit bleibt für Soldaten weiterhin unklar, wann sie wieder ins zivile Leben zurückkehren werden können.

»Es ist Routine geworden, dass Menschen mitten auf der Straße gekidnappt und zum Einberufungsamt gebracht werden. Früher gab es das nur in bestimmten Regionen des Landes, aber mittlerweile selbst in der Hauptstadt«, beschreibt der ukrainische Sozialwissenschaftler Dmytro S.* gegenüber der Jungle World die Methoden der Rekrutierung. S. lebt außerhalb der Ukraine, will aber anonym bleiben, um offener über dieses Thema sprechen zu können. »Es herrscht eine gewisse Gesetzlosigkeit«, sagt er, »Freiheitsberaubung ist ja nach wie vor ein Verbrechen, aber die Polizei ist offenbar angehalten, nicht einzuschreiten. Auch auf den Einberufungsämtern gibt es Fälle von Gewalt. Rekruten werden unter Druck gesetzt, bis sie unterschreiben, sie werden geschlagen.«

Zu schrecklichen Kalkulationen gezwungen

Ende Mai wurde der Chefredakteur der Online-Zeitung Ekonomitschna Prawda, Dmytro Denkow, in der Region Odessa auf einem Einberufungsamt festgehalten, ohne mit der Außenwelt kommunizieren zu können, so dass seine Kollegen und Angehörigen ihn für vermisst hielten und die Polizei verständigten. Später gab er bekannt, dass er sich mit den Rekrutierern geeinigt habe, dass er sich bei einer Kampfeinheit melden werde.

»Mein Eindruck ist, dass die meisten immer pragmatischer über den Militärdienst nachdenken«, sagt S. »Die Männer sehen sich zu schrecklichen Kalkulationen gezwungen: Was passiert beispielsweise mit ihren Familien, wenn sie getötet werden oder so verwundet, dass sie nicht mehr arbeiten können, und der Staat sich nicht um ihre Angehörigen kümmert? Natürlich haben sie Angst vor einer russischen Besatzung, aber solange sie noch am Leben sind, können sie zumindest mit ihren Angehörigen fliehen.«

Der Sold für ukrainische Soldaten ist niedriger als noch zu Beginn der Invasion. Hinzu kommt eine kurze Ausbildung, Mangel an Waffen und Material, Ungewissheit über den Kriegsverlauf, potentiell endloser Militärdienst: All das trägt dazu bei, dass die Bereitschaft, zur Armee zu gehen, sinkt. Bei einer Umfrage Anfang April sagten nur 20 Prozent der befragten potentiell Wehrpflichtigen, dass sie darüber nachdächten, zur Armee zu gehen, 63 Prozent beantworteten die Frage negativ. Mehr als die Hälfte aller Befragten sagten, sie seien unzufrieden damit, wie die Mobilmachung derzeit ablaufe.

Lieber das Land verlassen

»Die ukrainische Armee ist, was die Behandlung der Soldaten angeht, nicht so verschieden von der russischen: Es gibt ebenso Probleme mit Machtmissbrauch, Korruption und Kommandeure, die für Vergehen gegen Soldaten nicht zur Rechenschaft gezogen werden«, sagt S. Es fange schon bei der Mobilmachung an: »In zahlreichen Fällen wurden gesundheitlich untaugliche Personen dennoch zur Ausbildung oder sogar in Einheiten geschickt, weil die Quote erfüllt werden muss.«

Zahlreiche ukrainische Männer entscheiden sich stattdessen dafür, das Land zu verlassen, auch illegal. Wer kann, bezahlt für mehrere Tausend Euro Dienstleister, die Grenzbeamte bestechen und die Überfahrt organisieren, andere versuchen, die Grenze zu Fuß zu überqueren, oder durchschwimmen den Grenzfluss Theiß an der Grenze zu Rumänien (dort heißt er Tisa), wobei immer wieder junge Männer ertrinken.

Eurostat zufolge leben 4,3 Millionen ukrainische Staatsbürger in der EU, davon 860.000 erwachsene Männer. Knapp 1,2 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen leben in Deutschland.

Bereits im Dezember hatte der ukrainische Verteidigungsminister angekündigt, die Regierung werde versuchen, wehrpflichtige Männer zur Rückkehr zu bewegen. Auch sie müssen sich gemäß dem neuen Mobilisierungsgesetz zum Militärdienst registrieren lassen. Andernfalls sollen ihnen beispielsweise auf einem ukrainischen Konsulat Dienstleistungen wie die Ausstellung eines Passes verweigert werden.

Drohender Militärdienst kein Asylgrund

Auch in der EU wurden Forderungen laut, die ukrainische Regierung dabei zu unterstützen, ukrainische Männer zum Militärdienst zu zwingen. Regierungsvertreter von Polen und Litauen erklärten ihre Bereitschaft, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. In Deutschland schlug der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter vor, das Bürgergeld für potentiell wehrpflichtige ukrainische Männer zu streichen.

In der Tat ist ein drohender Militärdienst kein Asylgrund. Das stellte beispielsweise das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern im vergangenen November fest, als es urteilte, dass ein 2018 nach Deutschland eingereister ukrainischer Mann kein Recht auf Asyl oder subsidiären Schutz in Deutschland habe. Ihm drohe in der Ukraine zwar entweder Militärdienst oder Gefängnis, aber beides sei kein Grund, ihm ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu gewähren. Auch seien Teile des Landes sicher genug, um ihn abzuschieben.

Allerdings fußt das Aufenthaltsrecht ukrainischer Bürger in der EU auf der EU-Sonderregelung für einen »massenhaften Zustrom« von Flüchtlingen und wurde gerade erst bis März 2026 verlängert. Eine rechtliche Möglichkeit, diese Regelung für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie erwachsene Männer auszusetzen, gibt es nicht.

»Es passt nicht zusammen, davon zu reden, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen, und im gleichen Atemzug fahnenflüchtige Ukrainer zu alimentieren.« Michael Stübgen (CDU)

Die CDU fordert deshalb, ukrainischen Flüchtlingen nicht mehr wie bislang Bürgergeld zu zahlen, sondern nur noch wie anderen Flüchtlingen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Begründet wird auch das damit, Männer zum Militärdienst zu zwingen. »Es passt nicht zusammen, davon zu reden, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen, und im gleichen Atemzug fahnenflüchtige Ukrainer zu alimentieren«, sagte kürzlich der Innenminister von Brandenburg, Michael Stübgen (CDU), den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND).

Das Bürgergeld sei außerdem »zum Bremsschuh für die Arbeitsaufnahme geworden«, fuhr Stübgen fort, es müsse mehr Druck auf Ukrainer ausgeübt werden, Arbeit zu suchen. FDP und CSU schlossen sich der Forderung an. »Die Bürgergeld-Zahlungen an die Kriegsflüchtlinge setzen völlig falsche Anreize. Während es für Kiew angesichts des brutalen russischen Angriffs um alles geht, ducken sich hierzulande viele wehrfähige Ukrainer weg. Das Land braucht nicht nur Waffen, sondern auch Soldaten«, sagte der Bundestagsabgeordnete Thorsten Frei (CSU).

Nicht nur Soldaten, auch Arbeitskräfte gebraucht

Doch der ukrainische Staat braucht seine Bürger nicht nur als Soldaten, sondern auch dringend als Arbeitskräfte. Das sagte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der Wiederaufbaukonferenz in Berlin vergangene Woche, doch sei klar, »dass wir niemanden zwingen können«. Nach dem Ende des Kriegs »wird es Sicherheit geben, es wird Arbeitsplätze geben, und ich denke, das wird eine große Motivation sein, um zurückzukehren«.

Die Lage derzeit sieht anders aus. Statt mit einer Rückkehr ist angesichts der systematischen russischen Luftangriffe auf die Energieinfrastruktur vor dem Winter eher mit einer erneuten Flüchtlingsbewegung in die EU zu rechnen. Diese dramatische ökonomische und demographische Krise ist auch ein Grund dafür, warum die ukrainische Regierung ein Einfrieren des Kriegs ablehnt. Ein temporärer Waffenstillstand würde nicht nur Millionen Ukrainer unter russischer Besatzung lassen, schrieb der Berater des ukrainischen Präsidenten, Mychajlo Podoljak, auf X, sondern auch »Flüchtlingen keine Motivation geben, aus dem Ausland zurückzukehren, und keine Investoren anziehen«.

Patriotische Appelle reichten nicht aus, Ukrainer zur Rückkehr zu bewegen, meint S. »Wo sollen die arbeiten? Wie soll eine Mutter mit Kindern überleben?« Er wünscht sich, dass ein realistisches Bild der ukrainischen Gesellschaft vorherrschen möge. »Die Ukraine ist keine mythische Kriegergesellschaft, kein Sparta oder was Leute gerne anderes auf sie projizieren. Es ist eine normale Gesellschaft. Eine zur Peripherie gehörende kapitalistische Gesellschaft, und dementsprechend dysfunktional und mit all den Problemen, die das mit sich bringt.«

* Name von der Redaktion geändert