Weiter vom Westen geförderte NGOs

Machtkampf auf dem Boulevard

Nach tagelangen Protesten hat die Regierung in Georgien ein »Gesetz über die Transparenz ausländischer Einflussnahme« zurückgezogen.

Der Rustaweli-Boulevard in Tiflis ist die zentrale Prachtstraße der georgischen Hauptstadt. Er wird gesäumt von Hotels, Theatern, Museen und Geschäften, dort liegt auch der Sitz des georgischen Parlaments. Davor kam es ab dem 6. März zu drei Tage währenden Demonstrationen, an denen mehr als 10 000 Menschen teilnahmen. Am 7. März versuchten Demonstrant:innen, das Parlament zu stürmen, und warfen Molotow-Cocktails auf Polizeikräfte. Diese setzten Tränengas und Wasserwerfer gegen die Menge ein.

Der Anlass dieser Eskalation war der Entwurf eines »Gesetzes über die Transparenz ausländischer Einflussnahme«. Diesen hatte mit den Stimmen der Regierungspartei Georgischer Traum (Kartuli Ozneba, KO) zunächst der Rechtsausschuss am 6. März und am folgenden Tag in der ersten Lesung das Parlament selbst angenommen. Vorgelegt hatten diesen die Abgeordneten der Fraktion Volksmacht, die sich im August 2022 von der KO-Fraktion abgespalten hat.

Eines der politischen Kern­themen von Volksmacht ist die Kritik am US-amerikanischen Einfluss in Georgien, der sich unter anderem in der finanziellen Unterstützung diverser NGOs manifestiert. Diese Kritik zielt vor allem auf die Vereinigte Nationale Bewegung (Ertiani Nazionaluri Modsraoba, ENM), die Partei des ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili, der enge Kontakte in die USA pflegte. Saakaschwili sitzt derzeit eine Haftstrafe unter anderem wegen Machtmissbrauch ab, er protestierte mit einem Hungerstreik gegen die Haftbedingungen.

Die innenpolitische Situation des Landes ist seit der Unabhängigkeit 1991 von scharfen, immer wieder auch gewaltsam ausgetragenen Konflikten gekennzeichnet.

Der Gesetzentwurf der Volksmacht-Fraktion sah vor, dass NGOs und Me­dien­unternehmen, die mehr als 20 Prozent ihres jährlichen Einkommens von einer »ausländischen Macht« beziehen, sich beim Justizministerium als »ausländische Einflussagenten« zu registrieren hätten. Kritiker:innen des Entwurfs verglichen das Gesetzesvorhaben mit dem Vorgehen der russischen Regierung gegen sogenannte ausländische Agenten, das de facto der Repression gegen Menschenrechtsorganisationen und unabhängige Medien dient. Nachdem am 8. März erneut mehr als 10 000 Menschen vor dem Parlamentsgebäude demonstriert hatten, zog die KO-Fraktion am 9. März ihre Unterstützung für das Gesetzgebungsverfahren zurück.

Auch die Ansage der EU spielte eine Rolle
Nach offiziellen Angaben sollte das Gesetz die Destabilisierung Georgiens durch ausländische Kräfte verhindern, doch dürfte es eher als Instrument gegen die ENM und regierungskritische NGOs gedacht gewesen sein. Bei der Rücknahme des Vorhabens spielte auch die Ansage der EU eine Rolle, ein solches Gesetz sei unvereinbar mit dem von Georgien angestrebten Beitritt – damit standen auch Hilfszahlungen zur Disposition, auf die die Regierung nicht verzichten wollte.

In Westeuropa und den USA werden diese Ereignisse zumeist gemäß den Mustern interpretiert, die sich beim Blick auf den postsowjetischen Raum ­in den vergangenen 20 Jahren entwickelt haben. Liberale Politiker:innen und Medien meinen, den Kampf einer proeuropäischen, demokratischen Bewegung gegen eine autoritäre, prorussische Regierung zu erkennen. Rechts­populis­t:innen bestätigen sich in den sozialen Medien gegenseitig, dass es sich um den nächsten Versuch einer von den USA gelenkten Farbenrevolution handele. Doch diese Deutungen werden der Lage in Georgien höchstens ansatzweise gerecht.

Die innenpolitische Situation des Landes ist seit der Unabhängigkeit 1991 von scharfen, immer wieder auch gewaltsam ausgetragenen Konflikten gekennzeichnet. Der Rustaweli-Boulevard und die anliegenden Plätze haben sich in den vergangenen 30 Jahren als deren wichtigster Austragungsort etabliert.

Erbitterte Feindschaft
Hier tobten die bewaffneten Auseinandersetzung des Bürgerkriegs 1991/1992 zwischen verschiedenen Fraktionen der georgischen Unabhängigkeitsbewegung, hier gingen die Teilneh­m­er:innen der sogenannten Rosenrevolution 2004 auf die Straße und hier wurden drei Jahre später Proteste gegen die aus der Rosenrevolution hervorgegangene Regierung gewaltsam niedergeschlagen.

Die derzeitigen Proteste gehören in diese Reihe. Politisch stehen sich nun der KO und die ENM in erbitterter Feindschaft gegenüber. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, die Nation zu verraten und im Dienst fremder Mächte zu stehen. Der KO ist ein Projekt des in den frühen neunziger Jahren in Russland zu Reichtum gekommenen Milliardärs Bidsina Iwanischwili. Er gründete die Partei 2012, um gegen die seit der Rosenrevolution regierende ENM Saakaschwilis anzutreten.

Getragen von verbreiteter Unzufriedenheit mit Saakaschwilis autoritärer Politik gelang es der KO im selben Jahr, im ersten friedlichen Machtübergang seit der Unabhängigkeit die ENM als Regierungspartei abzulösen. Der KO gewann auch die Parlamentswahlen 2016 und 2020 mit jeweils etwa 48 Prozent der ­Stimmen.

Georgien ist geprägt von scharfen Gegensätzen, zum Beispiel zwischen der Hauptstadt Tiflis und abgelegenen ländlichen Regionen, zwischen Arm und Reich oder zwischen Georgier:innen und Angehörigen ethnischer Minderheiten.

Der Konflikt zwischen beiden Parteien wird oft darauf zurückgeführt, dass Saakaschwili und die ENM für eine Hinwendung zum Westen stünden, während Iwanischwili eine prorussische Politik verfolge. Wahr daran ist, dass der KO nicht die radikale Rhetorik Saakaschwilis gegenüber Russland pflegt und sich ab 2012 um die Normalisierung ökonomischer und politischer Beziehungen mit Russland bemühte. Gleichzeitig strebt der KO aber auch einen EU-Beitritt Georgiens an. Mit Kritik am russischen Einmarsch in die Ukraine hält sich die derzeitige Regierung Georgiens zurück.

Georgien erlebte nach 1991 einen schweren Absturz
Neben Geschäftsinteressen Iwanischwilis gibt es dafür weitere Gründe. Russland ist traditionell der wichtigste Markt für georgische Agrarprodukte. Mehrere Hunderttausend Ge­orgier:in­nen leben als Arbeitsmi­grant­:in­nen in Russland, ihre Rück­überweisungen sind unverzichtbar für das Land. Geor­gien, das von der Modernisierungspolitik der Sowjetunion ökonomisch erheblich profitiert hatte und seit den sechziger Jahren eine der reichsten Sowjetrepubliken war, erlebte nach 1991 einen schweren wirtschaftlichen Absturz. Die seither entwickelten Beziehungen zum Westen konnten diese Verluste nur ansatzweise kompensieren.

Die harten politischen Konflikte im Land sind eine Folge dieser Situation. Georgien ist geprägt von scharfen Gegensätzen, zum Beispiel zwischen der Hauptstadt Tiflis und abgelegenen ländlichen Regionen, zwischen Arm und Reich oder zwischen Georgier:innen und Angehörigen ethnischer Minderheiten. Nach dem ökonomischen und ideologischen Zusammenbruch des sowjetischen Entwicklungsmodells orientierte sich ein Teil der Bevölkerung stark nach Westen, während gleichzei­tig vermeintlich traditionelle Werte und die orthodoxe Kirche eine Renaissance erlebten.

Auch wenn Georgien formal eine Demokratie ist, ist es bis heute nicht gelungen, effektive Vermittlungsinstanzen zu etablieren, die es ermöglichen würden, Interessengegensätze in einem parlamentarisch-rechtsstaatlichen Rahmen auszutragen. Konflikte eskalieren daher schnell zu Machtproben zwischen den sich im Laufe der Zeit immer wieder neu zusammensetzenden politischen Blöcken und werden dann auf der Straße ausgetragen – vor allem auf dem Rustaweli-Boulevard.