Antisemitische Traditionslinien in Bayern

»Nichts ist widerlicher«

Bei der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik spielte auch Antisemitismus eine Rolle. Er wurde konstitutiv für die bayerische Reaktion, was auch erklärt, warum Hubert Aiwangers Flugblattaffäre kein Einzelfall ist.

Der Skandal um das antisemitische Hetzblatt aus dem Hause Aiwanger hat kurz vor der Wahl medial hohe Wellen geschlagen. In das »Vergnügungsviertel Auschwitz« sollten die »Volksverräter« geschickt werden, stand in der im Schuljahr 1987/88 verteilten Flugschrift. Erinnern will sich Hubert Aiwanger daran kaum, auch nicht an Hitlergrüße und Judenwitze während seiner Schulzeit, von denen ehemalige Mitschüler berichteten.

Negative Konsequenzen hat die Angelegenheit für den stellvertretenden ­Ministerpräsidenten von Bayern nicht. Im Gegenteil, Aiwangers Partei Freie Wähler (FW) ist in den Umfragen sogar über vier Prozentpunkte stärker als ­zuvor. Auf der Suche nach Erklärungen zeigt sich: Antisemitismus hat in Bayern eine lange Tradition.

Ein glühender Antisemit war der in Bayreuth tätige Komponist Richard Wagner. Ihn und König Ludwig II. von Bayern verband eine kuriose Beziehung, die allerdings auf Wagners Werken und nicht seinen Ansichten be­ruhte. Als der Komponist verlangte, den jüdischen Dirigenten des Hoforchesters nicht die Uraufführung des »Parsifal« leiten zu lassen, erteilte Ludwig II. ihm eine Abfuhr und schickte schneidend hinterher: »Nichts ist widerlicher, unerquicklicher als solche Streitig­keiten: Die Menschen sind ja im Grunde genommen alle Brüder, trotz konfes­sioneller Unterschiede!« Über antisemitische Pressemeldungen empörte er sich: »Weiß man denn nicht, dass ich der einzige Fürst bin, der seiner Regierung sogleich beim Beginn der antisemitischen Bewegung die strengsten Maßregeln gegen dieselben befohlen?«

Die Maßregeln fruchteten nicht. Die wahnhafte Konstruktion »des Jüdischen« – unter Rückgriff auf althergebrachte Verschwörungsmythen vom Ausbeuter, Ritualmörder oder Agenten fremder Mächte – diente auch in Bayern zur Welterklärung und als politisches Feindbild der gemeinsten rechten Reaktion.

Nachdem 1918 Revolutionär:innen, unter ihnen der Rätekommunist Kurt Eisner, die Monarchie absetzten und den Freistaat Bayern ausriefen, wies die Reaktion auf den jüdischen Hintergrund Eisners und anderer Persönlichkeiten seiner Regierung hin, um die Bayerische Revolution als Ergebnis einer »jüdischen Weltverschwörung« darzustellen. In Drohbriefen wurde niederträchtigste judenfeindliche Hetze über dem Ministerpräsidenten Eisner ausgekübelt. Der Rechtsextreme, der Eisner am 21. Februar 1919 erschoss, gab als sein ­Tatmotiv an: »Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher.«

Mit der Niederschlagung der Räterepublik setzte sich die Hetze der rechtsextremen Sieger durch und machte aus der entstehenden »Ordnungszelle Bayern« einen ideologischen Sumpf, in dem sich antidemokratische Kräfte aus ganz Deutschland sammelten. Bald gewannen dort Adolf Hitler und der Nationalsozialismus immer mehr Macht und Einfluss. Genügend Bayern fanden die Erzählung von der jüdischen Weltverschwörung überzeugend genug, um bereitwillig in den Weltkrieg zu ziehen und die Judenverfolgung und -deportation zu rechtfertigen.

Das jüdische Leben in Bayern wurde im Nationalsozialismus fast vollständig ausgelöscht. Von den 35.000 Jüdinnen und Juden waren 1945 nur wenige Hundert übrig. Viele der Täter überstanden den Krieg mitsamt ihrer antisemitischen Gedankenwelt unbeirrt. Als ­jüdische Geflüchtete 1951 in Landsberg gegen eine antisemitische Kundgebung protestierten, an der ein Drittel der Stadtbevölkerung teilnahm, schrie man ihnen entgegen: »Juden raus!«

Als jüdische Geflüchtete 1951 in Landsberg gegen eine antisemitische Kundgebung protestierten, an der ein Drittel der Stadtbevölkerung teilnahm, schrie man ihnen entgegen: »Juden raus!«

Die patriotische Heimatpolitik im Nachkriegsbayern diente nicht zuletzt der Schuldabwehr jener Konservativen, die zuvor die Nazi-Herrschaft herbeigejubelt hatten. Unter der Ägide von Josef »Ochsensepp« Müller entstand die CSU als »breit angelegte Sammlungsbewegung«, ein »Volksbund zur Sammlung aller rechtsstehenden Kreise«, wie die CSU Rosenheim zur konstituierenden Versammlung 1945 verkündete. Sie vermochte die völkisch geprägte Mehrheit in Bayern hinter sich zu versammeln sowie und die extreme Rechte zu integrieren. Auch der langjährige Parteivorsitzende und Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der bis heute in der CSU quasi religiös verehrt wird, warnte vor einer »Zinsknechtschaft«, zeigte Verständnis für NPD-Wähler und sprach sich immer wieder für ein Ende des Gedenkens an NS-Opfer aus.

Mit dieser antisemitischen Tradition wurde in den konservativen Parteien nie gebrochen, man übertünchte sie höchstens notdürftig. Wo immer es der CSU Vorteile brachte, die Distanz zu Antisemiten aufzugeben, tat sie das schwungvoll: 2015 reisten Vertreter der bayerischen Landesregierung, die damals allein von der CSU gestellt wurde, gemeinsam mit rund 100 Wirt­schafts­vertreter:innen in den Iran – unmittelbar nach Ende der Sanktionen gegen das dortige Regime –, um sich lukrative Aufträge und ökonomische Koopera­tion zu sichern.

Die CSU ist eng mit dem bayerischen Ableger des Vereins Werteunion verbandelt, der selbst unter konservativen Parteigängern umstritten ist. Vergangenes Jahr veranstaltete die Werteunion Bayern eine Podiumsdiskussion mit Ulrich Vosgerau, einem Autor der rechtsextremen Zeitung Junge Freiheit, und Michael Meyen von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der vermutet, dass Faktenchecker im Interesse von George Soros arbeiteten, und der für die Verschwörungsplattform Rubikon schreibt. In der CSU werden solche Verbindungen verharmlost. So jammerte Hans-Peter Friedrich, von 2011 bis 2013 Bundesinnenminister, 2019 auf Twitter: »Immer dasselbe: Wer nicht links ist, ist kein Demokrat, wer Soros kritisiert, ist Antisemit, wer ­Europas Grenzen schützt, ist inhuman. Haben Sie weitere Schablonen auf ­Lager?«

Martin Böhm, Co-Spitzenkandidat der bayerischen AfD für die kommende Landtagswahl, warnte mit Blick auf den Ukraine-Krieg vor einer »kriegssüchtigen Elite abgehobener Globalisten«. Der Vorsitzende des AfD-Kreisverbands von Fürstenfeldbruck, Florian Jäger, verglich den Umgang mit Ungeimpften mit der Situation von Juden während der Novemberpogrome 1938. Gemeinderat Sepp Schuster leugnete gleich das Ausmaß der Judenvernichtung. Den Wahlkampf bestreitet die AfD in Bayern mancherorts mit dem Slogan »Wenn das der Wähler wüßte!« auf den Wahlplakaten – wohl eine Anspielung auf die Redewendung »Wenn das der Führer wüsste!« aus der Zeit des Na­tionalsozialismus.

Wenn Aiwanger also seinen Antisemitismusskandal als lässliche Jugendsünde verharmlost und sich in Täter-Opfer-Umkehr zum Opfer einer medialen Kampagne stilisiert, dann bewegt er sich damit in Bayern auf politisch ausgetretenen Pfaden und gesellschaftlich sicherem Boden. Judenhass wird heutzutage selten offen hinausposaunt, aber antisemitische Ideologeme erfüllen ihre Funktion auch in Andeutungen, denn die dahinterstehenden Vorstellungen – aufgefrischt zu modernen Verschwörungstheorien – sind dem Publikum wohlbekannt. Den Verbreitern gereicht ihr Geraune im rechtsbürger­lichen Milieu zur Ehre, da man damit dem herbeiphantasierten »Meinungsdiktat der Linken« trotze.

Wollten die FW beweisen, dass ihnen der Kampf gegen Antisemitismus in den eigenen Reihen nicht völlig egal ist, sie hätten die Gelegenheit dazu: Der FW-Kreisrat in Mühldorf am Inn und dortige Landtagskandidat, Markus Saller, raunte öffentlich von »Rothschild« und teilte verschwörungsideologische Inhalte zum »Great Reset« und »WEF-Marionetten«. Inzwischen hat Saller sich entschuldigt und seinen X-Account gelöscht. Er sei mit den Reaktionen überfordert gewesen, ­sagte er dem Spiegel. Kritik seitens seiner Partei blieb aus.