Zur Debatte über den 8. Mai 1945

Die nächste Runde der ewigen Wiedergutwerdung

Alice Weidel (AfD) nannte den 8. Mai 1945 eine »Niederlage« und erntete empörte Kritik. Ihre Kritiker sprechen lieber von einer »Befreiung« – doch damit deuten sie deutsche Täter, Mitläufer und Zuschauer zu Opfern um.

Deutschland kann sich mal wieder nicht erinnern. Einmal mehr wird hierzulande debattiert, ob der 8. Mai 1945 nun ein Tag der Niederlage oder der Befreiung war. Auslöser war das ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel, der Co-Vorsitzenden der AfD, vom 10. August. In diesem wurde sie gefragt, ­warum sie nicht – wir ihr Co-Vorsitzender Tino Chrupalla es getan hatte – im Mai zum Tag des Sieges an einem Empfang in der russischen Botschaft teilgenommen habe. Weidel antwor­tete, es komme für sie nicht in Frage, die »Niederlage des ­eigenen Landes« zu »befeiern«.

Prompt rauschten die Reaktionen durch den digitalen Blätterwald. Kon­stantin von Notz, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, schrieb auf der Plattform X (vormals Twitter): »Der Versuch der AfD-Vorsitzenden, die Befreiung Deutschlands von der NS-Diktatur durch die Alliierten als Niederlage umzudeuten, ist ein weiterer Schritt der AfD, sich völlig offen gegen die Werte unserer Freiheitlich Demokratischen Grundordnung zu stellen.« Susanne Ferschl, eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, nannte es ebenfalls auf X eine »Geschichtsklitterung«, zu behaupten, »die Befreiung Deutschlands von den Nazis sei eine Niederlage gewesen«. Also doch ein Sieg?

Die Öffentlichkeit arbeitet sich seitdem an den Begriffen »Niederlage« und »Befreiung« ab. Dabei sollte das Wort »befeiern« im Mittelpunkt stehen. Natürlich sollte man die Niederlage Deutschlands am 8. Mai feiern, laut und ausdauernd – und nicht undifferenziert von »Befreiung« schwafeln. Befreit wurden die wenigen Überlebenden der Vernichtungs- und Konzentrationslager, die Inhaftierten, Untergetauchten und Geflüchteten. Dazu äußerten ­Weidels Kritiker kaum ein Wort.

Natürlich sollte man die Niederlage Deutschlands am 8. Mai feiern, laut und ausdauernd – und nicht undifferenziert von »Befreiung« schwafeln.

Dass die klügeren Beiträge von Konservativen kamen, sollte Linken und Linksliberalen zu denken geben. Der notorische Krawallkolumnist Jan Fleischhauer zum Beispiel traf ins Schwarze – oder eher: ins Grüne –, als er als Replik auf von Notz bei X postete: »Wer vom 8. Mai als Tag der Befreiung spricht, macht sich die Lebenslüge vieler Deutscher zu eigen, sie hätten Hitler nie gewollt. Natürlich war der Sieg der Alliierten eine Niederlage.« Von Notz und Co. werfen ihren Kritikern Geschichtsklitterung vor und betreiben sie selbst, indem sie zig Millionen Täter, Mitläufer und Zuschauer zu Opfern machen. Sie stellen damit den Deutschen, die bis 1945 mitgemacht haben, einen Persilschein aus, ganz so, als seien sie die verführten Opfer einer bösen Verschwörung gewesen.

Das hat Tradition in Deutschland. Mit Blick auf den 8. Mai 1945 schrieb der Autor Eike Geisel in seinem Aufsatz »Jenseits des Vorurteils«: »Gut zwei Jahrzehnte später waren sich die Bürger der Bundesrepublik dann untereinander als Deutsche so nahegekommen, dass das Projekt der umfassenden ­Ehrenrettung der eigenen Vergangenheit in Angriff genommen werden konnte, ein Unternehmen, welches schließlich mit der in Bitburg und Belsen offiziell beglaubigten Lüge von der Austauschbarkeit der Opfer mit den Tätern ­seinen logischen Abschluss fand.«

Am 5. Mai 1985 hatten US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl Kränze in der Gedenkstätte des KZ Bergen-Belsen und an der Kriegsgräberstätte Bitburg niedergelegt, wo Soldaten der Wehrmacht und SS beerdigt worden waren. Geisel sprach in dem Zusammenhang von der »Wiedergutwerdung der Deutschen«. Von Notz und Co. stehen exemplarisch für diese Haltung, der es nur noch reflex­artig darum geht, alles zu verdammen, was einen vermeintlichen antifaschis­tischen Konsens der Zivilgesellschaft in Frage stellen könnte. Von einer kritischen Theorie der Gesellschaft keine Spur. Sie sprechen im Namen Deutschlands – eines »anderen« und »besseren« Deutschlands.

Weidels jüngste Aussage ist dagegen Teil einer rechtsextremen Strategie der »Normalisierung« der deutschen Geschichte, an deren Ende eine andere Gesellschaft stehen soll. Sie und ihre Kameraden haben die Niederlage von 1945 nie verwunden und weinen heute noch Krokodilstränen ob der Toten von Stalingrad und Dresden. Jahrzehntelang war die Volkstrauer ein Fall für die rechte Schmuddelecke. Inzwischen sorgen AfD-Politiker wie Weidel, Alexander Gauland (»Vogelschiss«), Björn Höcke oder kürzlich Maximilian Krah (»Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher«) dafür, dass im rechten Mainstream wieder offen über eine »er­innerungspoli­tische Wende« (Höcke) gesprochen wird, die zumindest die Niederlage von 1945 erträglicher machen würde.

Während die extreme Rechte sich mit den Nazis versöhnen will, leugnet der Rest der Gesellschaft lieber, irgendetwas mit ihnen zu tun zu haben. Hitler war es alleine, 1945 sind die Deutschen von ihm befreit worden und damit kann die Sache auch zu den ­Akten gelegt werden – so lautet seit Jahrzehnten das Mantra der deutschen Wiedergutwerdung. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sagte 1961: »Im deutschen Volkskörper, im moralischen Leben des deutschen Volkes, gibt es heute keinen Na­tional­sozialis­mus mehr, kein nationalsozialistisches Empfinden. Wir sind ein Rechtsstaat geworden.« Dass er den Nazi-­Be­griff »Volkskörper« benutzte – geschenkt.

Noch heute gilt Adornos Bonmot: »Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.«

Mit Hans Globke hatte Adenauer einen ehemaligen hohen Nazi-­Funktionär zum Kanzleramtschef gemacht, und es verging kein Tag, an dem nicht über anti­semitische Straftaten berichtet wurde. Das alles wurde ausgeblendet, denn Täter und Mitläufer waren nach 1945 über Nacht zu lupenreinen Demokraten mutiert. Die Joint Chiefs of Staff der US-Armee ahnten das wohl schon, als sie im April 1945 in der Direktive JCS 1 067 ausdrücklich festhielten: »Deutsch­land wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.«

Die Befreiung, von der der damalige Bundespräsident Richard von Weiz­säcker am 40. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands – zum Ärger des Stahlhelm-Flügels der Union und anderer Revisionisten – sprach, war vor ­allem eine Befreiung vom schlechten Gewissen, das alle jene umtrieb, die noch mindestens bis Stalingrad an den Endsieg Deutschlands geglaubt ­hatten.

Auch deshalb hat die Mär von der Befreiung Deutschlands die Jahrzehnte überlebt, wie Joachim Bruhn in seinem 1992 erschienen Aufsatz »Mord und Totschlag. Konsequenzen der Deutschen Einheit« konstatiert: »Das kapitalistische Deutschland bewältigt den Nationalsozialismus, indem es seiner Lebenslüge, die Demokratie ­hätte mit dem Führer nicht das Geringste gemein, bis zur Selbsthypnose ­verfiel.« Deshalb gilt auch heute noch Adornos Bonmot: »Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.« Vielleicht müsste man ergänzen: und sie Generation für Generation zu ­wiederholen.