Das diesjährige Gedenken an NS-Opfer läuft Gefahr, den Nationalsozialismus zu instrumentalisieren

Vergangenheitsüberwältigung

Das Gedenken an queere Opfer des Nationalsozialismus wendet den Begriff auf eine historische Zeit an, in der es das Konzept von Queerness noch nicht gab. Diskriminierung und Verfolgung sexueller Minderheiten und abweichender Lebensentwürfe sind allerdings nicht allein spezifisch für den deutschen Nationalsozialismus, sondern älter als dieser und treten auch in anderen Ländern auf. Das lässt sich aufarbeiten und kritisieren, ohne in Opferkonkurrenz treten zu müssen.
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Die Spannung zwischen konkreter Erscheinung und abstraktem Begriff wird größer, je näher man den Gegenstand betrachtet. Äpfel sind keine Birnen und doch ist beides Obst. Kein Exemplar gleicht zudem dem anderen vollends und noch dazu ist manche Frucht faul. So ähnlich verhält es sich mit den Diskussionen über das Verhältnis von (Kolonial-)Rassismus und Antisemitismus beziehungsweise über den Vergleich von Holocaust und anderen Genoziden, die derzeit sowohl die Geisteswissenschaften als auch die deutsche Öffentlichkeit beschäftigen.

Mit der Präsentation von Biographien »queerer« NS-Opfer, also als »asozial« oder homosexuell Verfolgter, bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung am 27. Januar hat der Bundestag nicht mehr neue, aber wichtige Erkenntnisse der NS-Forschung aufgegriffen: Menschen konnten zur Zielscheibe verschiedener Ressentiments und sich potentiell überschneidender Verfolgungspraktiken werden. So erinnerte der Bundestag an eine als »asozial« verfolgte jüdische Frau, der Homosexualität unterstellt wurde und die in den Gaskammern der »Euthanasie« getötet wurde. Nach 1945 wurden diejenigen, die während des Nationalsozialismus als »Asoziale« oder Homosexuelle verfolgt worden waren, zunächst nicht offiziell als NS-Opfer anerkannt, Homosexualität stand auch weiterhin unter Strafe.

Es war Teil des Verbrechens, die Opfer in den Zwangslagern und Ghettos ums Überleben konkurrieren zu lassen.

Historische Aufklärung über die und auch Kritik an der fortgesetzten Stigmatisierung von Homosexualität in BRD und der DDR sind zweifellos wünschenswert. Allerdings raunt es neuerdings verstärkt, dass eine »Opferkonkurrenz« im deutschen Bewusstsein über den Nationalsozialismus bestünde. Mit der Behauptung, andere NS-Opfer seien im Vergleich zu Juden im deutschen Gedenken ins Abseits gedrängt worden, wird der über 1945 hinausgehende Antisemitismus relativiert, auch kann so die Spezifik der Shoah verneint werden. Nikolas Lelle wies an dieser Stelle daher zu Recht auf den eliminatorischen Erlösungsantisemitismus als zentrales Moment der NS-Ideologie hin, der im nationalsozialistischen Weltbild sowohl Verschränkungen mit dem als auch Unterschiede zum (sozial-)rassistischen, antihomosexuellen und antiziganistischen Ressentiment aufwies.

Unter dem Modebegriff der multidirektionalen Erinnerung werden Juden derzeit als idealtypische Opfergruppe, sozusagen als Goldstandard des Opfers fehlinterpretiert. An diesem, so das unausgesprochene Verständnis, lasse sich die Ausgrenzung und nach dem Krieg fortgesetzte Stigmatisierung anderer Opfergruppen messen. Dies legt nicht nur nahe, der Holocaust sei aufgearbeitet, sondern widerspricht der historischen kollektiven Verdrängung deutscher Schuld und jüdischer Schicksale in den postnazistischen Gesellschaften.

Zunächst wäre ohnehin die Feststellung vorauszuschicken, dass trotz aller Unterschiede zwischen generellem Massenmord an Juden und anderen Zwecken dienender Verfolgung von »Asozialen« individuelles Leid nicht klassifizierbar ist. Mit der »Aktion Arbeitsscheu Reich« bezeichneten die Nazis die Deportation von als »asozial« Verfolgten in Konzentrationslager im Jahr 1938, der auch viele Roma zum Opfer fielen. Diese war für die Häftlinge unter Umständen nicht »weniger schlimm« als Lagerhaft für jüdische Deportierte, nur weil die verfolgungsleitenden Ressentiments nicht den gleichen Welterklärungscharakter wie der Antisemitismus hatten. Eine tatsächliche »Opferkonkurrenz« gab es nicht zwischen den von den Nazis definierten Zwangskollektiven, sondern zwischen den verfolgten Individuen selbst – während und nach dem Nationalsozialismus.

Es war Teil des Verbrechens, die Opfer miteinander ums Überleben konkurrieren zu lassen. Primo Levi nannte die forcierte Entsolidarisierung »Grauzone«. Die Tatsache, dass die Deutschen ihre jüdischen Opfer als Ghetto-Polizisten, Judenräte oder anderweitig zu »Agenten der eigenen Vernichtung« (Dan Diner) gemacht hatten, führte nach dem Krieg zur Spaltung. Im moralisch aufgeladenen Klima des Kalten Kriegs gab es nur noch die Guten – also den Widerstand – und die Bösen. Überlebende und auch Strafverfolgungsbehörden in Israel, Deutschland und Europa zählten hierzu nicht nur die Deutschen, sondern auch vermeintliche jüdische Kollaborateure.

Von den 6 700 als Jüdinnen und Juden Verfolgten, die in Berlin die Shoah überlebten, richteten die Sowjets meinen Recherchen nach Dutzende als Nazi-Verbrecher hin oder hielten sie in Lagerhaft. Deutsche Gerichte in West und Ost verklagten jüdische »Kollaborateure« zu Haftstrafen oder verweigerten die Entschädigung. Sie waren mit einem Stigma versehen. Sie und deutsche NS-Verbrecher wurden mit zweierlei Maß gemessen: Gerichte ließen die deutschen Täter – sofern sie überhaupt auf der Anklagebank saßen – mit der Begründung laufen, dass sie nichts gewusst hätten und man von ihnen nicht hätte verlangen können, durch Befehlsverweigerung ihr Leben zu riskieren. Shoah-Überlebende hingegen, die unter Folter oder nach der Erpressung, dass man andernfalls ihre Familie töten würde, andere verraten hatten, galten deutschen Behörden als schuldig. Dies traf nicht nur die mittlerweile in Musicals und Romanen als »jüdische Gestapo-Agentin« omnipräsent scheinende Stella Goldschlag, sondern eine Reihe jüdischer Wider­standskämpfer:innen in Berlin wie das Ehepaar Frieda und Rudolf S. Innerhalb der Gruppe der jüdischen Opfer gab es aufgrund des allseits präsenten Kollaborationsverdachtes zahlreiche Brüche und Ausschlüsse. Das Denken in geschlossenen (Opfer-)Kollektiven führt also in eine Sackgasse.

In der Gedenkstunde am 27. Januar wurde prominent auf die Kriminalisierung von queeren Menschen und Lebensentwürfen in der alten Bundesrepublik hingewiesen. Es ist richtig und wichtig, dies aufzuarbeiten. Die Frage ist nur, ob es im Rahmen der Holocaust-Erinnerung zielführend ist. Die Verfolgung sexueller Minderheiten mit drastischen Mitteln wie Haft und teilweise sogar chemischer Kastration gab es in diversen europäischen Ländern und auch schon vor den Nazis. Sie war also weder originär nationalsozialistisch noch nach dem Krieg auf Westdeutschland beschränkt. Wäre es daher nicht sinnvoll, sich für ein europaweites Gedenken an die Auswirkungen der Homophobie einzusetzen? Dies darf selbstverständlich die Erinnerung an die spezifisch nationalsozialistische Verfolgung nicht ersetzen.

Der 27. Januar ist in Deutschland allen NS-Opfern gewidmet. Sprachlich wurde dieses Jahr in manchen Berichten über die Gedenkstunde im Bundestag aus dem Gedenken an Holocaust-Opfer jenseits der heterosexuellen Norm die Verfolgung von »LGBTQI+« zum Teil des Holocaust. Die NS-Verfolgung von sexuellen Minderheiten verursachte zwar unermessliches Leid, war aber nicht auf Massenmord ausgerichtet und nur gegen schwule Männer systematisch. Natürlich gab es antisemitisch Verfolgte, die homosexuell waren und dafür zusätzliche Repressalien erlitten. Ermordet wurden sie jedoch als Juden. Die sich derzeit im Netz verbreitende Auffassung, alle »queeren« NS-Opfer, inklusive »Trans-Personen«, seien Opfer des Holocaust gewesen, verkennt den ideologischen Kern des Antisemitismus. Sie ist zudem aus historischer und quellenkritischer Sicht bedenklich: Der Begriff »queer« hat sich erst in jüngerer Zeit etabliert, die Bedeutung von »trans« ist umstritten, vor und während des NS gab es keines dieser Konzepte. Wer ist also historisch damit gemeint und welches Erkenntnisinteresse ist damit verbunden, diese neuen Begriffe auf die Vergangenheit anzuwenden?

Es ist wichtig, die individuellen Lebensgeschichten der Opfer der Zwangskategorisierung der NS-Täter zu entreißen sowie die Ablehnung sexueller Minderheiten nach dem Krieg zu reflektieren. Themen wie sexuelle Gewalt, Prostitution, Sexualität und Geschlech­terrollen waren lange tabuisiert. Die Analyse historischer Quellen mit modernen Konzepten kann erkenntnisreich sein. Biegt man die Quellen zurecht, damit sie in ein modernes Konzept passen, wird es gefährlich.

Zu Trans-Personen im NS gibt es bisher wenig Forschung. Im Berlin der Weimarer Zeit sprach man von Transvestiten. Sie konnten sich per »Transvestitenschein« behördlich registrieren lassen und beispielsweise den Namen ändern und die zum gelebten Geschlecht passende Kleidung tragen. An dieser Praxis änderte sich – soweit dies erforscht ist – in der NS-Zeit nicht grundsätzlich etwas. Zwar galten Transvestiten im Zuge radikalisierter Verfolgung als sittenwidrig und gerieten schnell unter Homosexualitätsverdacht. Konnten sie diesen entkräften, kam es nach den bisherigen, nicht ausreichenden Forschungen nicht in einem Fall zur Strafverfolgung. Das schließt nicht aus, dass in dieser Hinsicht »auffällige« Personen beispielsweise von der Verhaftungswelle »Aktion Arbeitsscheu Reich« erfasst wurden.

Es klafft eine Lücke zwischen Forschung und forsch auftretendem Gedenk­aktivismus. Letzterer läuft Gefahr, die Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke einzuspannen. Selbst wenn diese Zwecke ehrbar sein mögen, kann dies umschlagen. Moishe Postone attestierte der deutschen Linken der siebziger und achtziger Jahre, dass ihr »Lernen aus der Vergangenheit« eine »Flucht aus der Besonderheit jener Vergangenheit« sei, da sie eine Version der Geschichte forme, die eher dem politischen Wunschdenken als den tatsächlichen Geschehnissen entspräche.

 

Am diesjährigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus entbrannte ein Streit über den Stellenwert des Gedenkens an schwarze und queere Verfolgte. Die Kritik, dass deren Verfolgungsschicksale in der deutschen Öffentlichkeit zu wenig beachtet würden, lief teilweise auf eine Opferkonkurrenz mit den vernichteten Juden hinaus. Nikolas Lelle zeigte anhand des NS-Arbeitsbegriffs, wie sich die Motivation der Nazis zur Verfolgung bestimmter Gruppen unterschied.