29.06.2023
Alexander García Düttmann und Marcus Quent, Philosophen, im Gespräch über die Bedrohung der Menschheit durch den Klimawandel

»Das Ganze steht auf dem Spiel«

Wie die Atombombe bedroht der Klimawandel die Menschheit. Die Philosophen Alexander García Düttmann und Marcus Quent plädieren mit Maurice Blanchot dafür, die apokalyptische Rhetorik zu unterbrechen, und stellen die Frage nach dem Subjekt einer Veränderung. Ein Streitgespräch über Kommunismus, Baumkronenwissen und Tempolimit.

Mit dem Titel Ihres Buchs »Die Apokalypse enttäuscht« zitieren Sie den französischen Philosophen Maurice Blanchot; dieser betitelte einen Text aus dem Jahre 1964 mit diesem Ausspruch. Worum geht es in dem Aufsatz von Blanchot?

Alexander García Düttmann: Das ist ein Essay, der zunächst eine Kritik an Karl Jaspers’ Buch »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen« aus dem Jahr 1958 enthält. In der zweiten Hälfte nimmt Blanchot Gedanken von Jaspers auf und kehrt sie in eine ganz andere Richtung. Es geht um die Menschheit, die mit der Erfindung der Atombombe ihre eigene Selbstvernichtung betreiben kann. Blanchot interessiert sich dafür, was das bedeutet.

Das Sprechen über die Atombombe war zu Jaspers' Zeit sehr beliebt. Hannah Arendt, Günther Anders, Hans Blumenberg und Martin Heidegger haben darüber geschrieben, Dürrenmatt hat die Bombe literarisch verarbeitet, Brecht schon lange vor ihm. Was zeichnet Jaspers innerhalb dieser Debatte aus?

Marcus Quent: Jaspers behauptet, dass der Mensch seine gesamte Existenz verändern muss, um auf der Höhe der Gefahr fortbestehen zu können. Es geht ihm um eine spirituelle Transformation des Einzelnen im Angesicht der Gefahr der Selbstauslöschung der ganzen Menschheit durch einen Atomkrieg. Mit dieser Position war Jaspers einer der Ersten, die den Diskurs über die Atombombe prägten, der bis in die achtziger Jahre anhielt.

Peter Sloterdijk nannte die Bombe 1981 den »Buddha des Westens«.

Quent: Bei Jaspers ist entscheidend, dass er die Atombombe mit der Ost-West-Frontstellung zusammenbringt. Ihm geht es um eine Konfrontation mit dem totalitären Regime der So­wjetunion, gegen das er die Freiheit des Westens in Stellung bringt. Jas­per’s Konsequenz in Anbetracht der Atombombe lautet: Man darf sich vor ihr als Mittel nicht scheuen, um die für ihn gleichrangige Gefahr, die er im Kommunismus sieht, zu bannen. Jaspers war kein Pazifist.

Klimademo mit Schild »Muss nur noch kurz die Welt retten«

»Wie lange dauert es noch, bis sich die Letzte Generation politisiert?« Klimademo mit Schild »Muss nur noch kurz die Welt retten«

Bild:
Pixabay / cubicroot

Auf dem Münchner Ostermarsch 1961 hielt Erich Kästner eine Rede, in der er provokativ fragte, warum sich wohl der 88jährige Nobelpreisträger Bertrand Russell im Schneidersitz vors englische Verteidigungsministerium hocke. Die Antwort, die Kästner dann selbst gab, könnte heute so auch von Carla Hinrichs von der Letzten Generation stammen: »Wir bedienen uns der Demonstration als eines demokratischen Mittels, die Regierungen und Parlamente an ihre Pflicht zu erinnern.«

Düttmann: Und im Gegensatz dazu stellt Blanchot dann die Frage nach der revolutionären Veränderung der Gesellschaft. Er bezieht sich auf einen Kommunismus »im vollen Sinne«. Die Frage wird heute unterschlagen. Während es Blanchot noch um die Revolution geht, geht es in der Gegenwart im besten Fall um zaghaften und kompromissbereiten Reformismus.

Ist das in etwa die Kritik von Blanchot an Jaspers?

Düttmann: Blanchot hält Jaspers vor, dass dessen Analyse des Ereignisses einer atomaren Selbstvernichtung der Menschheit in einem konservativen und traditionellen Begriffs- und Vorstellungsapparat gefangen bleibt.

Quent: Das heißt, dass Jaspers zu Einsichten kommt, die er auch ohne dieses Ereignis schon formuliert hatte. Das ist ja häufig eine Tendenz, wenn von »Zeitenwende« oder »alles verändernden Ereignissen« die Rede ist.

Düttmann: Blanchots Frage lautet nicht mehr: Wie muss die Menschheit ihr Bewusstsein verändern, um als Menschheit die Gefahr eines Atomkriegs zu überleben? Sie lautet: Gibt es nicht unterschiedliche Arten, wie sich die Menschheit selbst vernichten kann?

Was meinen Sie damit?

Düttmann: Es geht darum, welche Menschheit sich selbst vernichtet: die antagonistisch gespaltene oder die solidarisch vereinte, also jene Menschheit, die die Herrschaft von Menschen über Menschen abgeschafft hat. Ist die Selbstvernichtung eine kollektive Entscheidung oder ist sie ein Kriegsgeschehen, das einer wehrlosen Mehrheit aufgedrängt wird? Das Ganze steht auf dem Spiel. In der Drohung der globalen Selbstvernichtung steckt also die Dringlichkeit ­einer revolutionären Vereinigung. Erst die kommunistische Menschheit kann, was die andere, die noch gar keine Menschheit ist, eigentlich nicht vermag: sich selbst zu vernichten.

Quent: Genau das ist das Abgründige an Blanchots Text: die Engführung von Selbstverwirklichung und Selbstvernichtung der Menschheit.

Düttmann: Die Möglichkeit der Selbstvernichtung ist eine permanente Drohung, die von Staaten strategisch eingesetzt wird, ob sie sich nun als demokratisch verstehen oder nicht, und gegenüber der sich die meisten ohnmächtig fühlen. Für eine kommunistische Menschheit kann die Selbstvernichtung keine Drohung mehr sein.

»Ob es zur Verhinderung der Klimakatastrophe nicht einer radikalen Veränderung der Gesellschaft bedarf, einer Abschaffung des Kapitalismus oder der sogenannten freien Marktwirtschaft, ist eine Frage, die die Letzte Generation bislang nicht stellt.« Alexander García Düttmann

Wie sieht eine Menschheit aus, die kollektiv und autonom eine Entscheidung trifft?

Düttmann: Sie fragen: Kann es wirklich Kommunismus geben? Ist das nicht eine Idealvorstellung, vielleicht sogar ein gefährliches Hirngespinst? Mit Blanchot frage ich: Misst sich die Menschheit an ihrer Selbsterhaltung? Können wir Gründe dafür vorbringen, dass sich die Menschheit frei entscheidet, sich selbst zu vernichten?

Versuchen wir, die Brücke zur Gegenwart zu schlagen. Die schlagen Sie mit Bruno Latour, Greta Thunberg und, überraschend genug, mit Papst Franziskus. Wie funktioniert das?

Quent: Es geht darum, dass apokalyptische Bilder in der Ökologiedebatte natürlich omnipräsent sind, wie zum Beispiel in Thunbergs Rede vom »brennenden Haus« vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Jahr 2019. Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich mit dem apokalyptischen Sprechen auseinanderzusetzen, weil es dabei um Mobilisierungsstrategien geht, die Probleme mit sich bringen.

Welche Probleme sind das?

Quent: Zum Beispiel, dass der Appell, der darin liegt, sich immer zugleich selbst sabotiert.

Verdeckt die Fokussierung auf die formal-ästhetische Struktur eines Diskurses seine Inhalte? So argumentiert Dietmar Dath in dem im Band erschienenen Aufsatz »Baumkronenwissen statt Bombengegrübel«. Der Widerspruch, den Blanchot in Jaspers’ Text ausmacht, sei vor allem ein »literarisch-ästhetischer«. Heute verdecke die Kritik an den Protestformen der Klimabewegung, dass die Letzte Generation sehr konkrete Forderungen hat, wie die nach einem Tempolimit oder der Einhaltung des Klimaschutz­gesetzes.

Quent: Exakt, das ist ja gerade eine Dynamik, die das apokalyptische Sprechen mit sich bringt. Seine Drastik, sein Zielen aufs Ganze, stimuliert zugleich immer auch eine Kritik, die dann dieses Sprechen vor allem unter dem Aspekt der Form, der Rhetorik oder des diskursiven Zusammenhangs betrachtet.

Düttmann: Wie lange dauert es noch, bis sich die Letzte Generation politisiert? Was passiert, wenn die real existierende Demokratie, in deren Rahmen sie operieren will, sich gegen sie stellt, sie kriminalisiert? Ob es zur Verhinderung der Klimakatastrophe nicht einer radikalen Veränderung der Gesellschaft bedarf, einer Abschaffung des Kapitalismus oder der sogenannten freien Marktwirtschaft, ist eine Frage, die die Letzte Generation bislang nicht stellt. Ihre minimalen und berechtigten Forderungen, militant vorgetragen, führen aber bereits zu ihrer demokratischen Entpolitisierung und Kriminalisierung.

Am Rande von linken Bewegungen ist es sehr beliebt zu sagen, diese oder jene Gruppe sei nicht radikal genug. Meistens äußern das die Leute, die nicht oder nicht mehr bei der konkreten politischen Arbeit mitmachen. Insofern poche ich auf die Frage: Wie soll diese neue Radikalität aussehen?

Düttmann: Der Verdacht, mit dem Sie dem Begriff der Radikalität begegnen, nämlich dass er nur einer leeren Beschwörung diene, mag berechtigt sein, kann aber auch eine einschüchternde und lähmende Wirkung haben, einen Konformismus fördern. Wie verhalten wir uns zur Selbstvernichtung? Blanchot weicht der Gefahr nicht aus, sondern verhält sich ihr gegenüber unerschrocken. Oder eben »radikal«. Warum sollen wir es nicht tun, wenn wir es doch können?

Weidende Kühe vor einem Atomkraftwerk

Strahlung und Klimagase: Weidende Kühe vor einem Atomkraftwerk

Bild:
Pixabay / Peggy Coucair

Ich verstehe nicht, was Sie hier mit Selbstvernichtung meinen. Ist das metaphorisch gesprochen? Warum sollte man darüber nachdenken wollen, dass eine Menschheit kollektiven Selbstmord begeht?

Düttmann: Eine freie und vernünftige Menschheit erhebt sich über die Sorge um ihre eigene Selbsterhaltung.

Herr Quent, Sie schreiben, dass die Menschheit, die vernichtet werden soll, noch gar nicht als Ganzes existiere, und folgen darin Blanchot. Für den Klimadiskurs könnte das bedeuten, dass in der kapitalistischen Gegenwart nicht alle Menschen gleichermaßen vom Klimawandel betroffen sind, sondern zuerst Ärmere oder Menschen aus dem Globalen Süden. Ist das ein Gedanke, wie man Blanchot mit der Gegenwart zusammenbringen könnte?

Quent: Der Begriff der Menschheit als universal wird nicht erst seit heute einer Kritik unterzogen und inzwischen oft selbst als Agent von Unterdrückung gesehen. Zugleich kann man dort, wo er verworfen wird, eine Art diskursiven Phantomschmerz beobachten. Ich denke, er ist heute weiterhin wichtig, wenn man ihn als einen Schauplatz des Konflikts um das Universelle versteht. Mit Blanchot müssten wir fragen: Was wäre eine positive Ganzheit, die nicht ausschließend und unterdrückend ist?

Dennoch schließen Sie sich in Ihrem Text Latour an und sagen, dass im Angesicht der Klimakatastrophe die Hoffnung auf eine Vereinigung der Menschheit vergeblich sei.

Quent: Nein, ich schließe mich Latour nicht direkt an. Ich setze mich mit Latours Kritik am Vereinigungsgedanken auseinander, um den Apokalypse-Diskurs der atomaren Drohung besser zu bestimmen. Seine Besonderheit besteht darin, über das Negativereignis der Atombombe die Verwirklichung der Vernunft zu denken. Die Zeitlichkeit der Klimakatastrophe ist eine andere, hier explodiert nicht alles in einem Moment. Die universale Realisierung der Vernunft als Vereinigung angesichts eines singulären Ereignisses ist nicht die zeitliche Figur, die heute passt. Deshalb taucht Latour bei mir auf.

»Der Begriff der Menschheit als universal wird nicht erst seit heute einer Kritik unterzogen und inzwischen oft selbst als Agent von Unterdrückung gesehen.« Marcus Quent

Nun gibt es auch andere Theo­retiker:innen, die für die ökologische Debatte fruchtbar gemacht werden können, etwa Donna Haraway. Auch ihr Denken enthält eine Kritik allzu perfekter Utopien und Dystopien, das heißt makelloser, ungebrochener Zukunftsszenarien, wie auch die Apokalypse eines ist. Stattdessen propagiert Haraway das Bild des ­Komposts, um Zukunft als schmut­zigen und gärenden Prozess zu denken, der niemals abgeschlossen ist. Mit dem Rückgriff auf Haraway könnte man den Apokalypse-Diskurs also verlassen. Warum bleiben Sie im Diskurs der ungebrochenen Zukunftsentwürfe?

Düttmann: Man darf die apokalyptische Perspektive des »alles oder nichts« nicht preisgeben. Sie kann verhindern, dass die Konturen verschwimmen.

Dennoch hat das »alles oder nichts« des apokalyptischen Diskurses selbst etwas Maßloses, etwas, das die Konturen verschwimmen lässt.

Düttmann: Die Maßlosigkeit der Rede von einer Apokalypse entspricht der Maßlosigkeit der Klimakatastrophe. Blanchot inszeniert die Auseinandersetzung von Verstand und Vernunft. Der Verstand pocht auf Durchdringung und Machbarkeit, bezieht sich kritisch auf den apokalyptischen Diskurs, um ihn als Rhetorik im Dienst der Verschleierung ­­zu denunzieren. Er pocht auf Pragmatismus. Deshalb droht er, im Bestehenden steckenzubleiben. Dagegen ist das Interesse der Vernunft die Idee des Ganzen: ein Überschuss. Auf der Bühne dieser Auseinandersetzung bewegt sich unser Buch. Es ist mindestens so radikal wie eine klebende Hand.


Buchcover

Alexander García Düttmann und Marcus Quent (Hrsg.): Die Apokalypse enttäuscht. Atomtod, Klimakatastrophe, Kommunismus. Diaphanes, Berlin 2023, 264 Seiten, 25 Euro