Die Reform des EU-Asylrechts hat das Europaparlament passiert

Gemeinsam abschieben

Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hat das Europaparlament passiert, trotz vieler Kritik.

Am Ende wurde es nochmal eng: Neun Jahre hatte die Europäische Union über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) verhandelt. Im Dezember 2023 endeten die sogenannten Trilog-Verhandlungen: Parlament, Rat und Kommission einigten sich auf insgesamt zehn Gesetze, die in der Summe die Flucht und Migration in die EU erheblich erschweren sollen. Vor allem die Kommission hatte Druck gemacht – sie wollte unbedingt vor den Europawahlen im kommenden Juni zu einer Einigung kommen. Der Rest schien Formsache.

Doch kurz vor der entscheidenden Parlamentsabstimmung Mitte vergangener Woche bekamen immer mehr Abgeordnete Bedenken. »Die Abstimmung dürfte knapp werden«, schrieb die »Tagesschau«, bei Phoenix war zu hören, eine Mehrheit für das Gesetzespaket sei nicht gewiss.

Keine Partei in Deutschland hatte sich für das Paket stärker verrenken müssen als die Grünen.

Seit Dezember habe die Diskussion unter den Parlamentariern »eine gewisse Dynamik« bekommen, sagte der linke EU-Abgeordnete Dietmar Köster von der SPD. »Man war ganz gelassen und dachte, dass es eine breite Mehrheit gibt. Mittlerweile wurden aber doch mehr kritische Stimmen geäußert.« Bei den Fraktionssitzungen am Tag der Abstimmung sei mit vielen Abweichlern gerechnet worden. »Entsprechend wurde schon ein gewisser Druck aufgebaut in den Fraktionen«, so Köster.

Die Spitzen der deutschen Regierungsparteien hatten offensiv für die Reform geworben. Es brauche »verlässliche Regeln für Migration & Asyl«, schrieb Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auf X. »Es ist an Europa, jetzt Handlungsfähigkeit zu beweisen.«

Ihre eigene Fraktion überzeugte sie damit nicht. Die stimmte – ebenso wie alle Abgeordneten der Fraktion »Die Linke«, einige Sozialdemokraten, Liberale, Konservative und die meisten Rechtsextremen – gegen die Reform. In der Mehrheit waren sie aber nicht.

»Humanität und Ordnung«

Als das Ergebnis feststand, freute sich Baerbock auf X über »verbindliche Regeln mit Humanität & Ordnung«. Damit verwendet sie fast exakt dieselbe Formel wie die CDU, um die Vorzüge des Geas zu preisen. Bei den Konservativen heißt es, das Geas sei »unser Weg für Humanität und Ordnung«.

Keine Partei in Deutschland hatte sich für das Paket stärker verrenken müssen als die Grünen. Als der damalige deutsche CSU-Innenminister Horst Seehofer 2019 »Closed Centers« für Asylverfahren an den Außengrenzen vorschlug, wiesen praktisch alle führenden Grünen, Baerbock eingeschlossen, die Idee vehement zurück. Am Ende stand im grünen Parteiprogramm der Satz: »Vorgezogene Asylverfahrensprüfungen an den Außengrenzen lehnen wir ab.«

Das ist passé. Der entsprechende Text auf der Grünen-Website ist nicht mehr erreichbar. Ohne die Kehrtwende der Partei wäre im vergangenen Frühsommer im EU-Rat keine Einigung möglich gewesen. Baerbock und der Co-Bundesvorsitzende Omid Nouripour hatten vor allem mit dem Argument geworben, es werde einen »verbindlichen Verteilmechanismus« geben. Später war dann nur noch von »verpflichtender Solidarität« die Rede.

Die Reform ist ein umfassendes Entrechtungsprogramm, für das zunächst 30.000, bis 2028 dann 120.000 Haftplätze an den EU-Außengrenzen entstehen sollen.

Euphemistischer geht es kaum. Das Ganze ist ein umfassendes Entrechtungsprogramm, für das zunächst 30.000, bis 2028 dann 120.000 Haftplätze an den EU-Außengrenzen entstehen sollen. Alle Ankommenden sollen in diesen Lagern zunächst »gescreent« werden – es wird geprüft, ob sie für ein reguläres Asylverfahren in Frage kommen oder lediglich ein Schnellverfahren innerhalb des Lagers durchlaufen können. Werden sie beim Schnellverfahren abgelehnt, kommen sie gleich innerhalb des Lagers in Abschiebehaft. Selbst Kinder ab sechs Jahren sind davon betroffen, bisher galt 14 als Untergrenze. Wer nach Einschätzung der Behörden ein »Sicherheitsrisiko« darstellt, soll speziell gekennzeichnet werden.

Während der Haftzeit gelten die Schutzsuchenden offiziell als »nicht eingereist«, obwohl sie sich auf EU-Territorium befinden. Das erschwert es, Rechtsmittel gegen die nationalen Asylbehörden einzulegen. Auch die »Fiktion der Nichteinreise«, so der Fachbegriff, ist eine Idee aus dem deutschen Innenministerium unter Horst Seehofer.

Ab ins Lager

Wie groß der Anteil der Ankommenden letztlich sein wird, die per Schnellverfahren in den Internierungslagern abgefertigt werden, ist unklar. Unter anderem sollen dazu diejenigen gehören, bei denen es eine Verbindung zu einem sogenannten sicheren Transitstaat gibt, die aus einem »sicheren Herkunftsland« stammen oder aus einem Herkunftsland, aus dem Asylanträge in der EU im Vorjahr zu nicht mehr als 20 Prozent angenommen wurden – derzeit sind das beispielsweise Marokko, Tunesien oder Bangladesh. Noch härter geht es zu, wenn die Flüchtlinge werden von einem unfreundlichen Nachbarstaat »instrumentalisiert« und in böser Absicht über die Grenze geschickt werden. Dann können die EU-Staaten alle Ankommenden für Schnellverfahren in Lagern festhalten.

Staaten an der südlichen EU-Außengrenze wie Italien oder Griechenland bringt das Geas keine Entlastung. Sie wollten ein Ende der Dublin-Verordnung, die ihnen in der Praxis die alleinige Verantwortung für fast alle Ankommenden aufbürdet. Sie verlangten deshalb einen »verbindlichen Verteilmechanismus«. Vor allem die osteuropäischen Visegrád-Staaten lehnten ihn kategorisch ab.

Jetzt ist es so geregelt: Zwar bleibt das Land der ersten Einreise in der Regel für einen Asylantrag zuständig, doch über freiwillige Umverteilung sollen jährlich mindestens 30.000 Migranten aus Italien und Griechenland weiterreisen dürfen. Von diesen sollten theoretisch rund 6.600 Menschen pro Jahr nach Deutschland kommen.

Geld für Migrationsabwehr

Staaten, die sich an dem Verteilmechanismus nicht beteiligen, sollen ersatzweise Geld bezahlen. Die Rede ist von 20.000 Euro pro zu wenig aufgenommenem Flüchtling. Dieses Zahlungen werden aber keineswegs automatisch für Versorgung oder Integration der Menschen anderswo in der EU herangezogen. Sie dürfen, wenn der Zahlerstaat dies wünscht, für Grenzschutzmaßnahmen, vulgo: Migrationsabwehr inner- und außerhalb der EU verwendet werden. Ungarn kann sein Geld also beispielsweise der libyschen Küstenwache geben. Ob die Zahlungen überhaupt fließen werden, ist fraglich. Selbst der liberale polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat angekündigt, Polen vor diesen Ausgleichszahlungen »schützen« zu wollen.

Die deutschen Konservativen indes denken schon weiter. Die CDU will im Mai ihr neues Grundsatzprogramm verabschieden – und was darin vorgesehen ist, lässt das Geas auf ganzer Linie hinter sich. »Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen«, heißt es im Programmentwurf. Bei Anerkennung werde »der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren«.

Frankreich wird zusehends von seiner kolonialen Vergangenheit und seiner jahrzehntelangen neokolonialen Praxis eingeholt und muss diplomatische Rückschläge hinnehmen.

Die Menschen sollen also nicht bloß – wie es dem »Migrationsbeauftragten« der Bundesregierung, dem FDP-Politiker Joachim Stamp, vorschwebt – in ein wohl afrikanisches Land gebracht werden und nach einer Anerkennung in die EU einreisen können. Die Anerkannten sollen vielmehr dauerhaft dort bleiben, wohin sie gebracht wurden. Lediglich über im CDU-Papier vage genannte freiwillige Aufnahmekontingente soll eine Einreise möglich bleiben. Das geht weit über das hinaus, was hierzulande bisher in Sachen Asylrechtsverschärfung diskutiert wurde.

Dabei wenden sich afrikanische Regierungen gerade in Scharen von westlichen Staaten ab und gehen Allianzen mit Russland, China und den Golfstaaten ein. Frankreich beispielsweise wird zusehends von seiner kolonialen Vergangenheit und seiner jahrzehntelangen neokolonialen Praxis eingeholt und muss diplomatische Rückschläge hinnehmen.

Gleichwohl wollen die deutschen Unionsparteien das Ruanda-Modell Großbritanniens kopieren. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt reiste deshalb im März in das ostafrikanische Land. Der dortige Migrationsminister habe »hohe Bereitschaft« gezeigt, entsprechende Verträge mit Deutschland abzuschließen. Rechtliche Probleme sieht Dobrindt nicht, wenn die Asylverfahren nach Standards und unter Aufsicht der EU stattfänden.

In Großbritannien hatten Gerichte die Abschiebung Asylsuchender nach Ruanda mehrfach untersagt. In einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik vom März ist von »rechtlichen, praktischen und politischen Einwänden« die Rede, die in der Debatte über ein deutsches Ruanda-Modell »ausgeblendet« würden.