Petr Nikitin, Gründer der Exilorganisation Russian Democratic Society in Serbien, im Gespräch über oppositionelle Russ:innen in Serbien

»Manche sehen uns als eine Minderheit von Verrätern an«

Seit Beginn der großangelegten Invasion der Ukraine sind Tausende oppositionelle Russen nach Serbien geflohen. Das Land pflegt allerdings weiterhin gute Beziehungen zu Russland. In jüngster Zeit verweigert Serbien wiederholt russischen Staatsbürgern eine Aufenthalts­geneh­mi­gung. Ein Gespräch mit dem Juristen Petr Nikitin, einem der Gründer der Exilorganisation Russian Democratic Society in Serbien.
Interview Von

Die Russin Elena Koposowa lebt seit fast fünf Jahren in Serbien. Anfang Februar stuften die serbischen Behörden sie plötzlich als »Bedrohung für die nationale Sicherheit« ein und forderten sie auf, das Land zu verlassen. Sie selbst äußerte den Verdacht, die Entscheidung der Behörden hänge mit einer Petition gegen den russischen Angriffskrieg zusammen, die sie vor zwei Jahren unterschrieben hat. Wie ging es weiter?
Koposowa ging in Berufung, zugleich stellten wir eine öffentliche Kampagne für sie auf die Beine. Wir holten Unterstützung von verschiedenen Organisationen ein, zum Beispiel vom serbischen Pen-Zentrum und vom Helsinki-Komitee für Menschenrechte in Serbien. Außerdem starteten wir eine Petition. Vor kurzem hat sie schließlich die Nachricht bekommen, dass ihrer Beschwerde stattgegeben wird. Sie hat eine neue temporäre Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Die Behörden gingen jedoch nicht auf Argumente ein. Sie verlautbarten ausschließlich, es gebe jetzt eine neue Einstufung, nach der Koposowa nicht mehr als nationales Sicherheitsrisiko betrachtet wird.
Das sind zwar phantastische Neuigkeiten für Elena. Besorgniserregend ist aber, dass der Sicherheitsdienst Menschen als Bedrohung für die nationale Sicherheit einstufen und dann plötzlich seine Meinung ändern kann – alles ohne Erklärung. Kann man diesen Behörden vertrauen? Wir haben ernsthafte Bedenken, was die Arbeit der serbischen Polizei und der serbischen Sicherheitsbehörden angeht.

Gibt es vergleichbare Fälle?
Es gab den Fall eines 19jährigen russischen Studenten. Als die Invasion der Ukraine begann, protestierte er an seiner Universität in Kasan und wurde festgenommen. Kurz darauf machte er sich auf den Weg nach Serbien. Als er voriges Jahr ein Graffito mit dem Schriftzug »Tod der Ukraine« an einer Wand in Belgrad entdeckte, war er schockiert über die genozidale Sprache. Also begann er am helllichten Tag, das Graffito wegzuwischen. Dessen Ur­heber entdeckten ihn, schlugen ihn zusammen und bedrohten ihn mit einem Messer. Sein Trommelfell riss während des Angriffs. Er konnte die Täter identifizieren und erstattete Anzeige.

»Wenn wir nicht so unter Druck gesetzt würden, dann wäre Serbien längst das Zentrum der russischen Antikriegsbewegung.«

Die Polizei äußerte sich mehrere Monate lang nicht. In der Zwischenzeit bekam er ein humanitäres Visum und zog nach Deutschland. Einige Monate später bat die Polizei ihn, zur Beweisermittlung nach Serbien zu kommen, doch er wurde nicht über die serbische Grenze gelassen. Ohne Erklärung schickte man ihn zurück nach Deutschland.

Serbien gilt als einer der letzten europäischen Verbündeten Putins. Die Regierung unter Präsident Aleksandar Vučić hat sich den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Gleichzeitig ist das Land ein Zentrum oppositio­neller Exilrussen, mehr als 200.000 Russinnen und Russen sind seit dem 24. Februar 2022 nach Serbien ­geflohen. Wie hat sich die Lage seitdem entwickelt?
Seit Beginn der großflächigen Invasion gab es zahlreiche Antikriegsproteste in Serbien. 2022 hatten wir keine Probleme damit, unsere Unterstützung für die Ukraine kundzutun. Später fanden wir heraus, dass online Verleumdungen über unsere Organisation verbreitet werden, wie dass wir von »westlichen«­ Akteuren bezahlt würden. Dann wollten wir ein Bankkonto eröffnen, das es uns ermöglichen würde, ein Büro zu organisieren und Mit­arbeiter anzustellen. Aber es stellte sich heraus, dass keine einzige serbische Bank ein Konto für uns eröffnen wollte. Über einen Freund, der bei einer Bank arbeitet, fanden wir heraus, dass wir auf einer Schwarzen Liste stehen. Unsere Möglichkeiten sind also eingeschränkt, wir können die Organisation nicht weiterentwickeln. Wir sammeln aber weiterhin Spenden und leiten sie an humanitäre Organisationen in der Ukraine oder Organisationen für politische Gefangene in Russland weiter.

Russlands Präsident Wladimir Putin ist in Serbien äußerst beliebt. Grund dafür ist auch die gemeinsame Gegnerschaft zur Nato, die 1999 Luftangriffe auf Jugoslawien flog, um Serbien zu einer Beendigung des Kosovo-Kriegs und der serbischen Kriegsverbrechen zu zwingen. Wie nehmen Sie die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Russinnen und Russen in Serbien wahr?
Auf einer persönlichen Ebene gibt es ein nettes Zusammenleben. Russen sind hier willkommen, die meisten von uns wollen bleiben. Gleichzeitig sind die meisten Menschen hier Putin sehr zugeneigt. Überall gibt es prorussische Propaganda, auch die staatlichen Medien berichten im Sinne des Kreml. Es gibt Leute, die in uns eine Minderheit an Verrätern sehen. Die »richtigen« Russen, so denken sie, unterstützen Putin. Andere sehen in uns Verrückte, die ihre eigene Kultur nicht verstehen. Das größte Problem sind die willkürlichen Ausweisungen. Viele Betroffene wollen sich nicht öffentlich dazu äußern. Ich hoffe, dass der Fall von Elena Koposowa ihnen Mut gibt. Denn es scheint die Tendenz zu geben, dass Serbien sich der Russinnen und Russen entledigen will, die zu ihrer oppositionellen Haltung stehen.

Zeigt die Einschüchterung Wirkung?
Weniger Menschen gehen auf die Straße, um zu protestieren. Und weniger Menschen sprechen mit Journalisten. Ich denke, wenn wir nicht so unter Druck gesetzt würden, dann wäre Serbien längst das Zentrum der russischen Antikriegsbewegung. Das Land beheimatet die größte russische Dia­spora in Europa, wir befinden uns im Zentrum des Kontinents. Praktisch alle hier sind gegen Krieg und Diktatur. Hätten wir die Freiheit, so zu protestieren und Kampagnen zu führen, wie es uns nach dem Gesetz zusteht, dann könnten wir dieses Potential ausnutzen.

»Was ist mit jemandem, der aus Serbien ausgewiesen wird, weil er gegen den Krieg ist? Ich denke, wir müssen viel mehr für die Menschen tun, die aufgrund ihres Aktivismus Probleme bekommen.«

Als wir von der Russian Democratic Society mit den ersten Aktionen begannen, nahmen mehr als 3.000 Russinnen und Russen daran teil. Für Belgrad ist das beeindruckend. Und die größte Herausforderung dabei, diese Menschen auf die Straße zu bringen, war, sie davon zu überzeugen, dass evws sicher für sie ist. Ich bin 42 Jahre alt. Ich erinnere mich also an das Russland der neunziger Jahre. Damals konnte man frei demonstrieren.

Der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes spätestens 1991 schien einen Weg in Richtung ­Demokratie zu verheißen. Viele beschworen ein »Ende der Geschichte« und erwarteten, dass alle Länder zu liberalen Demokratien werden würden. Stattdessen stieg die Zahl autoritärer Regime.
Ja, junge Russen kennen das Konzept von freien Protesten, ohne zusammengeschlagen oder inhaftiert zu werden, nur in der Theorie. In der Realität haben sie das nie erlebt. Jetzt sagen sie hinsichtlich der willkürlichen Ausweisungen: »Gut, sie schlagen dich vielleicht nicht auf der Straße zusammen. Aber dafür werden sie dich nach dem Protest verfolgen.«

Was ist das Ziel der Russian Democratic Society?
Unsere Botschaft ist: »Das passiert nicht in unserem Namen.« Putin möchte dem Westen vermitteln, dass alle Russen Imperialisten sind, die Ukraine hassen und Genozid befürworten. Wenn dieses Bild aufgegriffen wird, passiert so was wie in Tschechien. Präsident Petr Pavel hatte gefordert, dass man alle Russen im Exil streng überwachen solle. Das ist ein Geschenk für alle russischen Propagandisten! Denn dann kann der Kreml sagen: »Seht her, die Europäer hassen uns. Wir als Russen müssen zusammenstehen.« Wir möchten dieses Bild zerstören. Aber dazu müssen wir richtig protestieren können. Unser Appell ist: Russische Kriegsgegner verdienen Aufmerksamkeit und Unterstützung. Die Menschen in Europa müssen anerkennen, dass es uns gibt, dass wir viele sind und uns engagieren, aber dass selbst unsere Aktivitäten im Ausland nicht risikofrei sind.
Was ist mit jemandem, der aus Serbien ausgewiesen wird, weil er gegen den Krieg ist? Ich denke, wir müssen viel mehr für die Menschen tun, die aufgrund ihres Aktivismus Probleme bekommen. Nicht nur in Serbien, sondern auch in Armenien, Kasachstan und Georgien. Es sollte unbedingt Schutz für Menschen geben, die in anderen Ländern für ihren Aktivismus verfolgt werden.

Bei der russischen Präsidentschaftswahl Mitte März schnitt Putin insbesondere in Serbien schlecht ab und erhielt lediglich elf Prozent der Stimmen. Wie schätzen Sie das politische Potential des russischen Exils in Serbien ein?
Riesig. Es handelt sich hier um das beste menschliche Kapital, das Russland zu bieten hat. Die schlechtesten Russen ermorden zurzeit Menschen in der Ukraine. Mindestens eine Million Russen sind im Exil. Sie sind jung, kreativ und sie gehen davon aus, dass sie irgendwann zurückkehren und ein ­freies, neues Land aufbauen werden.

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Gebürtiger Moskauer, Menschenrechtler und Jurist: Petr Nikitin

Gebürtiger Moskauer, Menschenrechtler und Jurist: Petr Nikitin

Bild:
privat

Petr Nikitin ist gebürtiger Moskauer, Menschenrechtler und Jurist. In der Vergangenheit arbeitete er in Kanzleien in London und Paris, seit einigen Jahren lebt er in Belgrad. Er ist ­einer der Gründer der Russian Democratic Society, einer oppositionellen russischen Organisation, die sich als antifaschistisch versteht und Antikriegsproteste in Serbien organisiert.