Die Massaker der Hamas in Israel stacheln Jihadisten weltweit an

Neuer Anreiz für den Jihad

Die Massaker der Hamas in Israel erhöhen nach Ansicht internationaler Experten die Gefahr islamistischer Anschläge in anderen Ländern. In Frankreich kamen zwei Tunesier in Untersuchungshaft, weil sie mit dem Brüsseler Attentäter Abdesalem L. mutmaßlich eine Terrorzelle gebildet hatten.

Mehr als zwei Wochen nach den blutigen Hamas-Anschlägen in Israel ist die Terrorgefahr auch in Europa gestiegen. Begünstigt wird dies nicht zuletzt durch die Desinformationskampagne der Hamas, die Israel für eigene Fehler oder die verbündeter Milizen verantwortlich macht, auch wenn – wie im Fall des angeblich bombardierten Krankenhauses in Gaza – internationale Experten nachvollziehbar belegen, dass es keinesfalls eine israelische Rakete war, die den fraglichen Schaden verursachte.

Claude Moniquet, ein ehemaliger Mitarbeiter des französischen Auslandsgeheimdiensts Direction générale de la Sécurité extérieure (DGSE), warnt entsprechend vor einer »weltweiten Terrorwelle«, die den Ereignissen im Nahen Osten folgen werde. Die Anschläge der Hamas seien »eine neue Motivation, ein Anreiz für den Jihad, wieder aufzutauchen und zu wachsen«.

Großangelegte Terroranschläge hält Moniquet jedoch für unwahrscheinlich, da die Kapazitäten dafür in Europa kaum noch vorhanden seien. Heutzutage komme es »häufiger zu Einzelangriffen oder Angriffen aus sehr kleinen Familien- oder Freundeskreisen«, was die Prävention umso schwieriger mache. Netzwerke könnten von Geheimdiensten überwacht und ausgehoben werden, »denn in Netzwerken muss man kommunizieren, mailen, telefonieren, sich treffen«, so Moniquet. Aber »wenn du mit deinem Bruder an der Vorbereitung eines Angriffs ar­beitest, wird es niemand mitbekommen«.

Insgesamt scheint kaum jemand Abdesalem L. wirklich zu kennen. Gesichert ist, dass er während des allgemeinen Chaos im sogenannten Arabischen Frühling Ende 2010 aus dem Gefängnis in Tunis entkommen war, wo er nach seiner Verurteilung zu 26 Jahren Haft im Jahr 2005 unter anderem wegen versuchten Mordes hatte einsitzen müssen.

Dass der Großangriff der Hamas auf israelische Zivilisten ebenfalls unter weitgehender Umgehung moderner Kommunikationsmethoden geplant wurde, spreche nicht gegen die These von Kleingruppen als neuen Urhebern von Terror, meinen Experten. Und auch der – mit zwei Toten und einem Schwerverletzten noch in vergleichsweise kleinem Rahmen verbliebene – Anschlag auf schwedische Fußballfans in Brüssel am vorvergangenen Wochenende könnte ein Indiz dafür sein, dass erfolgreiche Terrorplanung privat erfolgt. Könnte – denn der am Dienstag voriger Woche von der Polizei in einem Brüsseler Café erschossene Attentäter Abdesalem L. war wohl vor allem deshalb in der Lage zu töten, weil die belgischen Behörden zahlreiche Hinweise auf seine islamistische Radikalisierung und Gewaltbereitschaft konsequent ignoriert hatten.

Außerdem ist noch immer nicht klar, ob er nicht vielleicht doch zumindest Mitwisser gehabt hat. In der vorigen Woche waren in Frankreich vier Männer unter dem Verdacht, Komplizen von L. gewesen zu sein, festgenommen worden. Zwei wurden mittlerweile wieder freigelassen, gegen die beiden an­deren wurde am Montag Anklage erhoben. Die Tunesier im Alter zwischen 40 beziehungsweise 50 Jahren sollen nach Angaben der französischen Antiterrorstaatsanwaltschaft (Parquet national antiterroriste) im Verdacht stehen, gemeinsam mit L. eine Terrorzelle gebildet zu haben und somit seine Mordkomplizen gewesen zu sein, berichtete unter anderem der belgische Fernsehsender RTBF.

Souleymen Rakrouki, der Anwalt des 40jährigen, sagte der Nachrichtenagentur AFP allerdings, dass sein Mandant seit fast 20 Jahren in Paris lebe und lediglich seit langem mit L. befreundet gewesen sei. Von einer möglichen Radikalisierung seines Freundes habe er nichts mitbekommen.

Insgesamt scheint kaum jemand Abdesalem L. wirklich zu kennen. Gesichert ist, dass er während des allgemeinen Chaos im sogenannten Arabischen Frühling Ende 2010 aus dem Gefängnis in Tunis entkommen war, wo er nach seiner Verurteilung zu 26 Jahren Haft im Jahr 2005 unter anderem wegen versuchten Mordes hatte einsitzen müssen. Danach wird die Liste seiner Aufenthaltsorte unübersichtlich: Dem belgischen Fernsehsender RTBF zu­folge kam er im Januar 2011 zusammen mit anderen Flüchtlingen in Lampedusa an, im selben Monat wurde er im sizilianischen Porto Empedocle ­fotografiert.
Am 23. Juni 2011 beantragte er in Norwegen Asyl und wohnte für einige Monate bis zur Ablehnung des Antrags bei seinem Cousin in Oslo. L. sei damals nicht »übermäßig religiös« gewesen, berichtete dieser Cousin vorige Woche in einem Interview mit dem norwegischen Fernsehsender NRK. Man habe hauptsächlich über Fußball und die Familie gesprochen, zuletzt habe er irgendwann 2022 Kontakt zu ihm gehabt.

2014 wurde L. aus dem Gefängnis entlassen, wo er sich danach aufhielt, ist unbekannt.

Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Jahr 2012 reiste L. weiter nach Schweden. Im September 2012 wurde er zusammen mit zwei weiteren Männern in Malmö wegen Drogenhandels verhaftet, bei L. wurden damals 100 Gramm Kokain sowie 38.000 Kronen (nach heutigem Wert mehr als 3.500 Euro) gefunden. Im selben Jahr wurde er zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Zusätzlich erhielt er ein zehnjäh­riges Aufenthaltsverbot für Schweden. Auch hier kam es zu einer bis heute nicht geklärten Ungereimtheit: Einem Bericht des schwedischen Fernsehsenders SVT zufolge wird im Urteil L.s abweichend buchstabiert, während sein Geburtsdatum korrekt angegeben ist.

Im Januar 2013 trat L. seine Haftstrafe an. Eigentlich hatte er darum gebeten, in ein Gefängnis nahe der norwegischen Grenze eingewiesen zu werden, um seinem Cousin Besuche zu erleichtern. Aus nicht näher ausgeführten »Sicherheitsgründen« kam er jedoch ins Gefängnis von Kumla, wo unter anderem der rechtsex­treme Mörder John Ausonius einsitzt und der wegen Polizistenmords eigentlich zu lebenslanger Haft verurteilte Neonazi Tony Olsson bis 2023 einsaß.

Im Gefängnis verhielt sich L. nach Informationen der Tageszeitung Aftonbladet aggressiv. Mehrmals bedrohte er demnach das Personal, weil er unter anderem mit der medizinischen Versorgung unzufrieden war und die Öffnungszeiten des Knastkiosks nicht aus Rücksicht auf seine Gebetszeiten geändert wurden; in einem Fall soll er einem Krankenpfleger angekündigt haben, ihn abzustechen, wenn er ihm jemals in Göteborg auf der Straße begegnen sollte. L. selbst wies diese Anschuldigung damals jedoch zurück und behauptete, er habe lediglich gesagt, dass er ihm dann die Augäpfel aus dem Kopf herauskratzen werde.

2014 wurde L. aus dem Gefängnis entlassen, wo er sich danach aufhielt, ist unbekannt. In Schweden hat er jedenfalls unter seinem richtigen Namen nie einen Asylantrag gestellt. Weil L. bei Facebook unter anderem »Polisen Dalarna«, die Polizei von Dalarna, gelikt hatte, überprüfen die schwedischen Behörden derzeit, ob er Verbindungen in die mittelschwedische Region gehabt haben könnte. Wo sich L. zwischen 2014 und 2015 aufhielt, ist derzeit ebenfalls noch unklar. L.s eigenen Angaben zufolge wohnte er seit 2015 Belgien, Asyl beantragte er dort allerdings erst im November 2019. Und verschwand knapp ein Jahr später spurlos.

Wie und warum die belgischen Überwachungsbehörden L. aus den Augen verloren haben, ist noch weitgehend unklar. Sie hatten zahlreiche Warnungen über ihn erhalten, diese aber fast komplett ignoriert. Nachdem sein Asylantrag im Oktober 2020 abgelehnt worden war, wurde er am 12. Februar des folgenden Jahres von der zuständigen Gemeinde aus dem Rijksregister, dem Melderegister, gestrichen und hatte ­damit für Polizei und Behörden keine ladungsfähige Adresse mehr. Die im März 2021 ergangene Ausweisungsverfügung konnte L. entsprechend auch nicht zugestellt werden. Eine im August 2022 ergangene Bitte der tunesischen Behörden, L. ins Land zurückzuschicken, mutmaßlich damit er seine Haftstrafe zu Ende absitze, wurde nach derzeitigen Erkenntnissen wohl einfach nur abgeheftet und nicht bearbeitet.

Wie und warum die belgischen Überwachungsbehörden L. aus den Augen verloren haben, ist noch weitgehend unklar. Sie hatten zahl­reiche Warnungen über ihn erhalten, diese aber fast komplett ignoriert.

Ob es ein bloßer Zufall ist, dass L., nur zwei Tage bevor sich die Sicherheitsbehörden schließlich doch mit ihm beschäftigen und die eingegangenen Warnungen der ausländischen Geheimdienste bündeln wollten, seine Taten begehen konnte, ist ebenfalls immer noch ungeklärt. Könnte er vorab einen Tipp bekommen haben? Konkrete Anhaltspunkte dafür gibt es nicht. Sehr konkrete gibt es dagegen für die schlampige Arbeit der zuständigen Behörden.
Am Montag beschloss der Hoge Raad voor Justitie, die Generalstaatsanwaltschaft, eine offizielle Untersuchung über die vielen Versäumnisse im Fall L. einzuleiten. In der Begründung heißt es unter anderem, dass »dem Anschlag verschiedene Geschehnisse vorangegangen« seien. »Dazu gehört auch der Fehler, dass das Dossier von L. durch die Brüsseler Behörden nicht vollständig bearbeitet wurde.«

Am Freitagabend voriger Woche erklärte der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne seinen Rücktritt. Unterdessen sollen dem Premierminister Alexander De Croo zufolge einige neue Maßnahmen für mehr Sicherheit in Belgien sorgen. Dazu gehört die Schaffung einer Datenbank, in der die Daten ausreisepflichtiger ehemaliger Asylbewerber gesammelt werden sollen. Des weiteren sollen als Reaktion auf die tödlichen Versäumnisse unter anderem bei der Brüsseler Polizei und den Anklagebehörden neue Stellen geschaffen werden, denn als einen Grund für die Nichtbearbeitung von L.s Akte nannte unter anderem der Staatsanwalt Tim De Wolf Personalmangel.

Allerdings war L.s Dossier – nach heutigen Erkenntnissen jedenfalls – das einzige, das nicht bearbeitet worden war. Und angesichts der sich aus dem Hamas-Terror in Israel ergebenden allgemeinen verstärkten Bedrohung dürften die angekündigten Neueinstellungen auch nicht viel bewirken; aus Ermittlerkreisen hieß es bereits, dass es mindestens einige Mo­nate dauern werde, die Leute einzuarbeiten.