Ein ehemaliger Regierungsbeamter will eine Oppositionsbewegung gegen Orbán gründen

Die Opposition gegen Orbán regt sich

Nach Protesten gegen die ungarische Regierung im Februar trat ein ehemaliger Beamter aus dem Umkreis von Ministerpräsident Viktor Orbán mit schweren Vorwürfen gegen die Regierung an die Öffent­lich­keit. Péter Magyar sagt, er wolle die Korruption der Regierung offenlegen, und plant die Gründung einer Oppositionsbewegung.

Das Orbán-Regime kommt nicht zur Ruhe. Ende Februar trat die Staatspräsidentin Katalin Novák zurück, die Parlamentsabgeordnete und ehemalige Justizministerin Judit Varga verzichtete auf ihre Spitzenkandidatur für Fidesz, die Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán, bei der Europawahl. Und Zoltán Balog trat als Präsident der Synode der Reformierten Kirche Ungarns zurück, ist jedoch nach wie vor Bischof.

Sie alle waren in den »Begnadigungsskandal« verwickelt: Präsidentin Novák hatte im April 2023 einen ehemaligen stellvertretenden Direktor eines Kinderheimes begnadigt, der im Gefängnis saß, weil er sexuellen Missbrauch an Kindern durch seinen Vorgesetzten gedeckt und vertuscht hatte. Die damalige Justizministerin Varga hatte die Begnadigung gegengezeichnet, und Balog, der in den Jahren 2012 bis 2018 in zwei Kabinetten Orbáns auch das Amt des Ministers für Humanressourcen bekleidete, hatte sich für die Begnadigung eingesetzt.

Als das im Februar bekannt wurde, schlug die Empörung in Ungarn hohe Wellen. In Budapest kam es zu mehreren Demonstrationen, zunächst organisiert von Oppositionsparteien, die Hunderte bis einige Tausend Personen auf die Straßen brachten. Einem Protestaufruf ungarischer Influencer und Persönlichkeiten aus dem Musik- und Kulturbetrieb folgten dann Mitte Februar Zehntausende – die größte Demons­tration gegen die Regierung seit Jahren.

Es sei das erste Mal, dass jemand das Orbán’sche Clansystem verlassen und sich öffentlich dagegen gewendet habe, sagt Bálint Magyar von der Central European University.

Der Skandal stellte das über Jahre kultivierte Image von Fidesz als christlich-konservativer Familienpartei in Frage. Ministerpräsident Orbán äußerte sich zunächst überhaupt nicht und ließ die beiden Politikerinnen zurücktreten, um dies dann in seiner jährlichen Regierungserklärung als Beispiel für Verantwortungsbewusstsein zu loben. Die beiden hatten die politische Verantwortung auf sich genommen, Orbán wusch seine Hände in Unschuld.
Nach der großen Demonstration Mitte Februar ebbte die Protestbewegung ab, die Krise schien für das Regime überstanden. Doch ein anderes Problem könnte langfristig gefährlicher werden: Mitte Februar packte ein ehemaliger Insider des Regimes mit brisanten Anschuldigungen über die Korruption Orbáns und seines Umfelds aus.

Es handelt sich um Péter Magyar, den Ex-Ehemann der zurückgetretenen Justizministerin, der mit einem Interview im linken Youtube-Kanal Partizán an die Öffentlichkeit ging. Das Video mit dem Titel »Einigen wenigen Familien gehört das halbe Land« haben auf Youtube mittlerweile fast 2,5 Millionen Personen angesehen, was in einem Land mit knapp zehn Millionen Einwohnern ein phänomenaler Erfolg ist.

Zwar bekleidete Magyar anders als seine Frau nie ein Amt in der ersten Reihe der Regierung oder der Partei, sondern leitete lediglich die Behörde für staatliche Studienkredite. Doch auch in diesem Amt konnte er aus erster Hand Erfahrungen mit der Korruption des Regimes machen. In dem Youtube-Interview sagte er, dass der Leiter des Ministerpräsidialamts, Antal Rogán, von ihm verlangt habe, überteuerte Aufträge an Firmen zu vergeben, die zum Netzwerk von Fidesz gehören. Magyar bekundete, er habe sich widersetzt und einen Widerwillen gegen die Korruption des Regimes und die dabei zentrale Figur Rogán entwickelt.

Dieser verfügt innerhalb der Regierung über eine nicht unbeträchtliche Machtfülle. Er analysiert mit Hilfe von Umfragen, deren Ergebnisse nicht öffentlich gemacht werden, die politische Stimmung im Land, auf die Fidesz flexibel reagiert. Außerdem soll er die inhaltliche Kontrolle über die Fidesz nahestehenden Medien und über die regelmäßigen politischen Propagandakampagnen der Regierung auf Plakatwänden im ganzen Land haben. Und seinem Amt sind ganz offiziell die nichtmilitärischen Geheimdienste unterstellt.

»Seit Ende der achtziger Jahre hat Ungarn den Geheimdiensten nicht mehr erlaubt, in diesem Ausmaß systematisch Politik und öffentliche Debatten auszuspähen.« Márta Pardavi, die Co-Vorsitzende des Ungarischen Helsinki-Komitees

Das kürzlich neu geschaffene Amt zur Verteidigung der nationalen Souveränität weitet die Möglichkeiten der Regierung, Opposition und Medien geheimdienstlich zu überwachen, weiter aus. Offiziell dient es dazu, die Einflussnahme auf die ungarische Politik durch ausländische Geldgeber zu überwachen. In der Praxis könnte davon die gesamte von Orbán oft als »Dollar-Linke« bezeichnete Opposition betroffen sein. »Seit Ende der achtziger Jahre hat Ungarn den Geheimdiensten nicht mehr erlaubt, in diesem Ausmaß systematisch Politik und öffentliche Debatten auszuspähen«, zitiert die Financial Times Márta Pardavi, die Co-Vorsitzende des Ungarischen Helsinki-Komitees.

Magyar macht Rogán auch für den Rücktritt seiner Ex-Ehefrau und der Staatspräsidentin Novák verantwortlich: Die beiden Politikerinnen seien Bauernopfer, um das korrupte System aufrechtzuerhalten. Über die Korruption der Regierung und ihrer Partei wusste Magyar im Interview mit Partizán noch mehr zu berichten. Als Ehemann der Justizministerin war er an informellen Treffen ranghoher Politiker und Un­ternehmer beteiligt. Bei solchen Treffen werde ganz offen darüber diskutiert, welche Firma in wessen Hände gelangen solle. Daran seien auch Familienmitglieder Orbáns wie sein Schwiegersohn István Tiborcz beteiligt, aber auch Orbáns Ehefrau Anikó Lévai habe mehr Macht als gemeinhin angenommen, so Magyar.

Ganz Ungarn beschäftigt jetzt die Frage, welche Konsequenzen das alles ­haben wird. Darüber sprach die Jungle World mit Bálint Magyar, bis 2006 ­ungarischer Bildungsminister aus der ­liberalen Partei Szabad Demokraták Szövetsége (Bund freier Demokraten), derzeit Research Fellow an der Central European University in Wien und Autor des Buches »Post-Communist Mafia State: The Case of Hungary«.

Bálint Magyar sieht die Bedeutung des Interviews seines Namensvetters Péter Magyar darin, dass zum ersten Mal jemand das Orbán’sche System der Patronage verlassen und sich öffentlich dagegen gewendet habe. Dass dies normalerweise nicht passiert, hat ­Ma­gyar zufolge zwei Gründe. Zum einen sei jedes Mitglied des Regimes selbst in korrupte Machenschaften eingebunden und müsse Konsequenzen befürchten, wenn er oder sie sich gegen das Regime wendet. Zum anderen sei die Oppo­sition so schwach und unattraktiv, dass sie es nicht ­vermöge, Abtrünnige auf ihre Seite zu ziehen.

Péter Magyar hingegen hat sich zumindest nach eigener Aussage nicht an korrupten Machenschaften beteiligt. Ob das stimmt, wird sich herausstellen, aber da er kein Funktionär aus der ersten Reihe ist, ist es zumindest möglich. Zum anderen hat er angekündigt, dass er Schritt für Schritt plane, eine politische Bewegung jenseits der schwachen bestehenden Opposition aufzubauen.

Dafür, dass er es damit ernst meint, spricht, dass er nach seinem ersten Interview noch eines bei dem Nachrichtenportal Telex nachlegte und in wenigen Tagen über 100.000 Tausend Follower bei Facebook sammelte, womit er sogar Viktor Orbán überflügelt hat, der das Medium ganz wesentlich für seine politische Kommunikation nutzt. Außerdem hat Magyar für den ungarischen Nationalfeiertag am 15. März zu einer Demonstration in der Budapester Innenstadt aufgerufen. Diese Demonstration, so schätzt es Bálint Magyar ein, werde der Test sein, der zeigen werde, ob hier eine neue Bewegung entsteht. Sollte sie eine ansehnliche Größe erreichen, könnte Péter Magyar seinen Antritt zur Europawahl am 9. Juni verkünden.

Doch selbst eine große Demonstra­tion und eine spektakuläre Parteigründung würden nicht garantieren, die ­Opposition dauerhaft wiederzubeleben oder gar einen Regierungswechsel ­einzuleiten. Bewegungen, die auf der Straße begonnen haben, in Parteien umgewandelt wurden und das Regime schlussendlich doch nicht stürzen konnten, gab es bereits in der Vergangenheit.

Für alle, die auf Orbáns Abwahl hoffen, ist es zu früh für großen Optimismus.

2011 gründete sich die Bewegung Szolidaritás, die sich mit ihrem Namen auf die polnische Solidarność bezog. Sie schickte sich an, Orbán zu stürzen, doch es reichte nur für wenige Abgeordnete im Parlament. Als 2015 Lajos Simicska, der Besitzer eines Orbán na­hestehenden Medienimperiums, mit dem Ministerpräsidenten brach, unterstützte er die damals noch rechtsextreme Partei Jobbik. Aber auch diese Partnerschaft à la Hugenberg und NSDAP konnte Orbán nicht von der Macht verdrängen. Jobbik ist mittlerweile zwar weniger extrem und hat sich mit der linken Opposition verbündet, doch davon, die Macht zu ergreifen, ist sie weiter entfernt als je zuvor. 2017 entstand aus einer Bewegung gegen die Bewerbung Budapests zur Ausrichtung der Olympischen Spiele die liberale Partei Momentum, die vor allem junge Wähler ansprechen wollte. Sie ist heute im Parlament vertreten, doch weit entfernt davon, das Regime stürzen zu können.

Alle diese Versuche, Fidesz bei Wahlen zu besiegen, scheiterten daran, dass es nicht gelang, die Zersplitterung der Opposition in mehrere Parteien zu überwinden, ausreichend Nichtwähler anzusprechen und natürlich Fidesz Wählerstimmen abzujagen. Bündnisse zwischen Oppositionsparteien zu bilden, erwies sich als schwierig.

Das Wahlrecht hat Fidesz so gestaltet, dass alle Oppositionsparteien gezwungen sind, in den sogenannten Einerwahlkreisen, in denen bei Parlamentswahlen jeweils ein Abgeordneter direkt gewählt wird, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, wenn sie Aussicht auf einen Wahlerfolg gegen Fidesz haben wollen. Das sorgt nicht nur für Streit zwischen den Oppositionsparteien über die Auswahl der Kandidaten. Es führt auch dazu, dass die Opposition praktisch als eine einzige Partei wahr­genommen wird, von der die Wähler dann enttäuscht sind, wenn sie die ­Fidesz nicht stürzen kann.

Die Wähler sehen deshalb keine plausiblen politischen Alternativen. Für alle, die auf Orbáns Abwahl hoffen, ist es also zu früh für großen Optimismus. Man darf aber auf den Ausgang der Europawahl gespannt sein.