Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán trotzt der EU

Fehde gegen »Dollar-Linke«

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zeigt sich trotzig gegenüber der EU und baut den Autoritarismus im eigenen Land weiter aus.

Budapest besitzt eine reiche Kaffeekultur. Man bestellt in Ungarns Hauptstadt nicht einfach einen schnöden Standardkaffee, man wählt vielmehr zwischen den Klassikern aus der österreichisch-ungarischen Geschichte wie dem Verlängerten (hosszú kávé) oder der Melange einerseits und dem global verbreiteten italienischen Espresso oder Cappuccino andererseits. Doch dieser Tage ist eine neue ungarische Kaffeevariation entstanden, der Anti-Veto-Kaffee.

Dessen Schöpfer ist kein Geringerer als Ministerpräsident Viktor Orbán. Auf dem Brüsseler EU-Gipfel im Dezember ging Orbán Medienberichten zufolge der Abstimmung über die Einleitung des EU-Beitrittsprozesses der Ukraine und Moldaus schlichtweg aus dem Weg, indem er sich einen Kaffee holte. So war er nicht gezwungen, etwas mitzutragen, von dem er im ungarischen Rundfunk und auf Facebook regelmäßig verkündet, wie falsch er es findet. Er hat aber auch kein Veto eingelegt, ein Recht, das jedem EU-Mitgliedstaat in solchen Fragen zusteht.

Das kam für viele Beobachter überraschend. Mit einem Veto war gerechnet worden oder zumindest damit, dass Ungarn so lange nicht zustimmen werde, bis das Geld fließt, das die EU-Kommission dem Land wegen Korruptionsvorwürfen vorenthält. Nun spielt Orbán seine Nachgiebigkeit herunter und erinnert daran, dass der tatsächliche Beitritt der Ukraine zur EU damit keinesfalls besiegelt sei. Im Laufe des bevorstehenden langen Prozesses habe er noch 70 Gelegenheiten, ein Veto einzulegen.

Das fürs Erste wirksamere Veto hat Ungarn auf dem Gipfel ohnehin ausgesprochen – nämlich gegen geplante Finanzhilfen für die Ukraine. 50 Milliarden Euro sollten nachträglich in den laufenden EU-Haushalt aufgenommen und dem kriegsgebeutelten Land überwiesen werden. Hierbei machte Orbán nicht mit, so dass das Geld erst einmal nicht fließt.

Da Ungarn von der EU-Kommission Milliarden Euro wegen Korruption und fehlender Rechtsstaatlichkeit vorenthalten werden, braucht Viktor Orbán ein Druckmittel, um das Geld freizupressen.

Doch andere Wege werden bereits geplant. Die französische Regierung schlug vor, die Summe am Kapitalmarkt aufzunehmen, statt sie aus dem regulären Haushalt zu bestreiten. Außerdem besteht die Möglichkeit, statt auf der formellen EU-Ebene auf multilateraler Basis, durch Einigung zwischen den jeweils beteiligten Ländern, Geld bereitzustellen. Ein demnächst stattfindender EU-Sondergipfel soll die Entscheidung bringen, so dass kaum ein Staats- oder Regierungschef damit rechnet, dass die Ukraine leer ausgehen müsste. Selbst Orbán schränkte bei seiner Ablehnung der Hilfszahlungen ein, dass er sie lediglich nicht aus dem EU-Haushalt entnommen wissen möchte.

Orbáns Haltung hat strategische und innenpolitische Gründe. Da Ungarn von der EU-Kommission Milliarden Euro wegen Korruption und fehlender Rechtsstaatlichkeit vorenthalten werden, braucht Orbán ein Druckmittel, um das Geld freizupressen. Auf dieses ist er dringend angewiesen, um die vielen Günstlinge mit öffentlichen Aufträgen versorgen zu können, die sein System am Leben erhalten. Diese Gelder spielen geradezu eine Schlüsselrolle in Orbáns »postkommunistischem Mafia-Staat« (Bálint Magyar).
Zudem geriert sich Ungarn als Russlands bester Freund in der EU. Orbán ist der einzige Regierungschef in der Union, der sich seit dem Kriegsausbruch persönlich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen hat. Und er hat wiederholt verdeutlicht, dass Ungarn zwischen Deutschland, der Türkei und Russland eine Schaukelpolitik betreiben müsse, denn diese Staaten seien, mit Blick auf die Geschichte, als Großmächte der Region zu betrachten.

Hinzu kommt eine doppelte Abhängigkeit des Lands von russischer Energie. Etwa 60 Prozent der ungarischen Haushalte haben im letzten Winter vor Russlands Invasion der Ukraine noch mit Gas geheizt. Ein Jahr später waren es zehn Prozentpunkte weniger, doch noch immer liegen Gasheizungen an erster Stelle. Die Sanktionen der EU gegen russisches Gas haben auch in Ungarn die Inflation befeuert. Die Abhängigkeit von Russland verstärkt außerdem, dass das ungarische Atomkraftwerk Paks mit russischer Technik erneuert wird. Nicht zuletzt ist Putins Russland ideologisch der große Bruder von Orbáns Ungarn. Hier wie dort wird der Staat immer illiberaler, mit systematischer Diskriminierung von LGBT und dem Abbau von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit.

Einen weiteren Schritt in Richtung Illiberalismus ging die ungarische Regierung nun mit dem sogenannten Souveränitätsgesetz. Dieses am 12. Dezember im Parlament beschlossene Gesetz sieht eine bis zu dreijährige Gefängnisstrafe vor, wenn man an der Verletzung der ungarischen Souveränität beteiligt ist. Das Auffinden dieser Verstöße obliegt einer neuen »Behörde zum Schutz der Souveränität«, die im Februar ihre Arbeit aufnehmen soll. Wie so oft bei ähnlichen Gesetzen, die das Fidesz-Regime absichern sollen, ist unklar, was alles als Verstoß gegen das Gesetz gelten wird. Klar ist, dass Parteien und andere Wahlvereinigungen keine Spenden mehr aus dem Ausland annehmen dürfen.

Die Souveränitätsbehörde kann Daten sammeln und damit Menschen davon abschrecken, kritischen Journalisten Insiderinformationen aus Politik, Unternehmen und Behörden zu geben. So kann die Fidesz’sche Korruption ungestörter ablaufen.

Ob das Gesetz auch auf die Medien angewandt wird, haben Regierungspolitiker widersprüchlich kommentiert. Judit Varga, bis Ende Juli 2023 Justizministerin und nun Abgeordnete von Fidesz, bejahte dies, der Fraktionsvorsitzende Máté Kocsis dagegen verneinte. Die Befürchtungen, das neue Gesetz könnte praktisch jeden im Land mundtot machen, sind groß. Die neue Behörde kann, wie die Polizei, jederzeit Informationen über alle Bürger sammeln. Was, neben der Annahme von Spenden aus dem Ausland, alles eine Verletzung der Souveränität ausmachen könnte, ist im Gesetz schwammig formuliert.

Kocsis sieht Ungarns Souveränität auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet durch die EU gefährdet, unter anderem in Form von »Genderideologie« und Migration. Das Online-Medium Telex.hu berichtet, Kocsis zufolge sei es das erklärte Ziel, der »Dollar-Linken« und den »Dollar-Journalisten« In die Suppe zu spucken. Als »Dollar-Linke« und »Dollar-Journalisten« diffamiert das Fidesz-Regime kritische Politiker und Journalisten, denen es vorwirft, vom Ausland finanziert und gesteuert zu werden.

Dass Journalisten tatsächlich ins Gefängnis geworfen werden, ist eher nicht zu befürchten. Die Souveränitätsbehörde kann aber deren Daten sammeln und damit Menschen davon abschrecken, kritischen Journalisten Insiderinformationen aus Politik, Unternehmen und Behörden zu geben. So kann die Fidesz’sche Korruption ungestörter ablaufen. Außerdem soll in Zukunft jährlich ein Bericht veröffentlicht werden, der die vermeintlichen Souveränitätsgefährder in allen gesellschaftlichen Bereichen benennt – Vergleiche zur russischen Liste feindlicher Agenten, als welche russische NGOs gebrandmarkt werden, drängen sich auf. Dass Orbán trotz seiner erdrückenden Mehrheit im ungarischen Parlament zu solchen Mitteln greift, um die Opposition zu schwächen, wirkt gänzlich unsouverän.