14.12.2023
Vor 62 Jahren endete der Eichmann-Prozess mit dem Todesurteil gegen den Angeklagten

Der Vollstreckungsbeamte

Vor 60 Jahren erschien Hannah Arendts Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Buchform. Ihre Darstellung der »Banalität des Bösen« prägte lange Zeit das Bild der großen Nazi-Täter – trotz mehrerer Irrtümer.

Als Hannah Arendt am 9. April 1961 nach Jerusalem flog, um für die Zeitschrift The New Yorker über das Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann zu berichten, hatte sie wie viele andere erwartet, auf der Anklagebank einen großen teuflischen Charakter vorzufinden. Stattdessen sah sie nach eigenen Worten einen »Hanswurst«. Ihr Bericht, 1963 als Buch unter dem Titel »Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil« erschienen, wurde ein Bestseller und löste in der westlichen Welt intensive Debatten aus.
Der Gerichtsprozess hatte der Öffentlichkeit erstmals Gelegenheit geboten, umfassend Einblick in die Weltsicht und die Psyche eines der wichtigsten Nazi-Täter zu erhalten. Arendts Deutung, wonach böses Verhalten völlig banale Ursachen haben kann, prägte für lange Zeit die Sicht auf die Täterschaft im Nationalsozialismus. Was Eichmann zu einem »der größten Verbrecher« werden ließ, meinte sie, sei »schiere Gedankenlosigkeit« gewesen. Er habe »keine Motive« gehabt. Er habe sich nur, wie sie betonte, »niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte«.

Obwohl er innerhalb der Schutzstaffel (SS) nur den Rang eines Obersturmbannführers innehatte, war Adolf Eichmann im Reichssicherheitshauptamt in Berlin für die Organisation und Durchführung der Deportationen und der Vernichtung der Jüdinnen und Juden zuständig. Vielleicht hat er nicht gelogen, als er vor Gericht aussagte, ihm sei übel geworden, als er im Todeslager in der polnischen Kleinstadt Chełmno, von den Nazis Kulmhof genannt, bei der Ermordung mit Gas zusah. Eichmann war ein Schreibtischtäter. Nachdem er 1946 aus einem Kriegsgefangenenlager hatte entkommen können, lebte er bis 1950 unerkannt in der Lüneburger Heide. Dann floh er, mit Unterstützung von österreichischen katholischen Klerikern, nach Argentinien, wo ihn 1960 Agenten des Mossad gefangen nahmen und nach Israel brachten.

»Erste öffentliche Diskussion von Intellektuellen und Wissenschaftlern« über die »adäquate Rezeption« der Shoah

In dem Prozess drohte ihm die Todesstrafe – die er am Ende auch erhielt. Das Gericht bemühte sich um eine ausführliche Beweisführung. Anders als bei den Nürnberger Prozessen von 1945 wurden in Jerusalem viele Überlebende der Shoah angehört. Ein nicht unwesentlicher Teil von ihnen sprach zum ersten Mal öffentlich über das, was sie hatten durchmachen müssen. Mit dem Prozess und Arendts Bericht begann, wie Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, in ihrer Studie »Gericht und Gedächtnis« schreibt, die »erste öffentliche Diskussion von Intellektuellen und Wissenschaftlern« über die »adäquate Rezeption« der Shoah.

Wer unglaublich Böses tut, müsse selbst nicht unglaublich böse sein – dies war Arendts »Lektion«, die sie in Jerusalem lernte

Arendt beschrieb eigentlich nur einen Menschen. Aber sie warf in »Eichmann in Jerusalem« auch die Frage auf, wie »es um das Gewissen in Deutschland« stand. Ihre Deutung lange Zeit wurde so verstanden, als wäre Eichmann der prototypische Nazi-Täter. Vor Gericht erlebte Arendt einen Menschen, der jeden denkbaren Befehl mit ähnlichem vorauseilendem Eifer ausgeführt hätte, wenn es nur seiner Karriere nutzte. Sein Unvermögen, sich in andere hineinzuversetzen oder das eigene Verhalten »vom Gesichtspunkt des anderen« aus zu betrachten, nahm groteske Züge an, beispielsweise wenn er sich beim Verhör in Israel gegenüber einem Polizeihauptkommissar beklagte, in der SS nicht weiter aufgestiegen zu sein. Arendt glaubte Eichmann, dass er »persönlich« kein Antisemit gewesen sei.

Wer unglaublich Böses tut, müsse selbst nicht unglaublich böse sein – dies war ihre »Lektion«, die sie in Jerusalem lernte, aber »weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie« über die Motive der SS-Täter, wie sie in der Vorrede zu ihrem Buch betonte. Das stellte die bisherigen Annahmen der promovierten Philosophin und in den USA lehrenden Politologin Arendt über Gut und Böse grundlegend in Frage.

Warum Arendts Gerichtsreportage auf Ablehnung stieß

Aus zwei Gründen stieß Arendts Gerichtsreportage auf Ablehnung. Manche warfen ihr vor, ihre Darstellung banalisiere auch das Verbrechen selbst. Diesen Einwand könnte man als Missverständnis abtun – wenn Arendt nicht auf polemische Weise die Rolle der von den Nazis eingesetzten »Judenräte« problematisiert hätte. Dass diese Räte gezwungenermaßen bei der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden mitwirkten, lässt sich nicht bestreiten. Aber in der Originalausgabe bezeichnete sie Leo Baeck, den ehema­ligen Oberrabbiner Berlins, als »Jewish Führer« und stellte ihn damit auf eine Ebene mit den Nazis.

Arendts langjähriger Freund Gershom Scholem, der schon 1923 aus Berlin ins britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert war, warf ihr nach der Lektüre ihres Buchs vor, es mangle ihr an »Liebe zu den Juden«. »Der Gebrauch des Nazibegriffes auf deutsch in diesem Zusammenhang«, so Scholem 1963 in seinem Brief aus Jerusalem weiter, sei »vielsagend – Sie sagen nicht etwa Jewish leader ohne Anführungsstriche, was sinnvoll und ohne hämischen Beigeschmack gewesen wäre –, Sie sagen gerade das, was am falschesten und am beleidigendsten ist.« Arendt antwortete gekränkt, Scholem sei wie viele beeinflusst von einer »Kampagne«. Ihre Freundschaft endete.

In seinem Buch »Hitlers Bürokraten« schreibt der israelische Historiker Yaacov Lozowick, bis 2007 Archivleiter von Yad Vashem, Arendt habe außer Acht gelassen, dass sie Eichmann nicht während seiner Taten, sondern nur durch seine Selbstdarstellung vor Gericht kennengelernt habe – wo viele Schwerverbrecher sich anders geben, als sie sind.

Lozowick hat Eichmanns Biographie erforscht und kommt zu dem Schluss, dass der Organisator der Vernichtung ein besessener Judenhasser war. Im November 1937 habe er im Kreis der SS einen Vortrag über das »Weltjudentum« gehalten. Sein Schaubild über dessen weltweite Verbindungen war, wie Lozowick schreibt, »von einem unglaublichen Gewirr an Verbindungslinien überzogen«. Diese Kompliziertheit sei, so Eichmann, »ein jüdischer Kniff«, damit ihnen niemand auf die Schliche komme.

Für die Jerusalemer Philosophieprofessoren Avishai Margalit und Gabriel Motzkin ist Hannah Arendt an ihren philosophischen Vorannahmen gescheitert. Seit Immanuel Kant geht eine Hauptströmung der Moralphilosophie davon aus, dass die menschliche Vernunft uns sagt, was gut ist und was nicht. Dieser Gewissensinstanz, so Arendt, habe Eichmann das Gehör verweigern müssen. Diese Grundannahme stellen Margalit und Motzkin in dem Sammelband »Hannah Arendt Revisited« in Frage. Es gebe, schrei­ben sie, »keinen Grund anzunehmen, dass Eichmann anders gehandelt haben würde, wenn er einen inneren Dialog geführt hätte. (…) Die Annahme Kants, die Resultate des moralischen inneren Dialogs einer Person würden sich auch in ihren Handlungen niederschlagen, bleibt unbewiesen.«

Arendt machte einer größeren Öffentlichkeit klar, dass die Shoah ein Zivilisationsbruch war

Auch vor dem Hintergrund von Arendts eigenem Werk ist es erstaunlich, dass sie gerade bei einem führenden Nazi keinen Antisemitismus erkannte. In ihrer großen Studie »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (1951) war der modernen Judenfeindschaft einer der drei Teile gewidmet. Denn der Antisemitismus gehöre wie der Imperialismus zur »Vorgeschichte totaler Herrschaft«. Noch bevor in Deutschland die Kritische Theorie breiter rezipiert wurde, machte Arendt einer größeren Öffentlichkeit klar, dass die Shoah ein Zivilisationsbruch war.

Hannah Arendts Prozessbericht ist der Beginn der Versuche, sich Täterschaft in der Shoah zu erklären.

In »Eichmann in Jerusalem« schrieb sie von der »Totalität des moralischen Zusammenbruchs«. Im Gespräch mit Günter Gaus im Zweiten Deutschen Fernsehen sagte sie 1964, bei bisherigen Verbrechen in der Menschheitsgeschichte habe man noch glauben können, dass sie »irgendwie noch einmal gutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gutgemacht werden können muss. Dies nicht.« Mit der Shoah sei etwas passiert, »womit wir alle nicht fertig werden«.

Hat sich im Fall Eichmann also eine große Denkerin groß geirrt, und ist ihr Bericht »Eichmann in Jerusalem« lediglich das historische Dokument eines wirkmächtigen Irrtums? Arendts Prozessbericht ist zugleich der Beginn der Versuche, sich Täterschaft in der Shoah zu erklären. Das ist ein diffiziles Unterfangen geblieben. In »Ganz nor­male Männer« (1992), einer Studie über Polizisten, die in Polen Massenerschießungen durchführten, greift Christopher Browning ebenfalls auf eine sozialpsychologische Erklärung – das Milgram-Experiment – zurück. Erst mit Daniel Jonah Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker« kam 1996 in der historischen Erforschung der Tätermotive die Frage auf, welche Rolle der Judenhass dabei spielte.

Das Problem liegt tiefer. Hannah Arendt hat stets betont, dass sich mit der Shoah etwas Unvorstellbares ereignet hat. Um aber aus Auschwitz Lehren zu ziehen, die auch auf andere Gesellschaftsformen anwendbar sein sollten, musste sie das Unvorstellbare wieder einreihen in eine allgemeinere Geschichte von staatlicher Gewalt, totaler Herrschaft und juristischer Aufarbeitung. Es ist bei alldem nicht ausgeschlossen, dass Menschen auf die von ihr beschriebene »banale« Weise »böse« sein können – auch wenn sich Arendt in der Person Adolf Eichmann geirrt hat.