Zweiter Teil eines Gesprächs mit Gabriel Bach, der 1961 einer von drei Anklägern im Prozess gegen Adolf Eichmann war

»Wir waren auf einem anderen Planeten«

Zweiter Teil eines Gesprächs mit Gabriel Bach, der 1961 Ankläger im Prozess gegen Adolf Eichmann war. Über den Humanismus deutscher Ingenieure, über Kidnapping und das Strafrecht, über einen kleinen Jungen mit Krawatte, über Kinder, die aus der Gaskammer geholt wurden, um Kartoffelsäcke zu tragen, und Eichmanns Hoffnung, lachend ins Grab springen zu können. Das Gespräch, dessen erster Teil in der vorigen Ausgabe zu lesen war, führte

Sie mussten sich damit auseinandersetzen, dass die Deutschen bewusst die Vernichtung von Menschen betrieben haben.
Eine andere Sache: Ihr wisst, dass es diese Gas-Autos gab, bevor es die Gaskammern gab in den Todeslagern. Das waren Lastkraftwagen. Man hat die jüdischen Familien, Männer, Frauen, Kinder, hinten in die Lastkraftwagen geladen. Und der Auspuff ging nach innen statt nach draußen. Dann ist man 30, 40 Kilometer gefahren und die Leute sind langsam erstickt. Dann hat man die Leichen dort in ein Massengrab geworfen. Eines Tages, das hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, gab es einen Ingenieur, der seinem Vorgesetzten geschrieben hat, wie diese Lastwagen funktionieren. Dann hat er noch etwas hinzugefügt: Ich möchte noch etwas vorschlagen. Ich glaube, aus humanitären Gründen müssen wir etwas tun, um unsere armen SS-Chauffeure davor zu bewahren, dass sie diese Schreie hören müssen von hinten, die dann immer leiser werden. Und deshalb habe ich eine schalldichte Wand erfunden, die man so anbringen kann zwischen dem Chauffeur der SS und diesem hinteren Teil, sodass unsere armen Chauffeure das nicht mehr mitanhören müssen.
Als ich das zuerst las, »aus humanitären Gründen«, da dachte ich, er wolle irgendetwas vorschlagen für diese armen Menschen hinten. Aber nein: Humanitäre Gründe für die SS-Chauffeure. Diese Art von Dokumenten hat mich manchmal noch mehr erschüttert als die Beschreibungen, die sich oft wiederholt haben. Auch das hat einen mitgenommen, besonders, wenn es sich um Kinder gehandelt hat.
Wir hatten während der Voruntersuchungen auch Dokumente, aus denen hervorgeht, dass es immer wieder mal einen Versuch gab, bei irgendeiner jüdischen Familie oder einer Persönlichkeit eine Ausnahme zu machen. Und das wurde bei Eichmann vorgebracht. Die ­Polizisten brachten mir dann solche Eingaben, die bei Eichmann eingereicht wurden. Aber es kam immer alles chronologisch. Es waren hunderte, tausende Dokumente dazwischen. Das war dann simultan aus Frankreich, aus Holland, aus der Slowakei … das waren Versuche, irgendjemanden zu retten. Da hatte ich nachts geträumt, dass mal irgendeiner, irgendeine Familie gerettet worden ist. Aber wenn ich dann die Antworten von Eichmann vorgelegt bekam, das endete immer fatal, ohne jede Ausnah­me!
Der Polizeioffizier, der für Frankreich zuständig war, brachte mir einmal eine Depesche, von einem deutschen General der Wehrmacht, dem Kommandanten von Paris. Der schrieb an Eichmann: Es gibt einen jüdischen Professor Weiß, ein Experte für Radar. Der hat einige Entdeckungen gemacht und einige Patente über Radarinstrumente. Das ist von besonderer Bedeutung für die deutsche Wehrmacht, schrieb dieser General, wir wollen diesen Mann verhören und das mit unseren Untersuchungen vergleichen. Und deswegen verlangte der General, dass dieser Jude Weiß und seine Frau nicht in den Osten deportiert werden. Das sei wichtig.
Da habe ich bei mir gedacht, mitten im Krieg, eine jüdische Persönlichkeit, ein Radarexperte, über den ein General der Wehrmacht schreibt, dass man ihn gebrauchen kann, da kann Eichmann doch gar nicht anders als bei dem eine Ausnahme zu machen.
Nach ein paar Tagen dann die Antwort von Eichmann: Aus prinzipiellen Erwägungen kann ich unmöglich einwilligen. Wieder ein paar Tage später eine Notiz, aus der hervorgeht, dass der deutsche General bei Eichmann angerufen hat: Wie können Sie es wagen, meiner Forderung nicht nachzugeben! Ich bin General der Wehrmacht. Die Antwort von Eichmann: Und ich bin Obersturmbannführer der SS, und es interessiert mich nicht, was der Jude über Radar weiß. Wieder ein paar Tage später ein Brief von Eichmann an den General: Ich habe diese Sache noch weiter untersucht und festgestellt, dass die deutsche Armee die Patente von diesem Juden Weiß schon übernommen hat. Deswegen sehe ich keinen Grund, die Deportation von diesem Juden Weiß auch nur einen Tag weiter zu verschieben. Daneben die Notiz, dass es ausgeführt wurde. Im Prozess unterstand mir die Beweisvorlage zu Frankreich, da habe ich diese Dokumente beim Gericht eingereicht.
Zwei Tage danach kam eine Sekretärin zu mir und hat gesagt, es sei ein junges Mädchen draußen, das mich sprechen möchte, Anita Weiß. Ich sagte: Kenne ich nicht, aber gut, bringen Sie sie rein. Da kam sie und sagte: Ich bin die Tochter von diesem Professor Weiß. Ich war ein Baby, als man meine Eltern abgeholt hat. Meine Eltern haben anscheinend gesehen, dass die SS kam, um sie abzuholen, da hat man mich zu Nachbarn geschickt. Die haben mich aufgenommen und mich nach Amerika geschickt. Jetzt habe ich gelesen, dass Sie diese Dokumente über meine Eltern eingereicht haben. Aber ich habe meine Eltern nicht nur nicht gekannt, ich habe auch kein Bild von ihnen, das zeigt, wie sie ausgesehen haben könnten. Könnten Sie mir einen Ratschlag geben, wie ich ein Bild von meinen Eltern bekommen könnte, die dann nachher in Auschwitz umgebracht wurden?
Einige Tage später kam eine andere Geschichte aus Holland – das war alles simultan in verschiedenen Ländern –, da kam der Mann, der für Holland zuständig war, und brachte mir einen Brief von dem Vorsitzenden der faschistischen Partei. Da gab es eine faschistische Partei in Holland, und dieser Mann schrieb an Eichmann: Es gibt zwölf Juden, die gehören der faschistischen Partei Hollands an. Es gab solche Typen, warum auch immer, sie waren da. Der Vorsitzende der faschistischen Partei hat verlangt, dass man diese zwölf Juden, die er mit Namen und Adresse anführte, nicht deportiert. Denn das könne demoralisierend wirken auf alle Mitglieder der Partei, das seien loyale Mitglieder der Partei. Deswegen verlangte er, dass diese Leute nicht deportiert werden. Um es noch attraktiver zu machen für Eichmann, schlug er vor, sie könnten ja eventuell Spitzeltätigkeiten in der Jüdischen Gemeinde durchführen. Das könne dabei helfen, alle Juden zu erfassen, wenn diese Leute der faschistischen Partei dort Ausschau hielten.
Wieder habe ich gedacht: Also da wird Eichmann doch wahrscheinlich einwilligen. Die Antwort von Eichmann war aber wieder: Aus prinzipiellen Gründen kann ich unmöglich einwilligen. Wenn es, schrieb er noch, demoralisierend wirken könnte, wenn die Leute heute deportiert werden würden, dann warten wir vielleicht drei, vier Wochen. Bis dahin werden sich alle so an die Deportationen gewöhnt haben, dass es keinen besonderen Eindruck mehr machen wird auf irgendjemanden. Aber er bestehe darauf, dass die zwölf Leute auch deportiert werden, sagte Eichmann.
Es gibt noch ein Beispiel, das ich unmöglich verstehen konnte. Da hat sich der italienische Konsul in Estland an Eichmann gewandt, genauer gesagt an die Abteilung der SS, zu der Eichmann gehörte: Da gibt es eine Frau, eine italienische Jüdin, deren Eltern in Estland wohnen. Die hat ihre Eltern besucht und ist dort gefasst worden. Man will sie deportieren. Da schrieb dieser Konsul: Diese Frau ist die Witwe eines hohen Offiziers der italienischen Armee, der gefallen ist. Er ist nicht nur gefallen, er ist für seine ungeheure Tapferkeit ausgezeichnet worden, in den Kämpfen dieses Krieges. Der ist gefallen, aber ganz Italien spricht von ihm. Von seiner Tapferkeit, von seinem Heldenmut, wie phantastisch er da gekämpft hat. Deshalb verlangte dieser Konsul im Namen der italienischen Behörden, dass man dieser Frau, der Witwe, die Möglichkeit gibt, nach Italien zurückzufahren. Italien, das waren ja die Alliierten von Deutschland – und dieser Offizier hatte auf der deutschen Seite gekämpft. Aber auch hier lautete Eichmanns Antwort: Aus prinzipiellen Erwägungen ausgeschlossen. Eichmanns Abteilung hat das dann genau verfolgt und dafür gesorgt, dass diese Frau auch in ein Lager gekommen ist und dort zu Tode gebracht wurde. Solche Dokumente gab es viele damals in der Voruntersuchung, so etwas macht man da durch, es ist traumatisch.
Haben Sie sich mit der Strategie der deutschen Verteidiger Eichmanns auseinandergesetzt?
Ich überlegte, was die wirklichen Verteidigungsargumente sind, und tatsächlich haben Eichmanns Verteidiger diese Punkte später vorgebracht: Zuerst war da das Anti-Nazi-Gesetz, nach dem Eichmann angeklagt war, das war von 1950. Der Verteidiger würde bestimmt bemängeln, das sei ein rückwirkendes Gesetz, also eine rückwirkende Bestrafung. Das wurde auch schon in den Nürnberger Prozessen vorgebracht. Man braucht kein Jurist zu sein, um zu sehen, dass das keine Sache eines Gesetzes ist, sondern der Gerechtigkeit.
Sehen Sie, wenn Sie heute etwas tun, was absolut legal ist, und später macht man dagegen ein rückwirkendes Gesetz, dazu sogar noch mit Todesstrafe, dann sieht das so aus wie etwas, das nicht gerecht ist. Aber das passt hierzu nicht. Als wir geschrieben haben, die Tötung von unschuldigen Menschen, von unschuldigen Juden sei verboten, da haben wir keine neue Norm geschaffen. Das war bereits nach deutschen Gesetzen verboten. Damals haben die Nazis so ein Vakuum geschaffen: Für den Mord an einem Juden kommt man nicht vors Gericht. Wenn man von Gerechtigkeit spricht, war es gerade hier eine Pflicht, ein Forum zu schaffen, um Leute vor Gericht zu stellen für Sachen, die absolut illegal waren. Das Argument des Rückwirkungsverbotes wurde deshalb verworfen, auch in allen europäischen Ländern.
Viele Rechtsgelehrte in Europa haben etwas anderes vorgebracht, auch an Universitäten: ­Israel ist der Staat des jüdischen Volkes, und Juden sind die Opfer von diesen Machenschaften. Gerechtigkeit muss nicht nur praktiziert werden, sie muss auch als solche erscheinen. Dass hier ein Gericht, das diese Opfer vertritt, jemanden aburteilt, der etwas gegen diese Menschen, die zu Opfern wurden, getan hat, sieht aus wie etwas, das nicht gerecht ist. Auch da ist juristisch nichts dran. Die ganze Idee des Strafrechts hat sich daraus entwickelt, dass anstelle der persönlichen Rache für einen Mord an einem Familienangehörigen oder einen Einbruch ein Gericht tritt, das die Gesellschaft vertritt. Da wurde eingewandt: Ja, aber hier in Israel sind doch starke Emotionen im Spiel. Aber es geht hier um internationale Vergehen, die überall vor Gericht belangt werden können. Und irgendein Richter in einem Land, der solche Aussagen hören kann, ohne Emotionen zu spüren, der ist nicht wert, Richter zu sein. Doch er muss hier natürlich objektiv sein. Er muss dem Angeklagten jede Möglichkeit geben, sich zu verteidigen. Niemand hat behauptet, dass das israelische Gericht dies nicht getan hat. Aber die Tatsache, dass Leute Gefühle haben, wenn sie hören, was da vorgefallen ist, ist nicht zu be­anstanden.
Nicht vergessen werde ich in diesem Zusammenhang: Da kam auch ein Professor von einer Universität, der mich in der Staatsanwaltschaft besucht hat. Er kam aus einem europäischen Staat, ich weiß nicht mehr, aus welchem, ich glaube, vom Balkan. Der bat mich darum, die Anklageschrift einsehen zu dürfen: Er sah dort dann, dass wir Eichmann nicht nur wegen der Verfolgung und Tötung von Juden angeklagt haben, sondern auch wegen der Tötung von Zigeunern, der Tötung von russischen Kommissaren, gewissen Tschechen, Polen, wo seine Abteilung die Morde zu verantworten hatte. Da fragte der Professor mich: »Warum haben Sie ihn deswegen angeklagt, warum haben Sie das nicht einem tschechischen, einem russischen, einem polnischen Gericht überlassen?« Ich erwiderte: »Vor nicht einmal fünf Minuten haben Sie mir vorgehalten, dass ein Gericht, das eine Gesellschaft von Opfern vertritt, nicht das Recht hat, jemanden abzuurteilen. Sie haben anscheinend kein Problem mit einem russischen, tschechischen oder polnischen Gericht. Aber wenn es sich um das Gericht eines jüdischen Staates handelt, da haben Sie auf einmal Bedenken.« Der Mann hatte die Anständigkeit zu erröten, und er sagte: »Ich weiß wirklich nicht, wieso ich diesen Unterschied gemacht habe, ich werde es mir überlegen, ich werde mich wieder mit Ihnen in Verbindung setzen.« Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.
Dann begann der Prozess?
Den ersten Moment dieses Prozesses werde ich nie vergessen. Als die israelischen Richter in den Saal kamen, mit dem hebräischen Wappen hinter sich, und wie dieser Mann, Eichmann, dessen ganzes Bestreben darin bestand, dieses Volk zu vernichten, wie der aufstand und Haltung annahm. Vor einem souveränen hebräischen Gericht eines souveränen israelischen Staates. Ich muss gestehen, in diesem Moment war mir die Bedeutung der Existenz des isra­elischen Staates klarer als in irgendeinem Moment, der diesem vorangegangen war. Und dieses Gefühl hatte man damals überall.
Dann gab es den Vorbehalt des Kidnapping – dass Eichmann damals nach israelischem Recht in Argentinien gekidnappt worden war. Dazu hatte ich vor dem Prozess eine Untersuchung gemacht.
Über den Umgang damit, gerade in den Ländern, in denen die Demokratie am meisten fortgeschritten war, wo die demokratischen Prozeduren am weitesten entwickelt waren, in Amerika oder England. Da wollte ich sehen, wie dort die Einstellung ist. In Amerika kommt es sehr oft vor, dass jemand in einem bestimmten Staat ein Vergehen begeht und dann in einen anderen Staat flieht. Die Polizei des einen Bundesstaates verfolgt denjenigen dann und bringt ihn zurück – auf illegale Weise – in den Staat, wo man ihn vor Gericht stellen will. Da kam es vor, dass die Verhafteten dagegen geklagt haben: Ich bin auf illegale Art und Weise hierher verschleppt worden – deswegen habt ihr nicht das Recht, mich anzuklagen. Das ging einige Male bis zum obersten amerikanischen Gericht. Und da wurde entschieden: Diejenigen, die sich der Verschleppung schuldig gemacht haben, können dafür ebenfalls vor Gericht kommen. Aber das beeinflusst nicht das Recht, den Verhafteten vor Gericht zu bringen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wenn ein Gericht berechtigt ist, etwas zu verhandeln, dann ist die Tatsache, dass man den Angeklagten auf illegale Weise vor das Gericht gebracht hat, nicht entscheidend. So ist die Rechtslage in den USA. Dasselbe gilt in England. Da gab es während des Krieges einen großen Prozess. Einen Deserteur, der in Belgien gefasst worden war, hatte man auf illegale Weise nach England gebracht. Der hat vor Gericht auch vorgebracht, dass man ihn deswegen nicht rechtmäßig anklagen kann. Das ist verworfen worden.
Da habe ich damals auch das Beispiel gebracht: Wenn heute jemand in der Türkei gefasst wird und es besteht der Verdacht, dass er Hochverrat gegen England begangen hat, dann wird ihn kein türkisches Gericht anklagen. Aber wenn ein englisches Gericht seiner habhaft werden kann, dann wird es dies tun. Wir hatten diese ganzen Punkte bedacht. Aber das entscheidende Argument, die Hauptverteidigung, wenn es um eine mögliche Verringerung des Strafmaßes ging, würde wohl sein, dass Eichmann nur ein Befehlsempfänger war. Und deshalb war es wichtig, Beweise zu haben, um zeigen zu können, wie besessen er war, wie er sich absolut mit der Ideologie identifizierte. Und wie er Entscheidungen von Hitler hintergangen hat, um noch mehr Juden umzubringen. Bis zum Schluss. Der SS-Hauptsturmführer Dieter Wisliceny hat in Nürnberg ausgesagt, dass Eichmann ihm gesagt habe: »Wenn ich eines Tage sterbe, werde ich lachend in mein Grab springen, in dem Bewusstsein, ich habe vier bis fünf Millionen Juden umgebracht.«
Da war für mich nur entscheidend, dass das israelische Gericht objektiv zeigen konnte, was geschehen war. Ich verdiene keine besondere Anerkennung dafür, aber ich habe das in jeder Strafsache so gemacht: Während wir die Millionen Dokumente durchgegangen sind, habe ich auch oft Dokumente gesehen, auch was die Verfolgung betrifft, bei denen ich dachte, das könnte für die Verteidigung interessant sein. Etwa über Leute, die bestraft wurden, weil sie Befehle nicht befolgt hatten, SS-ler, die einen Eid geleistet hatten, und die Verpflichtung dieses Eides war, alle Befehle zu befolgen. Diese Sachen habe ich an den Verteidiger geschickt, an den Doktor Servatius, weil ich dachte, das könnte ihn vielleicht interessieren. Doktor Servatius hat mir später erzählt, er habe diese Dokumente Eichmann gezeigt. Und Eichmann habe ihn gefragt, wo er denn diese Dokumente her habe. Da habe er gesagt, der Staatsanwalt habe ihm das gegeben, und da sei Eichmann fast ohnmächtig geworden: »Was, der höchste israelische Staatsanwalt hat Ihnen Dokumente gegeben, die uns vielleicht helfen könnten?«
Wie gesagt, das habe ich in jedem Prozess so gemacht, und hier habe ich es auch nicht anders gemacht. Die Verteidiger waren beide auch ganz besondere Persönlichkeiten: Servatius war einer der führenden Verteidiger in den Nürnberger Prozessen gewesen, und der andere, Dieter Weschenburg, der war auch hervorragend. Der lebt heute noch, der Servatius nicht mehr. Wir hatten eine gute, direkte Verbindung zueinander.
Wie waren die Richter?
Die Richter waren ungeheuer scharf: Wenn irgendwo ein Punkt war, wo sie dachten, das hat mit Eichmann vielleicht nichts zu tun, dann haben sie uns, die Staatsanwaltschaft, sofort da­ran gehindert, das vorzubringen.
Wir wussten aber, da im Saal sitzen Hunderte von Journalisten. Wir wollten, dass die Journalisten aus der ganzen Welt die Hauptpunkte mitbekommen. Ich habe viele Dokumente über antisemitische Ausschreitungen eingereicht, Gesetze oder Vorschläge. Darunter eines, das von besonderer Bedeutung war. Ich wollte die Paragraphen vorlesen, die uns interessieren. Da haben mich die Richter sofort unterbrochen: »Herr Bach, Sie brauchen das nicht vorzulesen, wir werden es schon lesen.« Aber ich wollte, dass es gehört wird im Radio, dass es gezeigt wird im Fernsehen. Das habe ich auch geschafft, indem ich sagte: »Es ist wichtig, hier vorzutragen, welche Paragraphen für uns von Bedeutung sind. Die Paragraphen, die wichtig sind, da bestehe ich darauf, Ihnen die vorzulesen.« Da haben sie dann eingewilligt.
Wie waren die Auftritte der Zeugen?
Ich wollte ja einen lebendigen Zeugen für jedes Land. Und für Frankreich hatte ich einen Professor, der ein Buch über Drancy geschrieben hatte. Drancy war ein Lager, in das man die Kinder gebracht hat, deren Eltern schon deportiert waren. Die jüdischen Kinder aus den französischen Familien, die hat man dort hingebracht. Er beschrieb in dem Buch, wie die Eltern den Kindern Schilder, auf denen ihre Namen standen, um den Hals gehängt hatten, damit sie wussten, wer sie sind. Die Kinder haben die Schilder dann manchmal im Spiel untereinander ausgetauscht.
Er beschrieb auch, wie die Kinder geweint haben, wenn sie unglücklich oder krank waren. Da hatte ich diesen Zeugen, der dies beschrieb, und ich fragte ihn: »Wer war Jacques Stern?« Da unterbrachen mich die Richter sofort: »Herr Bach, hat das wirklich mit Eichmann zu tun? Wenn nicht, erlauben wir das nicht.« Ich erklärte: »Geben Sie mir eine Chance, ich werde Ihnen die Verbindung zeigen.« Dann erzählte der Zeuge von diesem einen Jungen, der besonders aristokratisch aussah und der nur einen Schuh hatte. Den anderen hatte er auf dem Weg verloren. Aber er trug eine Krawatte, der kleine Junge im Anzug. Er beteiligte sich nicht an den Spielen, er hat nicht gelacht und nicht geweint. Er saß so dabei. Der Zeuge erzählte, dass er den Jungen gefragt habe, woher er sei, da kam heraus, dass sein Vater ein führender Anwalt und seine Mutter eine bekannte Pianistin war. Er beschrieb, wie er neben dem Kind geschlafen hat da im Lager. Der Junge hatte immer eine geballte Faust, die er nie aufmachte. Da fragte er ihn: »Was hast du da in deiner Faust?« Der Junge hat die Hand geöffnet, da lag ein halber Keks drin. Er sagte, den hebe ich auf für meine Mutti, wenn ich sie sehe. Da fing er das erste Mal an zu weinen. Er wusste ja, dass seine Eltern nicht mehr sind. Aber er dachte sich, solange ich diesen halben Keks habe, gibt es eine Hoffnung, sie vielleicht eines Tages doch wiederzusehen.
Am nächsten Tag in der Früh hat man Jacques Stern und viele Jungs zum Zug gebracht und mit dem ersten Kindertransport aus Drancy nach Auschwitz gebracht. Später kam auch der Zeuge nach Auschwitz. Das erste, was er getan hat, war, zu gucken, wo Jacques Stern ist. Doch der war wie die ganzen anderen Kinder nicht mehr am Leben.
Da habe ich ein Dokument von Eichmann eingereicht, das er an seinen Adjutanten in Drancy geschickt hat. Wo er einen Tag vor dieser Deportation geschrieben hat: »Hocherfreut kann ich Ihnen mitteilen, dass die Kindertransporte von Drancy nach Auschwitz ab jetzt beginnen.« In Kombination mit der Schilderung des Zeugen wirkte das. Besonders wenn es in Schilderungen um Kinder ging, waren die Verteidiger oft auch sehr mitgenommen.
Dann gab es den wohl einzigen Zeugen, den wohl einzigen Menschen der Welt, der schon in einer Gaskammer war, die schon abgeschlossen war, und der dies berichten konnte. Wie kam das? Er beschrieb, wie man immer 200 Kinder zusammengenommen hat für diese Gaskammern. Er beschrieb, wie er da zusammen mit den 200 reingestoßen wurde, wie abgeschlossen wurde, wie es dunkel war. Die Kinder haben dann angefangen zu singen, um sich Mut zu machen. Als dann nichts geschah, da fingen die Kinder an zu weinen. Dann öffnete sich die Tür. Weswegen? Es hatten ja auch andere geweint. Aber es war ein Zug mit Kartoffeln in Auschwitz angekommen. Es gab nicht genug SS-Leute zum Entladen. Da hatte der SS-Kommandant die Idee, warum soll man nicht einen Teil der Kinder aus der Gaskammer benutzen, um den Zug zu entladen, bevor man sie umbringt? Da hat man die ersten 20, 30 rausgenommen. Und unser Zeuge war einer von denen. Dann hat man abgeschlossen, die anderen 170 wurden gleich vergast. Er hat mit den anderen dann beim Abladen geholfen. Diese anderen wurden dann auch umgebracht. Aber man hat gesagt, er habe beim Entladen an einem der Lastwagen einen Schaden angerichtet. Da hat der Kommandant gesagt: Der soll erst mal gepeitscht werden, bevor er getötet wird mit der nächsten Gruppe. Der SS-Mann, der das Peitschen ausführen sollte, hatte Mitleid mit ihm und hat ihn bei sich gelassen. Es gab viele grausame Momente, aber dies war selbst für den Eichmann-Prozess etwas Besonderes. Es gibt vieles, was man schwer vergessen kann. Aber hier sagten die Richter, wir machen eine Viertelstunde Pause. Während des Prozesses gab es viele Tage, die nicht einfach waren. Und es ging zwei Jahre. Ich habe neun Monate mit der Vorbereitung zugebracht, drei Monate dauerten die Vernehmungen der Zeugen, dann dauerte es, bis das Urteil kam, dann war ich in der Berufung, da war ich auch dabei.
Hat Sie die gute Zusammenarbeit der deutschen Behörden bei der Prozessvorbereitung nicht irritiert, wo doch die Deutschen sehr zögerlich waren bei der Bestrafung der NS-Verbrecher?
Das war eine positive Überraschung. Keiner hat Einspruch erhoben. Keiner, mit dem ich gesprochen habe. Kein anderes Land hat die Auslieferung von Eichmann verlangt. Man hat gemerkt, dass die Leute damit einverstanden waren. Ich hatte aber auch nicht genug Zeit, mit allen darüber zu sprechen. Der Eichmann-Prozess hatte auch Auswirkungen, haben mir deutsche Staatsanwälte erzählt. Es gab immer Staatsanwälte, die wollten Prozesse führen. Es gab immer auch Lehrer, die wollten das in die Schulen bringen. Aber man hat sie nicht darin bestärkt, es gab keine Mittel dafür. Weder für die Staatsanwälte noch für die Lehrer in Deutschland. Die Eltern, die Nazis waren, die wollten bestimmt nicht, dass das ihre Kinder in den Schulen lernen. Aber selbst die Eltern, die keine Nazis waren, wollten nicht, dass ihre Kinder nach Hause kommen und fragen: Wo wart ihr, warum habt ihr nicht dagegen demonstriert, nichts dagegen gemacht? Die wollten auch lieber, dass die Kinder davon nichts erfuhren. Aber dann kam der Eichmann-Prozess, und dann kam das eine Stunde lang jeden Abend in jedes Haus. Da konnte man denjenigen nicht mehr widerstehen, die das in den Nachrichten bringen mussten. In den Staatsanwaltschaften kam dann eine Kettenreaktion von Prozessen, hauptsächlich, was die Todeslager betrifft. Da kamen die großen Prozesse: Auschwitz, Treblinka, Sobibor – das kam alles nach dem Eichmann-Prozess.
Das hatte eine große Bedeutung. Mit deutscher Gründlichkeit hat man dann diese Untersuchungen, diese Prozesse geführt, Urteile gefällt. Es gibt ja jetzt in vielen Ländern Leute, die bestreiten, dass so etwas stattgefunden hat, der Holocaust sei zionistische Propaganda, das sei alles übertrieben. Die Tatsache, dass wir jetzt deutsche Dokumente haben, von allen Lagern, das ist auch ein Resultat des Eichmann-Prozesses. Das alles hätte man auch früher machen können, sicher. Aber die Tatsache, dass es nachher gemacht wurde, ist etwas Positives. Als Resultat des Eichmann-Prozesses.
Interessant ist auch unsere Jugend in Israel. Die wollten davon nichts hören, erzählten mir Lehrer. Die hatten irgendein Schamgefühl. Ein junger Israeli kann verstehen, dass man in einem Kampf verletzt werden kann, dass man getötet werden kann, dass man eine Schlappe erleiden kann – das kann er verstehen. Aber er kann nicht verstehen, dass sich da Hunderttausende, Millionen von Menschen haben abschlachten lassen, ohne Widerstand zu leisten. Deswegen wollten sie darüber keine Einzelheiten hören. Es war nicht der Hauptzweck des Prozesses, aber wir haben uns bemüht, auch hier richtig wiederzugeben, was war. Wir haben im Prozess gezeigt, wie Eichmann und die anderen Nazis die ganzen Leute, die man umgebracht hat, wie man die in die Irre geführt hat bis zum letzten Moment. Egal ob es Juden waren oder Zigeuner oder russische Kommissare. Wie man die geschwächt und bedroht hat, auch ihre ganzen Familien.
Als Eichmann nach Ungarn geschickt wurde, da hat Himmler ihn gebeten, er soll eine Massenflucht verhindern. Eichmann hat uns im Prozess erzählt, dass das erste, was er gemacht habe, als die Juden aus Ungarn nach Auschwitz kamen, das Folgende gewesen sei: Er hat sie gezwungen, Postkarten zu schreiben, bevor sie in die Gaskammern kamen. An ihre Familien und an ihre Freunde. Es wurde von Eichmann diktiert, was dort stehen sollte. Sie mussten schreiben: »Wir sind hier in einem wunderschönen Ort, der heißt Waldsee, wir machen herr­liche Ausflüge. Leichte Arbeit nur, aber es gibt nicht viel Platz. Also kommt so rasch wie möglich, damit ihr die Villen und Häuser bekommen könnt, die hier noch offen stehen.« Eichmann erklärte uns noch, er habe hinzugefügt: »Bringt gute Schuhe mit für die Ausflüge.« Damit die deutsche Armee dann die Schuhe der Leute bekommen kann, die in den Gaskammern getötet wurden.
Ich komme von einer Assoziation zur anderen. Das war sehr schwer zu ertragen, diese Postkarten zu lesen.
Ich war für Ungarn ja gar nicht zuständig in der Voruntersuchung, aber zu Ungarn gab es mehr Zeugen als gewöhnlich, weil Eichmann ja persönlich dort war. Nachdem ich vier Tage mit den ungarischen Zeugen zugebracht hatte, hörte ich, es gibt in Israel einen Mann, der so eine Postkarte von seiner Familie bekommen hat. Ich habe ihn ausfindig gemacht und ihm gesagt, er solle sofort nach Jerusalem kommen. Er kam um elf Uhr nachts. Ich erwähne das, denn normalerweise habe ich die Zeugen vor der Befragung im Prozess sehr sorgfältig verhört, aber ich hatte nie mehr als drei Stunden Schlaf während der ganzen Dauer des Prozesses. Und als der Mann kam, fragte ich ihn nur, »hast du die Postkarte?«, und ich bat ihn dann, sie aus dem Ungarischen ins Hebräische zu übersetzen. Das hat er gemacht. Ich sagte ihm: »Wenn ich dich morgen früh aufrufe als Zeuge, dann erzähl uns, was mit deiner Familie passiert ist.«
Am nächsten Morgen kam er als Zeuge, beschrieb die Postkarte, wie er sie bekam, dass er dann dorthin fuhr mit seiner Frau, seinem kleinen Töchterchen, zweieinhalb Jahre alt, und seinem Sohn, dreizehn, vierzehn Jahre alt. Er beschrieb, wie sie in Auschwitz ankamen, in Birkenau, er wusste gar nicht, was dort ist. Er dachte, es würde ›Waldsee‹ sein. Und dann beschrieb er die Selektion. Wie sie da waren, bei dem Bahnhof. Die Frau – nach links, und das Töchterchen – nach links. Dann hat man ihn gefragt: »Was war Ihr Beruf?« Er sagte: »Ich war Ingenieur in der Armee.« Nach rechts! Man wollte ihn noch ausnützen. Dann der Sohn: Wie alt ist der exakt? Dreizehn Jahre, vierzehn Jahre? Und dann hat der SS-Mann gesagt: »Das muss ich erst mit meinem Vorgesetzten beraten, was mit dem Sohn passiert.« Das hat eine, zwei Minuten gedauert, dann hat der gesagt: »Renn zu deiner Mutti.« Der Zeuge schilderte, er habe geguckt: »Ich dachte, ich würde meine Frau, meinen Sohn finden. Aber da waren inzwischen schon Hunderte von anderen Leuten durchgegangen. Ich dachte nun, ich würde meine Frau, meinen Sohn nicht finden. Meine Frau war in der Menge verschwunden, die sah ich nicht mehr. Mein Sohn, der war auch in der Menge verschwunden, den sah ich nicht mehr. Aber mein Töchterchen, das hatte einen roten Mantel. Und so wie dieser rote Punkt, der nun immer kleiner wurde, so verschwand meine Familie aus meinem Leben.«
Nun hatte ich selbst eine kleine Tochter, die genau zweieinhalb Jahre alt war, und der hatte ich eine Woche zuvor einen roten Mantel gekauft. Und als der Zeuge das jetzt sagte … einen Tag vorher hatte meine Frau eine Fotografie gemacht, von dem Töchterchen mit dem roten Mantel. Als der Zeuge dies sagte, versagte mir mit einem Mal völlig die Stimme. Ich konnte keinen Ton herausbekommen. Der Zeuge hatte sich erholt und wartete auf die nächste Frage. Die Richter hatten mir ein Zeichen gegeben, dass ich weitermachen solle. Das Fernsehen war auch da. Ich habe dann versucht, mit meinen Dokumenten zu spielen, das hat so vier, fünf Minuten gedauert, bis ich wieder etwas sagen konnte. Ich kann dir sagen, seitdem ist es so: Ich kann auf der Straße gehen, ich kann in einem Restaurant sein, und ich merke plötzlich, ich kriege Herzklopfen, und ich drehe mich um und sehe ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen mit einem roten Mantel. Vielleicht eine banale kleine Geschichte, aber für mich symbolisiert dieser rote Mantel diese ganze Geschichte mehr als irgendetwas anderes. Ich weiß nicht, ob Sie diesen Film gesehen haben, »Schindlers Liste«?
Der Regisseur, der weiß ja nicht von der Geschichte, der hat nur das Protokoll gesehen, in dem steht, was dieser Zeuge ausgesagt hatte. Das hat ihn so beeindruckt, dass er das in den Film hineingebracht hat. Aber natürlich gab es jeden Tag so etwas, solcherart Erfahrungen.
Wissen Sie, an diesem Tag, wo ich den Zeugen hatte, der beschrieb, wie die Kinder in der Gaskammer waren und erst gesungen haben, der Zeuge, der bereits in der Gaskammer war, an diesem Tag kam ich nach Hause und meine Frau sagte mir: »Es ist eine Katastrophe passiert. Das Dienstmädchen ist heute nicht gekommen.« Sie hatte völlig Recht, das Leben geht weiter, aber ich habe sie anscheinend ziemlich fassungslos angesehen, nachdem ich das gerade hinter mir hatte. Wir waren da gerade in eine neue Wohnung eingezogen. Sie hat mir hinterher gesagt, sie hatte einen wunderschönen persischen Teppich bekommen, und wollte mich damit überraschen. Und dann lag der Teppich da und ich bin nach Hause gekommen und habe nichts gesehen, nichts bemerkt. Wir waren auf einem anderen Planeten während des Prozesses.
Herr Bach, vielen herzlichen Dank für das Interview.