Streiks und Massenproteste gegen die geplante Rentenreform in Frankreich

Gemeinsam gegen Macrons Reform

Die Rentenpläne der französischen Regierung lösen Streiks und Massenproteste aus. Die unpopuläre Reform soll auf dem Verordnungsweg in Kraft treten.

»Enrichissez-vous!« Bereichert euch! Dieser Ausspruch wird François Guizot zugeschrieben, der ab 1830 mehrere Ministerämter innehatte und bis kurz vor der Revolution von 1848 Premierminister war. Er gilt als besonders konsequenter Interessenverwalter der Bourgeoisie, in seiner Amtszeit verteidigte er unter anderem das damalige Zensuswahlrecht. Als einer der Ersten sprach er vom »Klassenkampf«, den er allerdings von oben führen wollte.

»Enrichissez«, reichert an, lautet derzeit das Stichwort von Staatspräsident Emmanuel Macron. Auch er kann als Garant der Interessen der obersten Einkommensklassen und der Kapital­eigentümer gelten. Rentnerinnen und Rentner will er nicht bereichern; »anreichern« sollen oder können, seinen Worten am Sonntag zufolge, nun Abgeordnete den heftig umstrittenen Gesetzentwurf zur Rentenreform, unter Berücksichtigung von Vorschlägen aus der Gesellschaft, sofern diese nicht die Grundzüge der geplanten Reform in Frage stellen, die im Wesentlichen das Mindestalter für den Renteneintritt von 62 auf 64 Jahre erhöhen soll. Macron hatte sich so bei der Pressekonferenz zum deutsch-französischen Ministerrat geäußert, der im vorigen Herbst verschoben und nun nachgeholt wurde.

Zum Streik- und Aktionstag hatten alle französischen Gewerkschaften aufgerufen, wobei sich die konkurrierenden Verbände in seltener Einmütigkeit für den Protest aussprachen.

Der Entwurf zur Reform wurde, nachdem die Inhalte am 10. Januar von Premierministerin Élisabeth Borne der Öffentlichkeit präsentiert worden waren, am Montag vom Kabinett beschlossen. Am 31. Januar soll die Parlamentsdebatte in den Ausschusssitzungen beginnen. Da die Regierung keine Mehrheit im Parlament hat, entschied sie sich dazu, die Reform über ein Haushaltsgesetz zu verabschieden – der Text wird die Gestalt eines Nachtragsbudgets für das Ende 2022 beschlossene jährliche Gesetz zum Gesamthaushalt der Sozialkassen annehmen, über den die Regierung seit Reformen von 1967 und 1995 mitbestimmt. Somit greift die Regel des für Haushaltsgesetze geltenden Verfassungsartikels 47-1: Hat das Parlament nach 50 Tagen keinen Beschluss gefasst, kann die Regierung den Entwurf als Verordnung in Kraft setzen.

Kern der geplanten Reform ist eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestalters für den Renteneintritt, das vor der Reform von 2010 noch 60 Jahre betrug und seither bei 62 Jahren liegt, auf 63 (ab 2026) und dann 64 Jahre (ab Anfang 2030). Die künftige gesetzliche Untergrenze bestimmt jedoch lediglich das Alter, ab dem eine Person gesetzlich einen Rentenanspruch geltend machen kann. Sofern Beitragsjahre fehlen, müssen noch Abschläge in Höhe von fünf Prozent pro fehlendem Jahr hingenommen werden, wie sie auch in Deutschland ab 63 Jahren möglich ist. Die Zahl der nötigen Beitragsjahre für eine volle Rente wurde schrittweise erhöht, für jene, die dieses Jahr in Rente gehen, beträgt sie 42 (in Deutschland sind es 45 Jahre). Eine Rente ohne Abschläge gibt es in Frankreich schon jetzt erst ab 67 Jahren, wie es in Deutschland ab 2031 gelten soll.

Gegen die Regierungspläne demonstrierten am Donnerstag voriger Woche 1,16 Millionen Menschen, so die Zahlen des Innenministeriums, nach Angaben der Gewerkschaften sogar zwei Millionen in insgesamt rund 230 französischen Städten. Zu dem Streik- und Aktionstag hatten alle französischen Gewerkschaften aufgerufen, wobei sich die konkurrierenden Verbände in seltener Einmütigkeit für den Protest aussprachen. Viele Schulen blieben geschlossen, zahlreiche Zugverbindungen im Nah- und Fernverkehr sowie Flüge fielen aus.

Am Samstag gingen erneut einige Zehntausend Menschen bei einer landesweiten Demonstration in Paris auf die Straße, dieses Mal hatten politische Parteien aufgerufen, insbesondere die linkspopulistische Wahlplattform La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI) und mehrere Jugendverbände. Das für mehrere führende Medien arbeitende Forschungsinstitut Occurrence, dessen Schätzungen oft niedrig ausfallen, gibt die Zahl der Demonstrierenden scheinbar exakt mit 14 045 an. Die Veranstalter sprachen von 140 000 Teilnehmenden, nach eigenen Beobachtungen dürften es 40 000 bis 50 000 gewesen sein.

Seit 2017 findet immer wieder eine Art Wettbewerb darum statt, wer, ob Gewerkschaftsvorstände oder linke Parteien – insbesondere LFI –, die Nase vorn hat, wenn es darum geht, den Sozialprotest zu repräsentieren. Deshalb gab es getrennte Aufrufe und Aufmärsche, wie bereits im vorigen Herbst mit Protesttagen auf Aufruf der Gewerkschaften hin, am 29. September und 18. Oktober, sowie auf Initiative von LFI wie am 16. Oktober.

Zumindest scheint derzeit klar, dass die Gewerkschaften eine deutlich größere Mobilisierungsfähigkeit haben als die parlamentarische Opposition. Die CGT (Allgemeiner Arbeiterverband) als älteste gewerkschaftliche Dach­organisation in Frankreich zeigte sich dabei strategisch insofern ausgesprochen offen, als sie am Donnerstag voriger Woche nicht vorne, sondern im hinteren Teil der Demonstration lief. Ihr noch bis zum 53 Kongress Ende März amtierender Generalsekretär, Philippe Martinez, sagte im Interview den Privatfernsehsendern RMC und BFM TV, er rufe nicht nur gewerkschaftlich Organisierte zum Protest: »Wenn wir nur unter Gewerkschaftern bleiben, dann werden wir nicht zahlreich genug sein.« Mit etwa acht Prozent der Beschäftigten ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Frankreich gering, doch beteiligen sich oft auch Nichtmitglieder an Aktionen.

Das Vorhaben, die Gelbwesten-Be­wegung von 2018/2019 zu reaktivieren, hatte keinen Erfolg. Am 7. Januar, dem Samstag vor der Bekanntmachung der Reforminhalte durch die Regierung, kamen nach einem entsprechenden Aufruf an mehreren Orten in ganz Frankreich nur 4 700 Personen zusammen, andere Zahlenangaben als die der Behörden liegen nicht vor. Auf Seiten der französischen Gewerkschaften, die derzeit eine bedeutendere Rolle spielen als zuletzt, hängt die ungewohnte Einheit der fünf Dachverbände (neben der CGT sind das CFDT, CFTC, CFE-CGC und FO) sowie dreier weiterer, neuerer Zusammenschlüsse vor allem damit zusammen, dass die CFDT (Französischer demokratischer Arbeiterverband) dieses Mal nicht ausschert. Dieser 1964 als nichtreligiöse Abspaltung von der christlichen Gewerkschaftsbewegung entstandene, tendenziell sozialdemokratische Verband ist insbesondere auf Vorstandsebene stark auf Sozialpartnerschaft und die Bekämpfung von Klassenkampfideen, wie manche andere Gewerkschaften sie explizit vertreten, ausgerichtet, was ihn zumeist in Gegensatz zur CGT brachte. Derzeit ist die CGT der wohl mitglieder-, die CFDT jedoch seit 2018 bei Personalvertretungs­wahlen landesweit der stimmenstärkste Verband.

Die Führung der CFDT unterstützte unter den damaligen, jeweils konservativ geführten Regierungen der Premierminister Alain Juppé und Jean-Pierre Raffarin deren Rentenreformen in den Jahren 1995 und 2003 nach einigen geringfügigen Zugeständnissen.

Dieses Mal verhält es sich anders, denn der Vorstand der CFDT handelte sich beim Kongress des Verbands im Juni 2022 eine Niederlage beim Renten­thema ein. 67 Prozent der Delegierten stimmten gegen seinen Leitantrag, der die Haltung zur damals bereits in groben Zügen angekündigten neuerlichen Rentenreform weitgehend offenlassen wollte, und für eine Resolution, die klar gegen dieses Vorhaben Stellung bezieht. Seitdem zwangen gewissermaßen die Basis und wohl auch der Mittelbau der Gewerkschaftsfunktionäre die Führung der CFDT auf diesen Kurs.

Wenn Macron nun vom »Anreichern« der Reform spricht, dann geht es nicht darum, deren Grundzüge in Frage zu stellen, sondern eventuell Ausnahme­regelungen beispielsweise bei mit körperlicher Schwerarbeit verbundenen Berufen einzubauen. Solche sind bereits vorgesehen, laufen allerdings lediglich darauf hinaus, entweder bereits körperlich Geschädigte mit arbeitsmedizinischem Attest früher in Rente gehen zu lassen – dann ist es für ihre Gesundheit jedoch bereits zu spät – oder den Betreffenden Umschulungen für andere Berufsfelder zu finanzieren.

Umfragen zufolge lehnen etwa zwei Drittel der Bevölkerung die Rentenreform ab. Für Dienstag kommender Woche ist ein weiterer gewerkschaftlicher Aktionstag mit Protesten, Streiks und Demonstrationen angesetzt. Danach dürfte von großer Bedeutung sein, ob und in welchen Sektoren es über einen Tag hinausreichende Arbeitsnieder­legungen gibt.